"Abhängig von gesicherter Rohstoffzufuhr in globalem Maßstab"

Die Bundesregierung verabschiedet ein Weißbuch der Bundeswehr

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Vertreter aller Oppositionsparteien hatten gefordert, Parlament und Öffentlichkeit an der Diskussion um die Außen- und Sicherheitspolitik stärker zu beteiligen. Nun hat die Bundesregierung per Kabinettsbeschluss vom 25. Oktober das neue Weißbuch der Bundeswehr von oben herab verkündet. Gleichzeitig erklären in diesen Tagen Basischristen und Theologen die Unvereinbarkeit von „Militärdoktrinen zugunsten nationaler Wirtschaftsinteressen“ mit der christlichen Friedensethik. Ob dies direkt auf das aktuelle Regierungsdokument bezogen werden muss, ist nicht zuletzt eine Frage der Textexegese.

Im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion um das Weißbuch steht bislang allerdings die Frage um die Militarisierung bzw. den Bundeswehreinsatz im Inneren. Das Dokument konstatiert angesichts des Terrorismus zunehmende „Überschneidungen zwischen innerer und äußerer Sicherheit“. Die große Koalition sieht hier, ohne konkret zu werden, „die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens für den Einsatz der Streitkräfte“. Andere Kritikpunkte werden in den Medien vergleichsweise selten angesprochen.

Die „Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW) hat z.B. in einer öffentlichen Kampagne darauf aufmerksam gemacht, dass die – von der „Linken“, Grünen und FDP abgelehnte – nukleare Teilhabe Deutschlands über US-Atomsprengköpfe im Land mit dem Weißbuch regierungsamtlich fortgeschrieben wird. Atomare Abrüstung und die Einhaltung internationaler Rechtsnormen will man offenbar nur von bestimmten ferner gelegenen Ländern verlangen, ohne selbst damit anzufangen. Vielsagend beobachten die Weißbuch-Autoren „Aufrüstungstendenzen und die übermäßige Akkumulation von Rüstungsgütern“ in „vielen Teilen der Welt“. Sie verschweigen jedoch, dass allein die Mitglieder der NATO etwa 70 Prozent des weitweiten Militärapparates bestreiten.

Seine erste Weißbuch-Stellungnahme vom Juni dieses Jahres hatte der Bundestagsabgeordnete Winni Nachtwei (Grüne) mit der Überschrift „Mehr Washington und Hindelang, weniger UN und Prävention“ gestellt. Nach US-Doktrin stehen Wirtschaftsinteressen im Zentrum der „Nationalen Sicherheit“. Sicherheitsstrategie und „Defence Paper“ der EU mögen verbal moderater gehalten sein, doch der Sache nach folgen sie dieser Leitlinie. Im NATO-Sprachgebrauch ist von „Werten und Interessen“ die Rede, im neuen Weißbuch ebenfalls.

Seit der ersten Vorlage eines Entwurfs rücken die „nationalen Interessen“ auch in Deutschland mit noch stärkerem Nachdruck als zuvor ins Zentrum der sicherheitspolitischen Diskussion (Deutsche Kriege für das "nationale Interesse"?). Das ganze Konglomerat der entsprechenden programmatischen Dokumente, das auch die Beiträge von Parteistiftungen, Denkfabriken und Regierungspolitikern umfasst, zielt auf eine Militärdoktrin zugunsten folgender ökonomischer Zielsetzungen: Bewahrung des nationalen Wohlstands, „freie Weltmärkte“, freie Handelswege – insbesondere auch sichere Seewege, Zugang zu Rohstoffen, Sicherung der eigenen Energieversorgung und Abwehr der „Gefahren“ durch Migration aus armen Ländern.

