Kein Plan für Afghanistan

Die NATO sieht sich mit einem neuen "Image-Schaden" konfrontiert

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Während die deutsche Öffentlichkeit mit weiteren schändlichen "Bundeswehr-Schockfotos" (vgl. BILD sei Dank) aus Afghanistan beschäftigt ist und das bisherige Schweigen islamistischer Wortführer zu diesem Thema als "unheimlich" bewertet wird, sieht sich die NATO mit einem anderen Image-Schaden konfrontiert: Ein Bombenangriff im Süden des Landes soll möglicherweise mindestens 60 Zivilisten das Leben gekostet haben.

Stimmen die Zahlenangaben, die von anderen Quellen noch höher angesetzt werden, dann könnten die Luftangriffe vom vergangenen Dienstag im "Pajwai-Distrikt" der Provinz Kandahar den höchsten Blutzoll unter Zivilisten gekostet haben seit Beginn der militärischen Operationen in Afghanistan unter Leitung der USA im Jahre 2001.

Wie üblich sind Zahlenangaben und Faktenlage unklar und kontrovers. Das große Problem kennt man auch aus dem Krieg gegen die Guerillas im Irak: die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Aufständischen. Nach Angaben von Major Luke Knitig, einem ISAF-Sprecher, wurden bislang 60 Tote entdeckt, aber es sei sehr unklar, ob sie Zivilisten oder Aufständische ("insurgents") waren. Ein Mitglied des Provinzrates von Kandahar, Bismallah Afghanmal, sprach gegenüber der AP von 80 bis 85 Toten. Dorfbewohner sprechen von 60 Toten.

Sometimes the Taleban are among local people, sometimes there aren't civilians - the Taleban claim there are civilians and there aren't.

Mark Laity, NATO-Sprecher

Das afghanische Innenministerium geht nach Informationen der Times von 40 toten Zivilisten und 20 toten Taliban-Kämpfern aus. Die NATO schätzt der Zeitung zufolge die Opfer von drei Angriffen, die von Dienstagmorgen bis in die frühen Morgenstunden am Mittwoch durchgeführt wurden, auf 48 tote Militante. Gestern soll die Schätzung auf 70 tote Taliban erhöht worden sein - mit dem Zusatz, dass es möglicherweise auch zivile Tote gegeben hätte. Nach einem BBC-Bericht von gestern Abend leugnet ein Statement der Taliban erwartungsgemäß Tote auf ihren Seiten und spricht dafür ausschließlich von getöteten Zivilisten.

Mit ihren schwarzen Turbanen sollen die Talibankämpfer wie Geister in der ortsansässigen Bevölkerung untertauchen, so das Bild der afghanischen Korrespondentin des amerikanischen Time-Magazins, den NATO-Soldaten würde entsprechend nichts anderes übrig bleiben, "als in dünne Luft zu schießen oder die falschen Ziele zu erwischen". Nach ihrer Darstellung ist die Kontrolle des Panjwai-Distrikts, 20 Kilometer von der Provinzhauptstadt und ehemaligen Taliban-Hochburg Kandahar entfernt, von vitaler strategischer Bedeutung. Seit dem Sommer würden dort die heftigsten Gefechte zwischen NATO-Truppen und Taliban-Kämpfern ausgetragen. Zunächst sah es nach Informationen von Rachel Morarjee ganz nach einem Erfolg der NATO aus, bis die Taliban vor einigen Wochen zurückkehrten und mit größeren Angriffen auf NATO-Basen den Behauptungen widersprachen, dass sie das Feld geräumt hätten.

Auch vergangenen Dienstag, dem zweiten Tag der Eid-al Fitr-Feiern zum Ende des Ramadan, sollen Taliban-Guerillas eine Welle von Angriffen auf Truppen der NATO gestartet haben. Diese reagierten demnach mit Luftangriffen auf Häuser, in denen die Taliban Zuflucht genommen haben sollen. Nach Angaben von Augenzeugen sollen dabei 25 Häuser zerstört worden sein; die Bewohner, von den Taliban als menschliche Schilde missbraucht, hatten so gut wie keine Überlebenschance.

Einmal mehr steht damit die Vorgehensweise der westlichen Truppen in der Kritik: "Mehr als vier Monate schon kämpft die NATO im Panjwai-Distrikt und sie schaffen es nicht, 500 Taliban zu vertreiben, sie zu töten oder gefangen zu nehmen. Sie haben die falsche Strategie", wird ein Stammesälterer zitiert. Ein Vertreter der Human Watch Organisation sagte, dass es kontraproduktiv sei, auf schwere Luftangriffe zu setzen. Massive Feuerkraft habe schon den Sowjets nicht zum Erfolg verholfen; die Ressentiments der Bevölkerung gegen die fremden Truppen würden dadurch täglich stärker.

Einer der Gründe für verstärkten Einsatz von "Airpower" liegt neben dem geringeren Risiko für Leib und Leben der eigenen Soldaten darin, dass es den NATO-Streitkräften an kämpfenden Bodentruppen mangelt. Doch angesichts der explosiven Lage zögern nicht nur die Deutschen damit, größere Truppenverbände dem gefährlichen Einsatz im Süden des Landes auszusetzen: Auch die Türkei hat gestern ein entsprechendes Ansinnen des NATO-Generals James Jones zurückgewiesen. Und Polen dementierte gestern Berichte, wonach das Land zusätzliche 2000 Soldaten nach Afghanistan beordern will.

Nach einer aktuellen Einschätzung des Kommandeurs der US-Truppen in Afghanistan, General Eikenberry, könnte sich die Dauer der NATO-Präsenz im Land auf 10 Jahre ausdehnen:

Wir können dies nicht in einem Jahr gewinnen. Wir können dies nicht in zwei Jahren gewinnen.