Gefährlich, revolutionär, unentschlossen

Amerikas imperialer Präsident signalisiert Zuversicht und Optimismus nach außen, während seine Strategen längst wieder über eine passgerechte Außenpolitik streiten

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Die Spatzen pfeifen es längst von den Dächern, die Supermacht steckt außenpolitisch in der Klemme. An allen neuralgischen Punkten lodert und brennt es: in Afghanistan, wo die Taliban längst wieder auf dem Vormarsch sind; im Iran, wo die Regierung trotz aller offenen und versteckten Drohungen dem Imperium die Stirn bietet; in Nordkorea, wo der „Führer“ Kim Jong Il die atomaren Muskeln spielen lässt und die Amerikaner zu bilateralen Verhandlungen zwingen will; im Irak, wo Chaos und Anarchie herrschen, ein Bürgerkrieg tobt und die Bush-Regierung ein zweites Vietnam erlebt.

The greatest of existing states, greater than any that has ever existed

William Seward

Alle vier Projekte, deren sich die Bush-Administration nach dem 11.9. angenommen hat und welche die Eignung der „Bush-Doktrin“ beweisen sollen, stehen derzeit zur Disposition. Es hat den Anschein, als ob ihr Dreiklang aus unilateralem Vorgehen, preemptive strikes und Demokratieverbreitung schon vier Jahren nach ihrer Verkündigung kläglich gescheitert ist. Vor allem im Irak, den man umkrempeln und eine neue Zeitrechnung verpassen wollte, hat die „Nationale Sicherheitsstrategie 2002“ ihren Tauglichkeitstest nicht bestanden. Das geben mittlerweile auch Amerikas Strategen zu – trotz aller Dementis und demonstrativer Siegesgewissheit, die der commander in chief nach außen zur Schau stellt und/oder in der Öffentlichkeit verbreiten lässt.

Zwar findet der Präsident immer noch Unterstützung bei einigen seiner „geistigen“ Einflüsterer und Stichwortgeber. Beispielsweise von Lawrence Kaplan, dem ehemaligen Herausgeber des „New Republic“, der seine Kollegen in der „Financial Times“ (The Bush doctrine must survive the Iraq war) ermahnt, nicht verfrüht von einem Missraten der Bush-Doktrin zu sprechen. Die Probleme, denen sich die US-Truppen aktuell im Irak gegenübersehen, dürfte man nicht als Gradmesser über ihr Wohl und Wehe nehmen. Im Gegenteil, angesichts der bedenklichen Lagen in Fernost, Zentralasien und im Nahen Osten sowie den davon ausgehenden Bedrohungen (Terrorismus, Proliferation) sei vor allem der Präventivgedanke weiter von großer Relevanz.

Auch der „Truman-Doktrin“ habe man zunächst keine lange Überlebensfrist eingeräumt. Bereits zwei Jahre nach Beginn des Korea-Krieges hätten die Republikaner die Eindämmungspolitik für „tot“ erklärt. Ähnlich hätten sich die Demokraten zwanzig Jahre später über den Problemfall Vietnam geäußert. Doch weder Korea noch Vietnam hätten den Erfolg des Containments verhindert. Letztendlich hätte sie aber ihr Ziel erreicht, die Sowjetunion sei zusammengebrochen, und der Kommunismus auf dem Schutthaufen der Geschichte gelandet.

Einfach unverzichtbar

Das kann man so sehen, muss man aber nicht. Weswegen in den Denkfabriken zwischen Realisten und Idealisten eine vielstimmige Strategiedebatte entbrannt ist, welche Leitlinien die künftige Außenpolitik des Landes verfolgen und welche Richtung sie nehmen soll. Soll die einzige noch verbliebene Weltmacht ihr „Go Alone“ aufgeben, sich fortan kooperativ verhalten und sich um gemeinschaftliche Lösungen mit befreundeten und verbündeten Nationen bemühen? Oder soll sie an ihrer Grand Strategy festhalten und den unilateralen Weg, den man bereits vor der Jahrtausendwende eingeschlagen hat, unbeirrt fortsetzen?