Interessen, eingepackt in eine blumige Rhetorik

Der neue Weißbuch-Text benennt wirtschaftliche Interessen freilich nicht direkt als Beweggründe oder Ziele für militärisches Handeln, wofür ja auch im Grundgesetz keinerlei Rechtsgrundlage gegeben wäre. Auf Umwegen fließt das Anliegen in die Definitionen von „Sicherheit“ ein. Die „Sicherheitspolitik Deutschlands“ soll „die Interessen unseres Landes“ wahren. Insbesondere gehört es auch zu den Zielen, „den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands zu fördern“. Dabei jedoch sollen die „Werte des Grundgesetzes“ leitend sein. Man will auch helfen, „die Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen“ zu überwinden. Folgende Gesichtspunkte ergänzen im Weißbuch das Bild:

  1. Erforderlich ist es, „Risiken und Bedrohungen für unsere Sicherheit vorzubeugen und ihnen rechtzeitig zu begegnen, wo sie entstehen.“ [Wie in EU-Dokumenten kann die so genannte „Verteidigungslinie“ also oftmals im Ausland liegen.]
  2. „Deutsche Sicherheitspolitik muss auch Entwicklungen in geografisch weit entfernten Regionen berücksichtigen, soweit sie unsere Interessen berühren. (...) Interessen können im Zeitalter der Globalisierung nicht allein geografisch definiert werden“.
  3. „Deutschland hat aufgrund seiner immer engeren Verflechtung in der Weltwirtschaft besonderes Interesse an ... ungehindertem Warenaustausch“ und ist „in hohem Maße von einer gesicherten Rohstoffzufuhr und sicheren Transportwegen in globalem Maßstab abhängig“. „Störungen der Rohstoff- und Warenströme“ bleiben „nicht ohne Auswirkungen auf die nationale Volkswirtschaft, Wohlstand und sozialen Frieden“. [Hierbei wird ohne weitere Belege eine „zunehmende Piraterie“ als Gefahr konstatiert, womit die Minister Jung besonders am Herz liegende Marine ins Spiel kommt.]
  4. „Deutschland, dessen wirtschaftlicher Wohlstand vom Zugang zu Rohstoffen, Waren und Ideen abhängt, hat ein elementares Interesse an einem friedlichen Wettbewerb der Gedanken, an einem offenen Welthandelssystem und freien Transportwegen“. [Der „Zugang zu Rohstoffen“ taucht hier im zweiten Satzteil bezeichnenderweise nur indirekt auf.]
  5. „Von strategischer Bedeutung für die Zukunft Deutschlands“ ist eine „sichere Energieversorgung. (...) Energiefragen werden künftig für die globale Sicherheit eine immer wichtigere Rolle spielen.“
  6. In Teilen Afrikas und Asiens gibt es – „verstärkt durch Ineffizienz und Korruption“ – „politische Spannungen. (...) Neben der moralischen Verpflichtung zur Hilfe steht dabei die Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes.“ [Die Verantwortung der reichen Erdregionen für weltweites Elend und das westliche Diktat der globalen Spielregeln bleiben ausgeblendet.]
  7. „Europa und Deutschland besitzen nach wie vor eine hohe Anziehungskraft für Menschen, die ihre Heimat aufgrund von ... Notlagen verlassen haben, um ein besseres Leben zu suchen. Die innenpolitischen Folgen unkontrollierter Migration ... sind ein wachsendes Problem der europäischen Gesellschaften“.
  8. Zum sicherheitspolitischen Instrumentarium gehören „auch bewaffnete Einsätze“. Die Bundesregierung will auch künftig prüfen, „welche Werte und Interessen Deutschlands den Einsatz erfordern.“

Die moderate Kritik aus der SPD an einer Militarisierung der Rohstoff- und Energiefrage hat sich überall hier vor allem in einer veränderten, mitunter sehr blumigen Rhetorik niedergeschlagen. Der Sache nach sind alle bisherigen Denkansätze immer noch enthalten. Allerdings gibt es gute Argumente, ökonomisch ausgerichtete Militärdoktrinen nicht nur anhand von kategorialen Zielformulierungen zu bewerten. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung war am 13.8.06 zu lesen:

Die Politiker müssen der deutschen Öffentlichkeit beibringen, dass geschichtliche, humanitäre und vordergründige materielle Erwägungen nicht der Grund dafür sind, dass deutsche Soldaten zu Konfliktherden geschickt werden. lm Kern geht es um etwas Grundlegenderes: Deutschland leistet seinen Beitrag zur Aufrechterhaltung der herrschenden Weltordnung, von der es profitiert wie wenig andere Länder.

