Stefan und die Geschichte vom Ritalin

Am Beispiel der medikamentösen Behandlung der Aufmerksamkeitsstörung ADHS zeigt sich, wie die Gesellschaft den frühen Umgang mit chemischen Substanzen diskutiert - Teil 2

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Unter den Kinderpsychiatern und Ärzten finden sich nur wenige, die Ritalin und seine Verwandten grundsätzlich ablehnen.Die Substanz hilft einfach zu eindrucksvoll, gerade bei Kindern, die sonst überhaupt nicht zur Ruhe kommen. Plötzlich liest der bis dahin rastlos-zerfahrene Nachwuchs still ein Buch, hört den Worten der Eltern zu und kann dem Unterricht in der Schule folgen.

Der Fall des heute neunjährigen Stefan1 aus Hamburg ist exemplarisch: "Er war schon als Baby unruhig, musste ständig in Bewegung gehalten werden", erzählt seine Mutter Silke, 33. Die motorischen Fertigkeiten entwickelten sich schlecht, aggressives Verhalten zeigt sich.

Später kamen ständiger Trotz und Wutanfälle dazu. Er wollte wirklich keine Grenze akzeptieren, aus jedem Regelanspruch wurde ein Drama. Er schlug um sich. Mit fünf war er immer noch nicht in der Lage seine Jacke an einen Kleiderhaken zu hängen.

Silke

Zugleich wuchs mit Stefan ein enorm wissbegieriges Kind auf, das "alles aufsog wie ein Schwamm". Stimmte die Laune, konnte er durchaus stundenlang Lego spielen.

Im Kindergarten war er kaum in die Gruppe zu integrieren. "Er wurde zum unglücklichen Außenseiter, hatte eine unglaublich niedrige Frustrationstoleranz und kapselte sich immer mehr ab." Eine Lage, die sich in der Schule nach verschlechterte, die Lehrer sprachen schon drei Wochen nach der Einschulung von "völliger Arbeitsunwilligkeit".

Für die Hamburger Familie folgte der Gang durch die ärztlichen Institutionen, kluge Ratschläge von Freunden und Bekannten und das Studium der uferlosen Ratgeberliteratur zum Thema.2 Der Arzt des Vertrauens brachte es auf den Punkt: "So lange sie noch können, so lange sollten sie durchhalten." Er sprach damit die erstmals diskutierte Ritalinvergabe an. Die Familie wartete also ab, besuchte Therapieangebote, die Schule unterstütze. Besser wurde es nicht - im Gegenteil.

Methylphenidat

"Stefan konnte sein Leiden für sich nicht formulieren, er redete viel, aber sagte dabei wenig." Im Laufe der ersten Klasse war klar: Freunde findet er nicht. "Ich will mein Verhalten ja ändern, aber ich weiß nicht wie, ich kriege es nicht hin", zitiert Silke ihren Sohn. Der Arzt verordnete zunächst 5 mg Methylphenidat (Medikinet), einzunehmen morgens nach dem Frühstück. Später wurde auf 10 mg erhöht. "Ich komme eher aus der homöophatischen Ecke", erklärt Silke, "die Entscheidung, mein Kind unter eine tägliche Medikation zu setzen, fiel mir unglaublich schwer".

Vergangenheitsbewältigung

Schon die Vorgeschichte von Methylphenidat ist interessant, weist sie doch auf den ewigen Kreislauf "Neues Wundermittel-Langzeitfolgen-verbessertes Wundermittel-Langzeitfolgen" hin. 1887 synthetisierte Lazar Edelnau eine Vorläufersubtanz von Methylphenidat, das Amphetamin. Mitte der 20 Jahre des letzten Jahrhundert war Gordon Alles auf der Suche nach einem künstlichen Ersatz für Ephedrin, das bis dahin aus der Pflanze Ephedra vulgaris (dem Meeträubel) gewonnen wurde. Er setzte das Amphetamin als Asthma-Mittel ein, 1932 kam es unter der Bezeichnung Benzedrin auf den Markt. Lobpreisungen neuer Mittelchen gehörte schon damals zum Wissenschaftler-Alltag: 1936 berichtete der "Lancet" begeistert von dem Stimulans, das die Stimmung, das Verhalten und die kognitiven Leistung positiv beeinflussten könne.