Die Beantwortung dieser Fragen ist nicht ganz unerheblich. Für die Welt, weil die USA globale Führungsmacht und folglich die „unverzichtbare Nation“ (Madelaine Albright) ist. Nur sie besitzen Einfluss, Macht und die entsprechenden Kapazitäten, wirtschaftlich, politisch und militärisch, um weltweite Konflikte zu lösen und für Ordnung und Stabilität zu sorgen (Unentbehrlicher Schurkenstaat). Aber auch für das Land selbst, weil davon Charakter und Entwurf, Selbstwertgefühl und Selbstverständnis einer ganzen Nation berührt wird, die sich für God’s own country hält und sich selbstredend als Hoffnung und Erneuerer der Welt bezeichnet.

Zögern und zaudern

Dessen ungeachtet geben sich der Präsident und seine Administration derzeit seltsam unentschlossen. Schon macht das böse Bild vom großen Zauderer die Runde. Einerseits zeigt man sich nach außen unbeeindruckt von der katastrophalen Lage im Irak. Trotz unzähliger toter Marines (allein hundert im Monat Oktober) und der derzeit vierzigtausend irakischen Opfer jährlich; trotz heftiger Anklagen seitens namhafter Kritiker und Publizisten (siehe State of Denial von Bob Woodward) und schwindender Zustimmung der Bevölkerung zum Krieg im Irak setzt man weiter auf einen Endsieg.

Der Vergleich mit Adolf Hitler mag vielleicht deplaziert und geschmacklos sein, doch irgendwie drängt er sich dem Beobachter auch auf ob des präsidialen Starsinns, der Realitätsverkennung und seines felsenfesten Glaubens an den Endsieg. Obwohl Bush die Fakten sehr genau kennt, hat er nämlich vor Kurzen noch gesagt: „Unser Ziel im Irak heißt nach wie vor klar und eindeutig Sieg.“ Standhaft weigert man sich obendrein, mit Nordkorea in direkte Verhandlungen zu treten oder Iran ein verhandelbares Angebot zu machen, das dem Regime die Möglichkeit gibt, seine legitimen Rechte auf Nutzung der Atomenergie wahrzunehmen und sein Gesicht vor der Weltöffentlichkeit zu wahren. Stattdessen stößt man beizeiten teils heftige Drohungen gegen Nordkorea und Iran aus und spielt offen mit der militärischen Option.

Andererseits folgen diesen markigen Worten dann aber keine Taten. Ultimaten, die man zusammen mit dem Sicherheitsrat aushandelt und den beiden „Schurkenstaaten“ serviert, lässt man einfach verstreichen. Statt den selbstgesetzten Prinzipien und Überzeugungen zu folgen, knickt man immer wieder ein und schwenkt auf die ungeliebte europäische Linie ein. Erbost, aber ohnmächtig, registriert man einen Atomtest an der nordpazifischen Küste und braucht China, um Kim Jong Il (zumindest vorerst) zum Stopp weiterer Tests zu bewegen. Schließlich scheut man sich (oder ist auch nicht in der Lage) in Afghanistan, die ISAF mit mehr Truppen und militärischem Gerät auszustatten oder wenigstens von den Deutschen mehr Präsenz im „heißen“ Süden des Landes zu verlangen.

Ende einer Ära

Ähnliches Zögern und Zaudern kann man von Amerikas Strategen dagegen nicht behaupten. Anders als die Administration, die angesichts bevorstehender Wahlen unter dem „unfriendly fire“ von Parteifreunden steht, verspüren sie keinen Handlungsdruck. Weswegen sie eine ebenso nüchterne wie testfreie Lage der außenpolitischen Situation zeichnen können.

