Eine Erfindung für die Globalpolitik

Auf dem Internet Governance Forum fand eine prozedurale Revolution statt - Deutschland und das Internet: noch immer ein Wintermärchen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das vor einer Woche in Athen zu Ende gegangene erste Internet Governance Forum (IGF) war ein Experiment, eine Innovation, von der niemand wusste, ob sie funktioniert. Das IGF betrete "unbekanntes Territorium" ("unchartered water") hatte UN-Generalsekretär Kofi Annan zu Beginn des IGF gesagt. Nach vier Tagen Diskussion in sechs Plenarsitzungen, knapp 40 Workshops mit mehr als 200 Vorträgen und nicht mehr überschaubaren bi- und multilateralen Gesprächen am Rande der Tagung über nahezu alle Aspekte der zukünftigen Internetentwicklung hat die Mehrheit der 1.500 Teilnehmer, die von Regierungen, der Privatwirtschaft, der Zivilgesellschaft sowie der technischen akademischen Community kamen, einen positive Bilanz gezogen. Das IGF funktioniert, es war ein Erfolg, es war sogar ein "außerordentlicher Erfolg" ("outstanding success") wie der sonst eher nüchtern urteilende Vorsitzende der IGF-Advisory Group, Kofi Annans Internet Berater Nitin Desai, am Ende sagte.

Das IGF war im Vorfeld von nicht wenigen als eine neue UN-Schwatzbude abgetan wurden. Da man sich beim Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) weder auf einem neuen völkerrechtlichen Vertrag zum Internet noch auf die Schaffung einer neuen UN-Internetorganisation einigen konnte, erschien das IGF für viele als ein weiterer substanzloser Kompromiss, den die internationale Staatengemeinschaft in den letzten Jahrzehnten immer wieder produziert hat. Das IGF erhielt vom WSIS zwar ein inhaltlich relativ präzises Mandat, aber keine Entscheidungsbefugnisse und erst recht kein Budget. Ein neuer Wolf ohne Zähne, ein armer noch dazu.

Eine prozedurale Revolution

Dabei haben die Kritiker übersehen, dass das Internet zuallerletzt eine starke Exekutive braucht. Das Internet braucht die Kollaboration und Kooperation aller Betroffenen und Beteiligten, nicht aber den kleinstmöglichen Kompromiss den Bürokraten hinter verschlossenen Türen aushandeln. Es war gerade die Befreiung vom Zwang, eine Konferenz mit einer eh nicht viel sagenden Deklaration zu beenden, die dem IGF in Athen die Dynamik gab und offensichtlich jetzt dabei ist, das Tor für eine neue Form von Globaldiplomatie aufzustoßen.

Das IGF war offen für alle Stakeholder: Regierungen, Unternehmen, Zivilgesellschaft. Es gab keinen gesonderte Namensschilder, es gab keine Sitzordnung im Plenarsaal. Ob Minister oder Menschenrechtler, Vorstandsvorsitzender oder Vordenker, alle hatten die gleichen Rederechte. Für eine von der UN veranstaltete Globalkonferenz ist das eine prozedurale Revolution, die so manchen Regierungsvertreter zunächst verwirrte und deren mittelfristigen Konsequenzen noch gar nicht abzuschätzen sind.

Nicht wenige Regierungen, einschließlich die der Europäischen Union, hatten im WSIS-Prozess angesichts der Tatsache, dass heute eine Milliarde Menschen das Internet nutzen und Billionen von Dollar jährlich über des Netz bewegt werden, immer wieder argumentiert, dass das Internet jetzt so wichtig geworden sei, dass nun auch die Regierungen eingreifen müssten. Dabei blieben die gouvermentalen Vorstellungen, wie denn ein solcher Eingriff auf globaler Ebene aussehen sollte, weitgehend nebulös. Man werde daran arbeiten, hieß es aus Regierungskreisen nach dem Tunis-Gipfel.

Die Botschaft des IGF zielt nun aber gerade in die andere Richtung. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Das Internet sei viel zu wichtig als das man es alleine den Regierungen überlassen könne. Regierungen haben natürlich eine Rolle zu spielen, aber wie auch Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft müssen die spezifischen Verantwortlichkeiten nicht gegeneinander, sondern miteinander wahrgenommen werden. Wie ein solches neues Miteinander gestaltet werden kann, ist dabei die weitaus spannendere Frage als die, wer denn nun wem über- oder untergeordnet ist und die letztendliche "Kontrolle" über das Netz der Netze ausübt.

