Innovatives Eigentor

Vertreter aus Wirtschaft und Industrie stellen dem Standort Deutschland im neuen Innovationsindikator ein mittelmäßiges Zeugnis aus. Doch die krude Selbstinszenierung verdient auch keine besseren Noten

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Deutschland braucht Reformen. In allen Bereichen und auf sämtlichen Ebenen. Doch so konsensfähig diese fundamentale Feststellung auch ist, so sehr unterscheiden sich die Mittel und Wege, Ideen, Planspiele und Ziele, die den bedauernswerten Ist-Zustand baldmöglichst und dauerhaft verändern könnten. Für Wirtschaft und Industrie, die auf eine Kernsanierung der Gesellschaft gerne verzichten würden, stellen sich in dieser Situation vergleichsweise pragmatische Fragen. Wie konkurrenzfähig ist der Standort Deutschland im Kreis der großen Industrienationen? Gibt es positive Entwicklungsperspektiven? Und lohnen sich hier noch Investitionen – heute, morgen oder wenigstens in den nächsten Jahren?

Einige Antworten liefert nun der Innovationsindikator Deutschland, der im Auftrag der Deutsche Telekom Stiftung und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie nach 2005 zum zweiten Mal berechnet wurde. Das federführende Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat diesmal 17 (statt 13) Industrienationen miteinander verglichen und sieht die Bundesrepublik „mit leichten Fortschritten“ auf Platz sieben des aktuellen Rankings. Die Vereinigten Staaten stellen demnach das innovationsfreudigste Land, gefolgt von Finnland und Schweden. Vor der Bundesrepublik konnten sich noch die Schweiz, Dänemark und Japan platzieren, während Spanien und Italien abgeschlagen auf den Rängen 16 und 17 landeten.

Der Indikator vergleicht die genannten Länder auf insgesamt zehn Ebenen. Neben den „Akteuren“ Gesellschaft, Unternehmen und Staat beschäftigte sich das Autorenteam um den Berliner Ökonomen Axel Werwatz mit sieben Rahmenbedingungen eines „Innovationssystems“: Bildung, Forschung und Entwicklung, Umsetzung, Finanzierung, Vernetzung, Nachfrage sowie Wettbewerb und Regulierung.

Made in Germany: Standortvorteile und Defizite

Die Ergebnisse waren absehbar und fallen folgerichtig wenig überraschend aus. Deutschland punktet im Bereich der Hochtechnologie und genügt auch bei der marktgerechten Umsetzung von Innovationen und der Vernetzung zwischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen internationalen Standards und dem alten Erfolgsslogan „Made in Germany“. Bundesländer wie Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen erzielen bei den Indikatoren Umsetzung sowie Forschung und Entwicklung Spitzenwerte. Beide zeigen aber auch, dass Deutschlands größtes Defizit nach wie vor im Bildungsbereich liegt. Die Autoren haben hier die „gravierendste Schwäche des Landes“ ausgemacht und bemängeln nicht nur die finanzielle Ausstattung der Universitäten und Fachhochschulen, sondern auch die Qualität der Schulbildung, den Mangel an effektiven Weiterbildungsangeboten oder die Anzahl qualifizierter Hochschulabsolventen. Fazit: Deutschland belegt in Sachen Bildung nur den 11. Platz.

Erkennbare Mängel gibt es auch im Bereich Wettbewerb und Regulierung, und wenn es um die Beteiligung von qualifizierten Frauen am Innovationsprozess geht, sorgt Deutschland ebenfalls nicht für positive Schlagzeilen, obwohl Frauen nun schon seit den 90er Jahren rund die Hälfte aller Hochschulabsolventen stellen. Darüber hinaus fehlt es dem Siebtplatzierten ganz offenbar am Mut zum Risiko. Nach dem Kollaps des Neuen Marktes haben Unternehmensgründer noch mehr Probleme als je zuvor, das notwendige Startkapital aufzutreiben und sich anschließend gegen die Unzahl bürokratischer Bestimmungen und Regulierungsgelüste durchzusetzen.

Trotz dieser Mängel gibt der Gesamtbefund Anlass zur Hoffnung. Deutschland hat den Anschluss an die Weltspitze keineswegs verloren und in einigen Bereichen noch immer Führungspositionen und Vorbildfunktionen zu verteidigen. Außerdem schließen China und Indien nach Einschätzung des DIW doch nicht so schnell zu den führenden Industrienationen auf, wie zeitweise erwartet wurde.

Trotz ihrer beachtlichen Entwicklung bei vielen Inputindikatoren der Innovationstätigkeit, weisen die Ergebnisse zu internationalen Fachpublikationen und Triadepatenten daraufhin, dass gegenwärtig beide Länder noch nicht auf breiter Front an die internationale Innovationsspitze heranreichen. Auf dem Weg dorthin, verfolgen China und Indien deutlich unterschiedliche Wege und sehen sich deutlich unterschiedlichen Herausforderungen gegenüber.

Innovationsreport 2006

Auf dem Weg zur schöpferischen Zerstörung

Gegen diese Gesamtanalyse ist wenig zu sagen, zumal sie – wie bereits erwähnt – kaum neue Fakten enthält und im Wesentlichen auf lange veröffentlichten Untersuchungen basiert. Was also will uns die deutsche Wirtschaft mit dem Innovationsindikator sagen? Vermutlich gar nichts, denn die eigentlichen Ansprechpartner sind ganz offenbar die politischen Entscheidungsträger, die mithilfe immer neuer Rankings motiviert werden sollen, die Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Industrie noch freundlicher zu gestalten als sie ohnehin schon sind. BDI-Präsident Jürgen R. Thumann ließ anlässlich der Vorstellung der aktuellen Studie jedenfalls wenig Zweifel daran, wie er sich Deutschlands Annäherung an die Weltspitze vorstellt.

