Neue Verfassung, neue Konflikte

Nach dem erfolgreichen Referendum am vergangenen Wochenende droht in Serbien die innenpolitische Zerreißprobe

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Es war eine Zitterpartie: Lediglich eine Stunde vor Schließung der Wahllokale um 20 Uhr hatten über 50 Prozent der Stimmberechtigten ihr Wahlrecht auch wahrgenommen. Damit wurde die Hürde für die Gültigkeit des Referendums über eine neue Verfassung in Serbien am vergangenen Sonntag erst im letzten Moment übersprungen. Nach den nervösen Stunden am Wochenende kann Premierminister Voijslav Kostunica mit den mittlerweile vorliegenden Stimmergebnissen dennoch zufrieden sein. Er hat hoch gepokert und letztlich gewonnen.

Nach den vorläufigen Angaben der staatlichen Wahlkommission RIK wurde mit 54,2 Prozent der Wahlberechtigten das Quorum letztlich deutlich überschritten. Zur Stimmabgabe sind dabei fast ausschließlich die Befürworter der Verfassung gegangen. Auf 96,5 Prozent der Stimmenzettel wurde das große „Da“ (Ja) angekreuzt. Die von prowestlichen Oppositionsparteien und einem Teil der Autonomiebewegung in der Vojvodina geführte Boykottkampagne hat damit eine Niederlage einstecken müssen. Nach der positiven Äußerung der Europäischen Union über den Ablauf des Referendums werden auch die Eingaben wegen angeblicher Wahlfälschung wenige Chancen haben.

Mit der neuen Verfassung, die in den nächsten Tagen auf einer Sondersitzung des Parlamentes noch bestätigt werden muss, erklärt sich Serbien zum ersten Mal nach der Gründung Jugoslawiens 1918 zu einem unabhängigen Nationalstaat. Nachdem es im 20. Jahrhundert vor allem die Serben waren, welche eine Vereinigung der südslawischen Völker in einem Staat propagierten, drückt sich die Abwendung von der jugoslawischen Idee nun klar im Verfassungstext aus. Serbien wird nicht mehr wie bisher als „Staat seiner Bürger“, sondern als „Staat des serbischen Volkes“ definiert. Auch in anderer Hinsicht ist die neue Verfassung ein Schritt zurück in das 19. Jahrhundert. Die neue Nationalfahne wird mit dem königlichen Wappen geschmückt. Auch die Nationalhymne "Boze pravde" (Gott der Gerechtigkeit) war bereits die Hymne des serbischen Königreiches. Die Monarchie selbst wird aber nicht restauriert. Serbien bleibt eine parlamentarische Demokratie.

Die öffentliche Kritik an dem im Eiltempo beschlossenen Text zielte weniger auf die symbolischen Avancen an die Vergangenheit. Es sind vielmehr eine Reihe konkreter antidemokratischer Elemente, die von Gegnern des Entwurfes scharf bemängelt werden. So ist die künftige Staatsstruktur stark zentralistisch ausgerichtet und lässt den Regionen und Kommunen wenig Raum. „Wenn die Regierung den Verlust der Macht fürchtet, ist eine parlamentarische Diktatur möglich“, meint außerdem Aaron Rhodes, der Präsident der Internationalen Helsinki Föderation für Menschenrechte. Die Verfassung negiere die „Idee einer Zivilgesellschaft“. Gerichte würden unter die Kontrolle der Regierung und des Parlaments gestellt. Internationale Rechtsakte könnten nur schwer in nationale Gesetzgebung übernommen werden. Pressefreiheit und Bürgerrechte könnten leicht eingeschränkt werden.

Trotz der schwer wiegenden Kritik konnte die Verfassungs-Kampagne der vergangenen Wochen eine für viele Beobachter erstaunliche Einheit der großen politischen Parteien herstellen. Die Übereinstimmung hatte allerdings weniger mit dem Text der Konstitution zu tun als mit der politischen Situation, in der sich Serbien befindet. Letztlich waren die maßgeblichen politischen Akteure zu Kompromissen bereit, um die seit der Abspaltung Montenegros im Frühjahr dringend notwendige Neugründung des serbischen Staates zu vollziehen und die Funktion seiner Organe klar zu definieren. Auch die Präambel, in der die umstrittene Provinz Kosovo zum "unveräußerlichen Bestandteil Serbiens" erklärt wird, hat entscheidend zum Schulterschluss beigetragen.