1937 verabreichte der Chefarzt des "Emma-Pendleton-Bradley-Heims", Charles Bradley, erstmals Benzedrin an Kinder. Da viele Patienten dieses psychiatrischen Krankenhauses unter Schmerzen litten, verabreichte ihnen Bradley Benzedrin, um ihre Stimmung aufzuhellen. Dabei machte er eine überraschende Entdeckung. Benzedrin, ein zentrales Stimulans, erzeugte bei den behandelten Kindern eine Konzentrationssteigerung, hyperaktive Kinder schienen ruhiger zu werden. Es schien eine paradoxe Wirkung zu sein: Ein antriebssteigerndes Medikament für Erwachsene wirkte bei Kindern beruhigend. Schon Bradley warnte vor dem großzügigen Gebrauch:

Jeder unsachgemäße Gebrauch des Benzedrin zum Zwecke der symptomatischen Behandlung könnte die Ursachen von Reaktionen, denen in jedem Fall angemessene Aufmerksamkeit geschenkt werden müsste, maskieren.

Bradley

Aber es kam wie so oft bei der Anwendung von psychoaktiven Medikamenten: Der Schwarzmarkt entdeckte das Produkt, denn bei hoher Dosierung führt das Amphetamin zur enormen Mobilisierung von Kraftreserven, einer und Verringerung des Schlafbedürfnisses und Steigerung des Selbstbewusstseins.

Ein paar Jahre nach der Pionierarbeit von Bradley folgte der nächste Schritt in der Geschichte der Pharmakotherapie. Ritalin verdankt seinen Namen der Ehefrau von Leandro Panizzon, der Methylphenidat 1944 zum ersten Mal synthetisierte. Er hoffte ein Stimulans ohne die bekannt gewordenen Nebenwirkungen und das Missbrauchspotential zu entwickeln. Dass sich der Missbrauch weniger aus der Substanz selbst, sondern eher aus ihrer unsachgemäßen Anwendung ergab, wollte oder konnte er nicht sehen.

Da in dieser Zeit Eigenversuche bei neu entwickelten Substanzen von Arzneimittelchemikern fast Ehrensache waren, wurde Methylphenidat auch von Panizzon und seiner Frau eingenommen. Marguerite "Rita" Panizzon war beeindruckt von dem Effekt des Medikaments, das sie gelegentlich vor dem Tennisspielen einnahm. Zur Markteinführung des Medikaments wurden zusammen mit der Produktinformation Gutscheinbons verschickt, damit Ärzte das Ritalin im Selbstversuch ausprobieren könnten.

Amphetamin und Methylphenidat sind beides Phenylethylamin-Derivate. Diese unterscheiden sich von Dopamin durch das Fehlen einer Hydroxy-Gruppe, welches ihnen ermöglicht, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. Die Behandlung von ADHS mit Ritalin zeigt bis heute zwar mehr Erfolge als die mit Amphetamin, gleichwohl war es auch dem Werbedruck der Pharmafirmen zu verdanken, dass "Speed" so rückhaltlos von den Rezepten der Ärzteschaft verschwand.

Methylphenidat wurde damals aufgrund seiner Struktur und seiner Wirkung zwischen Amphetamin und Koffein eingeordnet. 1955 wird die Substanz Methylphenidat in den USA auf den Markt gebracht. Auch hier wird es hauptsächlich als Medikament für Erwachsene bei milden Depressionen angeboten. Die 50er Jahre können als das goldene Zeitalter der medikamentösen Therapie gelten. Jeden Monat berichteten die Zeitungen von einem neuen Wundermittel, Medien und Teile der Wissenschaft arbeiteten hart an der Illusion, dass es bald Medikamente gegen alle Arten von Krankheiten geben würde. Eine Pille und die Welt ist in Ordnung.

Anfang der 60er Jahre wurde Ritalin dann regelmäßig und mit Erfolg bei "delinquenten Jugendlichen" eingesetzt, Anfang der 70er Jahre berichtete Gerhardt Nissen als erster in Deutschland vom Einsatz der Substanz. Der formulierte Nutzen von Methylphenidat floss seit der Markteinführung in die Definition des ADH-Syndroms mit ein, es entwickelte sich ein Wechselspiel zwischen Medikation und Erkrankung, das bis heute anhält. Erst in den späten siebziger Jahren stellte man fest, dass der Einsatz als Diagnostikum ungeeignet war, da Methylphenidat auch bei normalen Kindern einen konzentrationssteigernden Effekt hat. Schon 1969 hatten Conners und Eisenberg Kindern mit Lernschwierigkeiten und leichten Verhaltensauffälligkeiten Methylphenidat verabreicht; es wurden Verbesserungen festgestellt. Dies bewog die Autoren damals zu der Frage, ob nicht alle schlechten Schüler von einer Stimulanzientherapie profitieren könnten.

