Wikipedia ist schneller als die Geheimdienste

US-Geheimdienste entdecken im Zuge der eingeleiteten organisatorischen Veränderungen Blogs und Wikis als Mittel der selbstorganisierten und schnellen Informationsverarbeitung

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Letztes Jahr hatte die oberste Geheimdienstbehörde DNI bereits ein Open Source Center eröffnet, das der CIA angegliedert ist und alle Informationen sammeln soll, die in öffentlich zugänglichen Quellen, vor allem dem Internet, verfügbar sind.

Das DNI versucht im Zuge der Veränderung der Geheimdienste seit einiger Zeit, auch andere Modelle für sich nutzbar zu machen, die sich im Web als erfolgreiche Werkzeuge für das Suchen und für das gemeinsame Sammeln, Verarbeiten und Publizieren von Informationen erwiesen haben. Neben Suchmaschinen wie Alta Vista wurde so auch auf der Basis von Google eine Suchmaschine für die Geheimdienste namens Oogle entwickelt. Sie hat sich, so Eric Haseltine, Direktor der Abteilung für Wissenschaft und Technik im DNI, als wirksames Werkzeug erwiesen, weil sie leicht zu bedienen sei, aber zusätzliche Suchmöglichkeiten anbietet. So kann man zum Suchbegriff offenbar auch eingeben, ob es sich um eine Person, ein Ereignis, ein Datum usw. handelt.

Angepasst an die Bedürfnisse der Geheimdienste wurde auch die Software, die Wikipedia zugrunde liegt. Mit der Wiki-Software wurde vom DNI im Zuge der Transformation zu einem netzbasierten Ansatz (net-centric) die Entwicklung einer so genannten Intellipedia gestartet, wie Thomas Fingar, Direktor der Analyse-Abteilung im August mitteilte. Das sei ein Experiment, bei dem man noch nicht wisse, ob es funktioniere. Begonnen hatte zuerst die CIA, Wikis intern zu benutzen, dann aber auch versucht, die übrigen Geheimdienste einzubeziehen, um den Informationsfluss für die gesamte „intelligence community“ zu verbessern.

Calvin Andrus vom Center for Mission Innovation der CIA, weist darauf hin, dass soziale Netzwerke wie Wikipedia mittlerweile schneller als Geheimdienste Informationen sammeln und aufbereiten können. Die kollektive Informationsbearbeitung unterscheide sich auch sehr vom üblichen Vorgehen in der CIA. Dort habe man Informationen gesammelt, einen Bericht geschrieben, diesen sorgfältig überarbeitet und dann erst weiter gegeben. Das sei ein Paradigma, bei dem die Nachrichten von Gestern für Morgen aufbereitet werden, während beim Wiki-Modell die Informationen zuerst veröffentlicht und später überarbeitet werden.

Andrus hatte sich auch in einem Vortrag im März 2006 dafür stark gemacht, Wikis und Blogs als neue Werkzeuge der Geheimdienste zu benutzen, weil sich diese nach der „Komplexitätstheorie“ ebenso wie ihre neuen Gegner „schnell in Richtungen verändern müssen, die sich nicht vorhersagen lassen“. Wikis als „selbstorganisierte, verlinkte ‚Enzyklopädien’“ seien eine Methode, Blogs eine andere, um das „intellektuelle Kapital“ anders zu organisieren. „Blogs sind die gemeinsamen Echtzeit-Notizbücher des 21. Jahrhunderts.“ Weil sie für alle in einem System offen zugängliche Wissensspeicher sind, können sie sich in Echtzeit den Geschehnissen so schnell anpassen, „wie die Autoren Informationen eingeben können“. Daher können sie auch sehr viel schnell die Zugriffsberechtigten über Ereignisse informieren und auf einen Kenntnisstand setzen.

Aus dem Vortrag von Calvin Andrus, CIA

Wie Andrus berichtete, hatte die CIA bis März 2006 5.000 interne Blogs eingerichtet, von denen nach einem halben Jahr noch einige Dutzend aktiv benutzt würden. Beim internen Wiki seien in einem Jahr 10.000 Seiten erzeugt worden. Und man habe im Frühjahr 2006 Intellipedia gestartet, um Notizen festzuhalten, versuchsweise Ideen zu lancieren und zu diskutieren, Informationen zu verbreiten, Arbeitspapiere und abgeschlossene Texte zugänglich zu machen.

Richard Russell, stellvertretender Direktor für Information Sharing beim DNI, sagte kürzlich auf einer Konferenz der Association for Enterprise Integration, Intellipedia verwende „exakt dieselbe Software“ wie Wikipedia. Auch die Benutzung dieses „Kooperationsraums“ sei dieselbe. Geheimdienstmitarbeiter können neue Artikel anlegen und zu bestehenden Informationen oder Dokumente hinzufügen oder sehen, was andere wissen und machen. Man intendiere damit aber nicht, eine Informations-, sondern eine Entscheidungsüberlegenheit zu erzielen: „Wir müssen in den Entscheidungszyklus des Feindes eindringen. Wir müssen entdecken können, was sie machen, und darauf effektiv antworten.“