Richard N. Haass, einst im Außenstab Colin Powells tätig und ehemals glühender Verfechter des Unilateralismus („The mission defines the coalition, not the coalition the mission“) erklärt die Jahrzehnte währende Vormachtstellung der Supermacht im Nahen Osten für beendet. In der jüngsten Ausgabe der „Foreign Affairs“ (The New Middle East) weist der jetzige Präsident des Council for Foreign Relations alle Vorstellungen, die auf einen „friedfertigen, prosperierenden und demokratischen“ Nahen Osten hoffen und immer noch meinen, den „Geburtswehen eines besseren Nahen Ostens“ (Condi Rice) beizuwohnen, ins Reich der Träume. Künftig werde die Region nicht mehr von raumfremden Kräften bestimmt, wie einst von Napoleon, den Ottomanen, den Kolonialmächten England und Frankreich und der „Pastoralmacht“ USA, sondern von lokalen Akteuren, die die Macht an sich reißen und den Status Quo in ihrem Sinn verändern. Diese derzeit stattfindende Umwälzung wird für die Region eine neue Ära einläuten, die sich vom „Alten Mittleren Osten“ erheblich unterscheiden wird und sowohl der Region wie auch der Supermacht und der Welt insgesamt wenig Gutes bringen wird.

Vermittlerrolle einnehmen

Um der Gefahr eines solchen „unfreundlichen“, von Radikalismus und Energiehunger, Bürgerkriegen und zwischenstaatlichen Konflikten zerfurchten Nahen Osten die Spitze zu nehmen, müsste die Supermacht sich laut Haass jedoch von zwei Lebenslügen verabschieden. Sie müsste erstens wieder mehr auf Diplomatie setzen, was bedeutet, dass man sich auch mit radikalen Gruppen wie der Hamas oder der Hisbollah an einen Tisch setzt. Gegen lokale Partisanenkräfte und terroristische Netzwerke vermögen traditionelle Armeen wenig. Erst recht, wenn diese von den Einheimischen tatkräftig unterstützt werden. Aus diesem Grunde könne die militärische Option immer nur die ultima ratio sein. Ein Angriff auf den Iran würde zum Beispiel den Ölpreis hochtreiben und eine weltweite Rezession hervorrufen. Außerdem würde sie nur den radikalen Kräften vor Ort in die Hände spielen und den Antiamerikanismus in der Region weiter anheizen.

Zweitens gelte es, sich von der Politik der Demokratieverbreitung zu verabschieden, die aufgrund ihres mechanistischen Gedankens Illusion und Fehler zugleich ist. Zum einen dauerten Demokratisierungen und Nation-Building in aller Regel Jahrzehnte. Und gegen den Willen und das Mittun der Bevölkerung sei sie gar nicht zu haben. Zum anderen sei die Supermacht auch weiterhin gezwungen, mit undemokratischen Staaten zu paktieren. Demokratie allein immunisiere nicht, wie die Beispiele Libanon und Gaza zeigen, gegen Radikalismus. Erst durch freie Wahlen seien Hamas und Hisbollah an die Macht gekommen. Gleiches würde vermutlich in Ägypten und Saudi-Arabien drohen, würde dort frei gewählt werde.

Feuer von der Lunte nehmen

Haass fordert daher die Regierung auf, endlich ihre Schwarz-Weiß-Politik aufzugeben und sich ihrer vormaligen Vermittlerrolle zu erinnern. Nur so sei der israelisch-arabische Konflikt annähernd zu lösen. Ferner sollte sie Syrien endlich echte finanzielle Anreize bieten, damit es sich nicht mehr auf die iranische Seite schlagen muss. Und schließlich sollte sie dem Iran Sicherheitsgarantien geben und mit ihm ein Abkommen über die Anreicherung nuklearen Materials aushandeln, wenn dieser im Gegenzug bereit ist, strenge internationale Inspektionen auf seinem Gebiet zu dulden.