In den 80er Jahren wurde die Situation unübersichtlich, besorgte Eltern mischten sich ein, plötzlich meinte die Scientology-Kirche im Ritalin ein weiteres Werkzeug des Bösen zu sehen. Unter Ritalin-Kritik sammeln sich Kritiker der Ritalinvergabe, ohne darauf hinzuweisen, dass sie durch die deutsche Sektion der "Citizens Commission on Human Rights" (CCHR) finanziert werden, eine Scientology-Organisation. Gleiches gilt für die "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V.", die unter Psychiatrie und Misshandlung Informationen gegen den allgemeinen Einsatz von Psychopharmaka sammelt. Die Aktivität der Scientology veranlasst Ritalin-Befürworter wiederum, die gesamte Kritik am Methylphenidat als durch Psychosekten gesteuert anzuprangern.

Die Pharmafirmen überbieten sich mit immer neuen Entwicklungen für den lukrativen ADHS-Markt

In Deutschland ist mit Atomoxetin ein Wirkstoff auf dem Markt, der von der Firma Lilly als "Strattera" vertrieben wird. Die Nebenwirkungen wie Schlaf- und Appetitlosigkeit sollen geringer sein als bei Ritalin.

In den USA wird seit ein paar Jahren ein Mittel Namens "Adderal" häufiger als Ritalin verschrieben. Im ersten Halbjahr 2006 nahm die Firma Shire durch den Verkauf von Adderal 426,8 Millionen Dollar ein, rund die Hälfte des Gesamtumsatzes des Unternehmens. Das Medikament ist eine Mischung aus verschiedenen Dextroamphetamin-Derivaten. Aber wiederum ist unklar, wie die Substanz im Gehirn wirkt. Es wird angenommen, dass Adderal die Wiederaufnahme von Dopamin in die präsynaptischen Neuronen blockiert und deren Ausschüttung in den extraneuronalen Raum erhöht. Adderal würde also demnach den Wiederaufnahmemechanismus umkehren und aus einem Vakuum eine Pumpe machen.

Um die große Nachfrage zu befriedigen, werkeln die Labors auch an neuen Applikationsformen. Die Firma Noven Pharmaceuticals entwickelte ein Pflaster (Daytrana), die ADHS-lindernden Substanzen werden dabei über die Haut eingenommen. Auch dieses Produkt wird seit Juni 2006 von Shire vertrieben.

Anfang Oktober diesen Jahres erteilte die amerikanische Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) eine vorläufige Genehmigung für NRP-104, ein ADHS-Medikament, das von New River Pharmaceuticals synthetisiert und von Shire vertrieben werden soll. Die Aktienkurse der beiden Firmen schossen daraufhin in die Höhe. Obwohl auch dieses Medikament auf Amphetaminverbindungen basiert, versichern die Unternehmen, dass es "weniger Missbrauch damit geben wird".

Mit NRP-104 ist wieder einmal die Hoffnung auf eine sichere Droge verknüpft. Das chemische Vorgehen war simpel: Bei der Substanz wurde ein herkömmliches Amphetamin-Molekül mit einer Aminosäure versehen. Im Körper des Menschen ist die Substanz daher so lange inaktiv, bis sie auf ein Enzym trifft, das die Aminosäure absprengt und das Amphetamin verfügbar macht. Meist geschieht dies in der Leber. Die Hoffnung: Das Einwirken des Enzyms garantiert eine langsame, aber kontinuierliche Abgabe über den Tag. Das Problem: Die Anzahl der Enzyme im Menschen divergiert, jeder verstoffwechselt unterschiedlich. Noch hat die Drug Enforcement Administration (DEA) NRP-104 nicht als scharf zu kontrollierenden Substanz (Schedule I oder II) klassifiziert. Bleibt es dabei, wäre das ein enormer Vorteil auf dem Markt.