Minister Franz Josef Jung hat wiederholt seinen persönlichen Wunsch kundgetan, auch bezogen auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr Änderungen an der Verfassung vorzunehmen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass beim Thema „Grundgesetz“ nur dessen „Werte“ und „gültige Orientierungspunkte“ thematisiert werden. Auch beim Bekenntnis zur „Beachtung und Stärkung des Völkerrechts“ wird das Verbot von Angriffskriegen durch die UN-Charta nicht ausdrücklich als Grenze für jede Art von „vorsorglicher Sicherheitspolitik“ beim Namen genannt. Unter der Überschrift einer „dynamischen Weiterentwicklung des Völkerrechts“ will man auch in Europa offen lassen, wohin sich die neue Weltordnung im Zeitalter der „Ressourcenknappheit“ bzw. vitaler Energiesorgen bewegt.

„Militärdoktrinen für ökonomische Interessen als Gotteslästerung“?

Gegen solche Vorstellungen wollen kritische Christen konfessionsübergreifend Stellung beziehen. Bei einem bundesweiten Vernetzungstreffen ökumenischer Gruppen am Wochenende in Mannheim werden sie dazu eine – bislang noch unveröffentlichte – Erklärung vorlegen. Ihre Überzeugung: Ökonomische Gesichtspunkte rechtfertigen „weder nach dem Völkerrecht noch nach der Friedensethik der christlichen Ökumene den Einsatz von tödlichen Waffen oder die Gefährdung des Lebens von Zivilisten und Soldaten.“ Bislang wurde in den Kirchen unter Pazifisten und Befürwortern einer „bewaffneten Verteidigung“ immer über unterschiedliche „Wege der Friedenssicherung“ gestritten. Hier jedoch ist ein unüberbrückbarer Dissens bei den Zielen angesprochen. Zum Schluss der besagten Erklärung wird eine denkbar scharfe Trennungslinie gezogen:

„Als Getaufte erklären wir in aller Deutlichkeit: Wer für Soldaten betet und gleichzeitig Militärdoktrinen zugunsten von Wirtschaftsinteressen befürwortet, lästert Gott. Wer nationale Wirtschaftsinteressen zur Rechtfertigung von militärischem Handeln heranzieht, verlässt die Treue zum Evangelium und trennt sich selbst von der Gemeinschaft der Glaubenden. Wir bitten [...] inständig, das gemeinsame Band nicht zu zerreißen, am Bekenntnis zum Gott des Friedens festzuhalten und gegen jegliche politische Rechtfertigung von Kriegen aus wirtschaftlichem Interesse Widerstand zu leisten.“

Die Erklärung, die ab November weite Kreise ziehen soll, ist bewusst so gehalten, dass z.B. auch Soldaten und ihre Angehörigen sie unterschreiben können. Zu den bisherigen Erstunterzeichnenden gehören Mitglieder ganz unterschiedlicher Kirchen, katholische und evangelische Friedensbewegte, „Christen für eine Gerechte Weltwirtschaft“, „Ordensleute für den Frieden“, Mitarbeiterinnen des „Instituts für Theologie und Politik, Münster“ und des „Lebenshaus Schwäbische Alb e.V.“, Theologen und Wissenschaftler, darunter die Professoren Franz Segbers, Roland Geitmann, Ulrich Duchrow, Hubertus Halbfas und Winfried Blasweiler.

Indirekt wird durch die Absage an ökonomisch ausgerichtete Militärplanungen die Frage aufgeworfen, ob die Amtskirchen die gegenwärtige Entwicklung wirklich noch sachgerecht nachvollziehen. Bei einem Gottesdienst zum 50-jährigen Bestehen der Katholischen Militärseelsorge in Nordrhein-Westfalen am 10. Oktober bewertete z.B. Kardinal Lehmann die vermehrten Auslandseinsätze der Bundeswehr so: „Damit knüpft die Bundeswehr an den ursprünglichen Sinn der Friedensstiftung an.“ (Kölner Stadtanzeiger, 11.10.2006) Der für die Bundeswehr zuständige Minister Dr. Franz Josef Jung (CDU) hatte am 21.8.2006 in Potsdam hingegen erklärt, der moderne Soldat sei „trotz aller Ausweitung seiner Rolle als Helfer, Vermittler und Retter im Kern immer noch Kämpfer“. (FAZ 22.8.2006) Dabei sprach er ausdrücklich von einer Traditionswürdigkeit preußischer Vorbilder.