Über eines ist aber auch Haass sich im Klaren: Sollte sich die Regierung tatsächlich den einen oder anderen Vorschlag zu Eigen machen, wird das nicht zu schnellen Lösungen führen. Der „Neue Mittlere Osten“ wird auf Dauer ein globaler Unruheherd bleiben. Nicht nur, weil sich dort fortan eine Vielzahl von Akteuren tummeln wird. In das Macht-Vakuum, das durch den Verlust des amerikanischen Einflusses in dieser Region entstanden ist, werden Russen, Chinesen und Europäer stoßen, die jeweils eigene energie- und geopolitische Interessen verfolgen und jede Gelegenheit nutzen werden, der Supermacht eins auszuwischen. Sondern auch, weil der radikale Islamismus jenes ideologische Loch stopfen wird, das der arabische Nationalismus einst nicht hat stopfen können, und die Region wohlweislich wegen inner-regionaler Konflikte zwischen Arabischer Liga, dem Iran und Israel von den „Segnungen der Globalisierung“ nicht profitieren wird.

Schlüsselstaat Irak

Dass die USA ihre herausragende Stellung im Nahen Osten verloren und radikale Kräfte die Oberhand gewonnen haben – an dieser Misere ist die Supermacht nicht völlig schuldlos. Einseitig hat sie sich auf die Seite Israels geschlagen und damit den schwelenden Konflikt mit den Arabern forciert. Gleichzeitig hat sie ohne Not und entsprechende militärische Planung den Irak angegriffen. Wodurch sie nicht nur jenen Stabilisationsfaktor leichtfertig zerstört hat, der die Ambitionen des Iran hätte ausbalancieren können, sondern auch aus einem leicht einzudämmenden Schurkenstaat einen „messy state“ gemacht, der Hort, Stätte und Drehscheibe für den internationalen Terrorismus geworden ist.

Will die Supermacht im Nahen Osten wieder einen Fuß in die Tür bekommen, muss sie sich endlich zu einer Exit Strategy durchringen, die einen Irak ohne Chaos hinterlässt. Einen solchen Plan haben vor zwei Jahren (Plan for Iraq) bereits der frühere Vorsitzende des „Council of Foreign Relations“, Leslie H. Gelb, und der Senator Joseph R. Biden der Bush-Administration präsentiert. Vor ein paar Tagen haben sie diesen im „Wall Street Journal“ noch einmal bekräftigt (Bipartisan Redeployment) und zu einem Partei übergreifenden Bündnis aus Republikanern und Demokraten aufgerufen, das ihrer Nation einen vernünftigen Weg aus dem irakischen Sumpf und der untragbaren Situation für die US-Truppen weist. Dies sei, so Gelb und Biden, schon deshalb dringend geraten, weil weder die Republikaner mit der Last des Irakkrieges 2008 in den Präsidentschaftswahlkampf ziehen möchten, noch sich die Demokraten nach der Wahl mit der Bürde eines verlorenen Krieges herumschlagen wollen.

Der Plan für den Irak sieht eine „Dayton“ ähnliche Lösung vor, eine, wie sie schon im Bosnienkrieg 1995 zur Anwendung gekommen ist. Im Einzelnen ist dort a) von einer föderalen Struktur des Irak die Rede, die eine weitest gehende Autonomie für Sunniten, Kurden und Schiiten enthält und die b) auch eine faire Aufteilung der Ölvorkommen des Iraks beinhaltet. Da die Sunniten aufgrund ihrer „Mittellage“ über keine Ölquellen verfügen, wird ihnen von den anderen Volksgruppen etwa zwanzig Prozent davon garantiert. Begleitet und unterstützt werden sollte ein solches Abkommen danach c) von einer Konferenz mit den Anrainerstaaten, die sich über finanzielle Hilfen für das Land verständigen.

Anders als die Bush-Regierung, die an einem zentralistischen Gebilde festhält, würde ein irakischer Zentralrat fortan nur noch über allgemeine Dinge befinden, beispielsweise über die Verteidigung der Landesgrenzen oder den Ausbau der Energie- und Ölförderinfrastruktur. Nach der Ratifizierung des Plans durch das irakische Parlament könnten die USA im Gegenzug ihre Truppen Schritt um Schritt reduzieren, sie entweder ganz abziehen oder sie in den kurdischen Norden des Landes verlegen, um einem möglichen türkisch-kurdischen Krieg vorzubeugen oder etwaigen terroristischen Aktionen im Irak militärisch entgegenzutreten.