Mit der Einigkeit dürfte es nun aber vorbei sein. In Serbien droht für die kommenden Wochen eine innenpolitische Zerreißprobe. Der unmittelbare Anlass werden Neuwahlen sein, die durch die Annahme der Verfassung notwendig werden. Die politische Landschaft ist dabei so polarisiert wie noch nie nach dem Sturz des langjährigen Belgrader Machthabers Slobodan Milosevics im Oktober 2000. Die Koalitionsregierung des nationalkonservativen Kostunica steckt bereits seit geraumer Zeit in der Krise. Vor allem der Konflikt um die Auslieferung des vermutlich in Serbien abgetauchten bosnisch-serbischen Armeeführers Ratko Mladic spielt dabei eine wichtige Rolle. Das Versäumnis, den vom Den Haager Jugoslawientribunal als mutmaßlichen Kriegsverbrecher gesuchten General auszuliefern, hat in den vergangenen Monaten zu starken Spannungen mit der Europäischen Union geführt. Brüssel setzte im vergangenen Frühjahr ein bereits geschlossenes Assoziationsabkommen mit Serbien wieder aus und macht die Auslieferung Mladics zur Vorbedingung für neue Gespräche. Die prowestliche Partei G17 zog deshalb im September ihre Minister aus dem Kabinett zurück. Nur die Kampagne für das Referendum konnte die Regierungsfähigkeit für einige Wochen verlängern.

Politische Polarisierung und der Status des Kosovo sind die Hauptprobleme

Der Hauptgrund für die politische Polarisierung ist indes die ungebrochene Stärke der nationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS). Bereits bei den letzten Wahlen im Dezember 2003 konnte sie 27,7 Prozent der Stimmen erringen und stellt damit mit Abstand die größte Fraktion im Parlament. An der Regierung beteiligt wurden die Rechtsextremisten aber nicht. Bei den kommenden Wahlen, deren genauer Termin in den nächsten Tagen festgelegt werden soll, wird es in erster Linie darum gehen, ob die SRS eine Regierungsbeteiligung erzwingen kann. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Enttäuschung über die schlechte soziale Lage treibt den populistischen Radikalen genauso Wähler in die Arme wie die offenkundige Zerstrittenheit der bisherigen Regierungskoalition. Eine Stärkung der Radikalen würde Serbien noch weiter in die politische Isolation treiben.

Dieser Trend könnte einzig von einem guten Abschneiden der prowestlichen Demokratischen Partei des amtierenden Präsidenten Boris Tadic aufgehalten werden. Diese steht ebenfalls in der Opposition. Wie dünn das Eis ist, auf dem die institutionelle Ordnung in Serbien derzeit balanciert, zeigt eine Äußerung des Parlamentspräsidenten Predrag Markovic vom Sonntagabend. Er warnte, ein Nichterfolg des Referendums hätte Serbien vor die Gefahr der Aufrichtung einer „Diktatur“ stellen können.

Die Äußerungen des Parlamentspräsidenten sind sicher als Dramatisierung zu werten. Dennoch befindet sich Serbien in einer gefährlichen politischen Ungewissheit, die vor allem durch die Entwicklungen im Kosovo befördert wird (Heißer Herbst im Kosovo). Nachdem der Verhandlungsprozess zwischen den Organen der albanischen Selbstverwaltung und der serbischen Regierung gescheitert ist, hat der als Vermittler eingeschaltete ehemalige finnische Premierminister Marti Ahtisaari angekündigt, einen eigenen Vorschlag für den künftigen völkerrechtlichen Status der umstrittenen Provinz zu machen. Das Referendum in Serbien dürfte dabei keine Rolle spielen. Wie albanische Medien berichten, wird Ahtisaari die „bedingte Unabhängigkeit“ Kosovos empfehlen. Damit würde das mehrheitlich von Albanern bewohnte Kosovo nach der Aufrichtung einer Verwaltung der Vereinten Nationen nach dem Krieg 1999 endgültig von Serbien getrennt. Es genösse aber keine vollen Souveränitätsrechte. Schlüsselkompetenzen wie die Außenpolitik und die Sicherheitspolitik blieben in der Hand einer Protektoratsverwaltung.

Vor allem der Zeitpunkt des Vorschlages von Ahtisaari wird die innenpolitische Entwicklung in Serbien stark beeinflussen. Sollte er vor den geplanten Neuwahlen kommen, kann als sicher gelten, dass die SRS einen weiteren Popularitätsschub erhält und sich als kompromissloser Verteidiger Kosovos in Szene setzen kann. Der Koordinator für Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Javier Solana, setzt sich deshalb dafür ein, dass Ahtisaari seinen Vorschlag erst nach den Neuwahlen in Serbien unterbreiten soll. Der Kosovo-Unterhändler der USA, Frank Wiesner, will dagegen am ursprünglichen Zeitplan festhalten und fordert eine „Lösung“ noch in diesem Jahr.

Die Position der US-Regierung unterstützt damit das Verlangen der albanischen politischen Führung. Die eigentliche Ursache für die Eile in Washington dürfte aber im Konflikt mit Russland liegen, das sich in den vergangenen Wochen immer klarer für die serbische Position einsetzt und mit einem Veto gegen die Unabhängigkeit Kosovos im UN-Sicherheitsrat droht. Wie die Financial Times schreibt, könnte der Kosovo-Konflikt so zu einem weiteren Zankapfel in den ohnehin gespannten Beziehungen zwischen Moskau und der Bush-Administration zu werden.