Erstens: Wir sind gut im Bereich der Hochtechnologie, müssen aber Spitze werden. Insgesamt befindet sich Deutschland aber auf dem richtigen Weg. Zweitens: Wissenschaft und Wirtschaft müssen enger zusammenarbeiten. Die Forschungsprämie kann einen guten Beitrag dazu leisten. Drittens: Unser Bildungssystem braucht dringend mehr Wettbewerb und muss stärker zur Selbständigkeit ausbilden. Wir brauchen Wissensunternehmen statt Bildungsanstalten.

Jürgen R. Thumann

Thumanns Stellungnahme erinnert schwungvoll daran, im welchem Sinne Joseph Schumpeter den Begriff der Innovation vor mehr als einem halben Jahrhundert verwendete. Schließlich war schon der umstrittene Ökonom der Überzeugung, „dass jemand grundsätzlich nur dann Unternehmer ist, wenn er eine neue Kombination durchsetzt“ und die ökonomische Gesamtentwicklung am besten als Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ beschrieben werden könne.

Wer bei jeder Gelegenheit von Hochtechnologie und Spitzenforschung schwärmt und Bildungsanstalten durch Wissensunternehmen ersetzen möchte, zielt in eben diese Richtung. Universitäten und Fachhochschulen sind dann nur noch Ausbildungsbetriebe für Wirtschaftsunternehmen, die sich ohne Gängelung durch Politik oder Gesellschaft frei auf dem Weltmarkt bewegen.

Dass eine solche Zukunftsvision für den Bundesverband der Deutschen Industrie besonders reizvoll ist, verwundert kaum. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl der Bundesbürger ist allerdings der Meinung, dass bei der Gestaltung der nächsten Jahre und Jahrzehnte auch Persönlichkeits- und Charakterbildung, Ideen von Chancengleichheit, Generationengerechtigkeit und sozialem Zusammenhalt eine Rolle spielen sollten.

Aktionismus und Worthülsen

Der Begriff Innovation taugt deshalb nur bedingt für die aktuelle Reformdiskussion. Zwar beschreibt er einerseits die – real vorhandene – Notwendigkeit von weitreichenden Erneuerungen und Umstrukturierungsprozessen, postuliert aber andererseits einen wertfreien Aktionismus, der ausschließlich ökonomischen Zwecken dient und substanzielle Analysen überflüssig macht. Vor diesem Hintergrund erscheinen Wirtschaft und Industrie immer als Problemlöser und nie als Verursacher gesellschaftlicher Fehlentwicklungen.

Unter dem Imperativ der Innovation werden Gegenwartskrisen niemals aus begangenen Irrtümern oder aus Fehlentwicklungen oder Fehlentscheidungen erklärt. (...) Krisen sind in dieser Lesart immer und ausschließlich Resultate eines Novitätsmankos.(...) Für die Innovateure liegt die Rettung in der Zukunft des Nie-Dagewesenen. Jede Besinnung, jedes Innehalten, jedes Zögern ist darum verlorene Zeit, geradezu Sabotage gegen die vorwärts weisenden Rettungsbemühungen. Daher die Überstürzungen in den sensationellen Neuerungen, die immer rasender werdenden Innovationsschübe.

Marianne Gronemeyer: Immer wieder neu oder ewig das Gleiche. Innovationsfieber und Wiederholungswahn (Primus-Verlag 2000)

Vollends zur Farce wird der mit viel Pathos angekündigte Innovationsindikator, wenn man die BDI-Studie beiseite legt und einen Blick in die - vorwiegend magentafarbene - Hochglanzbroschüre wirft, die offenbar für das gemeine Publikum gedacht ist. Hier präsentiert sich Studienleiter Werwatz mit locker geschultertem Jackett und Erkenntnissen, die nicht zwingend das Prädikat bahnbrechend verdienen.

Innovationsfähigkeit ist ein Zehnkampf, bei dem es gilt, in allen Disziplinen gut abzuschneiden.

Axel Werwatz

Auch sonst gibt es viele bunte Bilder und Statistiken, Textbeiträge und Interviews von und mit Prominenten aus Wirtschaft und Politik, vor allem aber jede Menge Fettgedrucktes zum Auswendiglernen und Weitersagen. Hier eine kleine Auswahl.

Voraussetzung für Innovationen ist heute, dass Experten verschiedener Fachrichtungen zusammenarbeiten.
Prof. Dr. Heinz-Otto Peitgen, Gründer der MeVis-Gruppe.

Das Schwierigste ist, das erste Geld zu bekommen, um ein Produkt überhaupt entwickeln zu können.
Dr. Georg Heß, Gründer “Art of Defence”

Mit Blick auf heimische Nachwuchswissenschaftler gilt: Dass sie Auslandserfahrung sammeln, ist wünschenswert – allerdings kommt es darauf an, dass sie dann wieder zurückkommen.
Prof. Peter Gruss, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft

Ich denke, Unternehmen tun sich keinen Gefallen, wenn sie das Potenzial von Frauen nicht stärker nutzen.
Regine Stachelhaus, Hewlett-Packard Deutschland - Managerin des Jahres 2005

Wenn Deutschlands Wirtschaftskapitäne und Jungunternehmer mit solchen Plattitüden ins Rampenlicht gezerrt werden, steht es um den Standort und seine Innovationsfähigkeit vielleicht noch sehr viel schlimmer als bislang angenommen wurde ...