Ob ein Vollzug dieses Plans die Teilung des Iraks in drei Staaten bedeuten und einen totalen Bürgerkrieg zwischen den Volksgruppen nach sich ziehen würde, wie die Bush-Administration befürchtet, ist schwer zu beantworten. Fakt ist, dass bislang niemand einen vergleichbaren Plan auf den Tisch gelegt hat. Und ebenso Fakt ist, dass die Supermacht irgendwann eine Entscheidung treffen muss. Auch der Bush-Nachfolger wird 2008 vor demselben Problem stehen, mit dem Unterschied allerdings, dass sich die Umstände und Verhältnisse weiter verschlimmert haben.

Thymotischer Spirit

Von derlei Tagesgeschäft und Realitätspolitik unbeeindruckt zeigt sich dagegen Robert Kagan, Mitglied des Carnegie Endowment for International Peace und Verfasser des Buches „Macht und Ohnmacht“. Der Trotzkist und Kolumnist der „Washington Post“ beschwört die „permanente Revolution“ und analysiert Mission und ideologisches Gerüst der Supermacht. In einem brillanten Essay für den „New Republic“, dem er den treffenden und zugleich provozierenden Titel Cowboy Nation gibt und der einige Gedanken seines gerade erschienenen Buches The Dangerous Nation, zusammenfasst (Podcast einer Diskussion zwischen Kagan und Thomas Friedman), bestätigt der neokonservative Idealist alle gängige Vorurteile, die Amerikahasser oder -feinde gemeinhin gegenüber der Supermacht hegen und/oder öffentlich verbreiten.

Ja, sagt er, es stimmt, alle Kritiker Amerikas haben Recht, alle Vorurteile sind wahr: Wir sind „arrogant“ und „grenzenlos ehrgeizig“, „militaristisch“ und „imperialistisch“; wir streben nach „totaler Dominanz“, bekennen uns zur Gewalt als Mittel von Politik und ziehen für idealistische Zwecke in den Krieg; und wir sind „Störenfriede“, die der Welt unser Weltbild, unseren Lebensstil und unsere Lebensweise aufdrücken wollen. Aber so what? Wo ist das Problem? Sollen wir uns dafür etwa entschuldigen, uns unserer revolutionären Einstellung vielleicht schämen oder uns deswegen gar vor aller Welt rechtfertigen?

Spätestens seit Madison wähnen sich Amerikaner in der politischen Urszene gefangen, dem Kampf zwischen Demokratie und Despotismus. „Die Vereinigten Staaten“, schreibt er, „waren nie eine Macht des Status quo, sondern stets eine der Revolution. Der Drang, uns in die Angelegenheiten anderer Leute zu mischen, ist weder ein modernes Phänomen noch ein Verrat am amerikanischen Geist. Vielmehr ist er ein Teil von Amerikas DNA.“

Schon die ersten Pilger hätten laut Kagan nichts anderes im Sinn gehabt, als sie den ersten Fuß in die neue Welt gesetzt haben. Und daran habe sich in all den folgenden vier Jahrhunderten nichts Grundlegendes geändert, wo militärische Interventionen zum politischen Tagesgeschäft gehören. Nine-Eleven, darauf wies zuletzt John Lewis Gaddis hin, bedeutete daher auch nicht Abkehr von alten Traditionen oder liberalen Gepflogenheiten, sondern vielmehr die Zuspitzung herkömmlicher präventiver Machtentfaltung. Eine planetarisch operierende Ordnungsmacht wie die USA (siehe Unbehinderte Handlungsfreiheit im Weltraum) schert sich nicht um irgendwelche Staatsgrenzen, wenn es die außen- und geopolitische Lage verlangt. Zum Beweis zitiert er die Gründerväter der Nation, Alex Hamilton und John Quincy Adams, Thomas Jefferson und George Washington und macht sie so zu Kronzeugen für die auf Weltgeltung und Welteroberung angelegte Politik der Supermacht.