Dieser ist unruhig, Ritalin & Co. sind nicht unumstritten. Jüngst forderte die FDA die Hersteller von Methylphenidat und Atomoxetin auf, die Produktwarnhinweise zu verschärfen. Nach der Durchsicht von 22 Millionen Krankheitsakten für den Zeitraum zwischen Januar 1999 und Dezember 2003 waren der Behörde acht Fälle von plötzlichem Herztod aufgefallen, bei denen ein ursächlicher Zusammenhang mit der Methylphenidat-Vergabe vermutet wurde. Für den gleichen Zeitraum wurden für Amphetamine 17 Fälle gemeldet, zudem diverse Zwischenfälle mit schwerwiegenden kardiovaskulären Nebenwirkungen. Und: Sieben Atomoxetin-Patienten starben durch plötzlichen Herztod im Zeitraum von November 2002 bis Februar 2005. So schrecklich die Todesfälle auch sind, die Komplikationsraten liegen, bezogen auf 100.000 Patientenjahre, 0,2 bis 0,5 niedriger als bei einer unbehandelten pädiatrischen Population. Da jedoch von einer hohen Dunkelziffer auszugehen sei, alarmierte die FDA die Öffentlichkeit.

Ärzte, Verbände, Kritiker, Eltern meldeten sich zu Wort, die Diskussion um Ritalin ist neu entbrannt. In Deutschland wies die "Deutsche Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte" in einer Stellungnahme auf die "hervorragende Nutzen/Risiko-Relation von Stimulantien insbesondere Methylphenidat" hin und warnte vor Panik. Die Risiken und Einschränkungen einer Methylphenidat-Behandlung, wie Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen und Angina pectoris, seien in den deutschen Beipackzetteln aufgeführt, die bisherige Leitlinie zur Diagnose und Behandlung von ADHS sei ausreichend. In den USA würde die FDA nun gerne eine weitere Studie über ADHS-Medikamente durchführen, eine Million Dollar sind bewilligt, es fehlen aber zwei weitere.

Gegenwartsprobleme

Nach der ersten Abgabe von Methylphenidat an Stefan war man euphorisch in der Schule. "Wie ausgewechselt sollte er sein", erzählt Silke. Ruhiges Arbeiten war möglich, Stefan saß, hörte zu und brachte sich ein. Die anderen Schüler wunderten sich, man nahm Kontakt auf. Die Familie merkte von den Veränderungen zunächst wenig, das Methylphenidat wirkte nicht bis in den Nachmittag hinein. "So riesig waren da die Unterschiede nicht." Zudem zeigte die parallel laufende Verhaltenstherapie ebenfalls Erfolge. Der Arzt erhöhte die Dosis, 20 mg morgens und am frühen Nachmittag. "Das Runterkommen am Abend war und ist immer noch das Schlimmste", weiß Silke. "Plötzlich sitzt wieder ein anderer Mensch vor dir." Dazu kamen die Nebenwirkungen: Stefan schlief schlecht, er nahm ab.

Seit Juni 2006 geht Stefan nach der Schule zu einem Sozialkompetenztraining in einer Tagesklinik. Er hat zwei neue feste Freunde. Auch seine Medikation wurde verändert. Er erhält jetzt Atomoxetin, das von der Firma Lilly als Strattera vertrieben wird. Der genaue Wirkmechanismus von Atomoxetin ist nicht bekannt, es soll nicht amphetaminartig wirken, sondern die Wiederaufnahme von Noradrenalin im zentralen Nervensystem hemmen. "Besser essen und schlafen tut Stefan auf jeden Fall jetzt", merkt Silke an. "Aber ich bin unsicher, ob Strattera wirkt. Vielleicht sind es auch die ausgedehnten Therapieprogramme, die jetzt greifen. Wir werden das weiter beobachten." Die Kritik an der ausufernden Ritalin-Vergabe ist für Silke durchaus verständlich.

Alle Eltern sind verunsichert, in den Internet-Foren streiten die Befürworter und Gegner von Ritalin oftmals hart. Auf der anderen Seite kenne ich keinen Fall, wo Ritalin einfach verschrieben wurde, ohne eine begleitende Therapie anzubieten.

Silke

Die größte Hoffnung der Familie liegt nun auf einer dauerhaften Besserung von Stefans ADH-Syndrom. "Und natürlich darauf, dass keine Langzeitfolgen auftreten."

Im 3. Teil: Wie Ritalin & Co. im Gehirn und in der hyperaktiven Gesellschaft wirken.