Dieses Selbst- und Sendungsbewusstsein hätten seinerzeit die indianischen Ureinwohner, aber auch schon die damaligen europäischen Monarchien, England, Russland und Spanien, zu spüren bekommen. Die Ausdehnung in alle Himmelsrichtungen sowie die Anhäufung von Land und Macht waren kein historischer Unfall, sondern von Anfang an gewollt. Weswegen die große Angst vor dem amerikanischen Republikanismus und seinen liberalistischen Ideen berechtigt war. Österreichs Metternich etwa, der Restaurator der alten Welt, fürchtete sich vor dieser „Flut böser Glaubenssätze“, die damals memartig über den Atlantik auf das Festland zu springen begannen, vor allem, wenn sie sich mit der militärischen, wirtschaftlichen und politischen Macht vermählen, die Amerika anstrebte.

Kagan weist daraufhin, dass bereits damals die Amerikaner einen blutigen Krieg einem faulen Frieden vorzogen, wenn es vonnöten war. Er zitiert Henry Clay, der 1812, am Vorabend des Krieges gegen das angelsächsische Mutterland folgende, das Land überaus treffend charakterisierende Aussage gemacht haben soll: „Niemand im Land wünscht sich den Frieden mehr als ich. Aber wenn die Ehre und die Unabhängigkeit des Landes es fordern, ziehe ich die stürmischen Wasser des Krieges, sein Unheil und seine Verwüstung dem fauligen Tümpel eines schimpflichen Friedens vor.“

Unbequeme Wahrheit akzeptieren

An dieser Sichtweise hat sich bis heute wenig geändert, bisweilen nicht einmal die Wortwahl. Betrachtet man allein die Zeit seit dem Fall der Mauer, dann muss man feststellen, dass die Supermacht im knapp eineinhalbjährigen Rhythmus mit mehr oder weniger Erfolg militärisch interveniert hat, in Panama 1989, in Somalia 1992, in Haiti 1994, in Bosnien 1995-1996, im Kosovo 1999, in Afghanistan 2001, und allein (je nach Blickwinkel) dreimal im Irak, 1991, 1998 und 2003, und zwar interessanterweise unabhängig davon, welche ideologisch-religiöse Gruppierung an der Macht gewesen ist, Linksliberale oder Rechtskonservative.

Bemerkenswert ist, dass Kagan allen Beobachtern, die Amerika zu einer „Rückkehr zu alten Traditionen“ auffordern und all ihre Hoffnungen auf die Wahl eines neuen Präsidenten setzen, eine klare Abfuhr erteilt. Diese Traditionen, von denen die politischen Kräfte hierzulande und anderswo schwadronieren, gebe es einfach nicht. Der Trotzkist fordert deshalb den Rest der Welt auf, dieser „unbequemen Wahrheit“ ins Gesicht zu sehen: „Amerikas Expansionsdrang und sein Hang zur Dominanz sind kein Verrat an unserer wahren Natur – sie sind unsere Natur.“

In aufklärerischen Ohren mag eine solche Aussage höchst befremdlich klingen. Doch die politische Schwunglinie ist klar. Niemand soll sich über Anspruch, Willen und Wirklichkeit der Supermacht täuschen oder sich irgendwelcher Illusionen hingeben. Von Anbeginn an ist das Land auf Gewalt gegründet. Martin Scorsese hat es vor einiger Zeit in „Gangs of New York“ eindrucksvoll gezeigt. Und es hat sich auch immer, wie die Aussagen der Gründerväter beweisen, zu ihrer Anwendung bekannt, wenn es dem nationalen Interesse und den politischen Zielen, genutzt hat.

Es gibt nur ein Amerika

Im Grunde verhalten sich die USA zunächst nicht anders als andere Nationen. Auch ihnen geht zunächst um Sicherheit und Unabhängigkeit, um die Mehrung von Wohlstand, Macht und Prosperität. Anders als vergleichbare Nationen werden sie aber von einer revolutionären Ideologie angetrieben, dem Liberalismus, der nicht nur wirtschaftliche und territoriale Ausdehnung verlangt, sondern der auch raumzeitliche Ausdehnung, Kriege und Regimewechsel überzeugend rechtfertigen kann. Sein universalistischer Anspruch und Inhalt führt dazu, dass Amerikaner glauben, dass sie jede Nation nicht bloß in Sachen Freihandel und Individualismus zu unterweisen und zu belehren haben, sondern auch die Pflicht haben, ihnen die „moderne Zivilisation“ und die „Segnungen der Freiheit“ zu bringen, notfalls eben mit Gewalt und im Namen der Menschheit.

Gewiss hat es dabei immer auch Rückschläge gegeben. Kagan weigert sich, Erfolge dem guten, besseren oder anderen, Misserfolge dagegen dem bösen, schlechten und verdammenswerten Amerika zuzuschlagen. Es gibt in seinen Augen nur ein Amerika. Das eigentliche Amerika I. Weswegen die USA auch immer eine „gefährliche Nation“ bleiben werden, für Schurken und Tyrannen ebenso wie für all jene, die sich dem Liberalismus à la americaine entgegenstellen.

Dieses unerschütterliche Vertrauen in die eigene Mission haben in der Vergangenheit schon der japanische Militarismus, das totalitäre Nazi-Deutschland oder der sowjetische Imperialismus am eigenen Leib zu spüren bekommen. Und das dürfte auch für den Islamismus gelten, den Amerikas Strategen in dieser Ahnenreihe verorten. Beides, Thymos und Spirit führen dazu, dass die Supermacht niemals eine Weltordnung dulden wird, die nicht um Freihandel, die „Zustimmung der Regierten“ und „ein dominantes und bevormundendes Amerika gebaut wäre“.

The cause of America is in a great measure the cause of all mankind

Thomas Paine

Klartext bevorzugt

Diese Aussagen sind vielleicht nicht unbedingt neu. Das haben andere wie etwa Carl Schmitt am Vorabend von WK II auch schon durchaus bewundernd festgestellt (Der Nomos der Erde). Die Optionen von damals, eine in kulturelle Großräume aufgeteilte Welt, die dem Weltbürgerkrieg entgegentritt (Möglichkeiten eines "echten Friedens" trotz komplizierter Verhältnisse), vs. einer Freihandelszone, die unter amerikanischer Oberaufsicht steht, und von ständigen moralischen Kriegen (Die Unauffindbarkeit des Friedens) geschützt wird, sind auch die Optionen von heute. Weswegen der Rest der Welt nicht ständig über die Arroganz und den Unilateralismus des amerikanischen Imperiums jammern oder sich beklagen, sondern endlich eine überzeugende Gegenmacht auf die Beine stellen sollte, die die globalen Ambitionen der Weltmacht begrenzt und eindämmt. Vorschläge dazu liegen längst auf dem Tisch (Eurasische Gegenmacht).

Neu ist vielleicht nur, dass sich Kagan (anders als viele seiner Kollegen) von dieser „kriegslüsternen“ Tradition Amerikas (Thymos) nicht mehr distanziert oder sie gar dementiert. Vielmehr bestätigt er alle Amerikahasser in ihrem Amerika-Bashing und forciert das Bild der wild um sich schießenden „Cowboy Nation“. Gleichzeitig räumt er aber mit alten Mythen auf, beispielsweise damit, dass zwischen Freihandel und Menschenrechten ein eklatanter Widerspruch besteht, und korrigiert damit all jene linksliberalen Wunschbilder, die das Land für einen „Hegemon wider Willen“ halten, der nur „widerwillig“ oder „gezwungenermaßen“ in den Krieg zieht.

So wie Kagan sich vorbehaltlos zur expansionistisch-thymotischen Tradition der Supermacht bekennt, fordert er auch seine Landsleute und Kollegen auf, sich vorurteilsfrei und illusionslos zu ihr zu bekennen. Nur wer sich zu seiner Vergangenheit, Abstammung und Herkunft bekennt, hat Chance und Möglichkeit, mehr über sich und die eigene Zukunft in Erfahrung zu bringen. Für Nationen gilt das genauso wie für Individuen, Stämme oder sonstige ethnische Gemeinschaften.