Das Innovative am IGF ist, dass es ein neues Modell für die Entwicklung von Politiken zur Behandlung globaler Probleme repräsentiert. Regierungen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft diskutieren auf gleicher Augenhöhe miteinander. Bislang wurden und werden globale Menschheitsprobleme von Regierungen in zwischenstaatlichen Organisationen der UN oder der G 8 behandelt. Oder transnationale Unternehmen bestimmen in den Räumen, die durch globale De-Regulierung frei geworden sind, selbst, was sie tun und lassen. Beim IGF prallen nun diese beiden Ansätze - "governmental leadership" und "private sector leadership" - aufeinander und müssen sich überdies noch mit der Einmischung der Zivilgesellschaft sowie der technischen und akademischen Community auseinandersetzen.

Paradebeispiel Meinungsfreiheit

Paradebeispiel war dafür die Diskussion zum Thema Meinungsfreiheit im Cyberspace. Die vom Nik Gowing, TV Anchorman bei BBC World, moderierte Plenarsitzung wurde zu einer Art "Weltparlament", bei der alle Fragen auf den Tisch kamen. Der chinesische UN-Botschafter wurde gefragt, was er denn zu den Beschränkungen von BBC Online in China sage. Vint Cerf musste Googles China-Engagement erläutern, Ard Reilly and Fred Tipson von Cisco und Microsoft rechtfertigten ihre Geschäftspraktiken in China und anderswo. Minister gaben zu bedenken, dass man nicht nur an die Freiheit des Einzelnen, sondern auch an die Sicherheit eines Staates denken müsse. Catherine Trautmann, ehemalige französische Kulturministerin und jetzt Abgeordnete des Europäischen Parlaments, argumentierte für eine Balance zwischen verschiedenen schützenswerten Rechtsgütern, ohne dabei sagen zu können, wo die Grenze genau zu ziehen sei. Die Diskussion differenzierte, zeigte Grautöne und ging weit über die alltägliche Schwarz-Weiß-Malerei der Medien hinaus.

Und der beim BBC Hardtalk groß gewordene Gowing trieb die Diskussion weiter. Es seien ja nicht nur Regierungen, die die Meinungsäußerungsfreiheit beschneiden. Immer mehr Unternehmen würden unter dem Vorwand des Schutzes geistiger Eigentumsrechte errungene neue Freiheiten im Cyberspace wieder einschränken. Ist das Recht, Informationen zwischen Individuen zu teilen - das "right to share"- nicht Teil des in Artikel 19 der UN-Menschenrechtsdeklaration verankerten Informationsfreiheit? Und ist das End-zu-End-Prinzip des Internet nicht eigentlich die radikale Implementierung jenes wohl am meisten umkämpften Menschenrechts der historischen Deklaration von 1948?

Grundlegend neue Argumente kamen dabei nicht auf den Tisch. Neu aber war, dass sich die Kombattanten direkt gegenüberstanden, dass Regierungen, Unternehmen und Menschenrechtler nicht "unter sich" waren, sondern die Diskussion sich über die traditionellen Gartenzäune hinweg bewegte. Als der Fall der Verhaftung eines griechischen Bloggers bekannt wurde, der einen Link zu einer offensichtlich rechtswidrigen Website geschaltet hatte (Neuer Volkssport für Diktatoren: Jagt den Blog!), wiegelte der den Vorsitz führende griechische Minister zunächst ab. Der Fall sei ihm nicht bekannt. Daraufhin kam ein im Konferenzsaal sitzender Blogger mit seinem Laptop zum Podium und zeigte dem Minister Theodoros Roussopoulos die Website, die den Fall beschrieb. Die barsche Reaktion des Ministers, im Internet dürfe man keine Lügen verbreiten und wenn man es tue, müsse man die Konsequenzen tragen, löste sofort eine Debatte darüber aus, wer denn nun eigentlich bestimmen soll, was wahr und was falsch ist? Der griechische Minister, die chinesische Regierung, ein Gericht, die Nutzer, Microsoft, die WIPO oder die ISPs?

Es wäre naiv anzunehmen, dass eine solche Diskussion schnurstracks zu einem konkreten Resultat führt. Aber wenn in aller Öffentlichkeit Argumente ausgetauscht werden, Regierungen - auch aus dem Iran, Saudi Arabien oder Syrien - zuhören müssen, Unternehmen sich erklären, die Zivilgesellschaft ungeliebte Themen aufwerfen kann, dann entsteht eine neue Streitkultur, die langfristig nicht ohne sachliche Konsequenzen bleiben wird.

Eine Bühne zu haben, wo diesen Gegensätzlichkeiten auf den Tisch kommen, ohne dass man anschließend gleich einer Deklaration seine Zustimmung geben muss, ist ein großer Gewinn. Dies ermöglicht jeden ohne Gesichtsverlust seine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen und im Licht der Diskussion nationale Politiken, eingefahrene Geschäftspraktiken oder vorhandene Vorurteile zu überdenken.

Clash of Cultures: IGF als Runder Tisch?

Die durch das IGF hergestellte Kommunikations-Infrastruktur, die kein zentrales Entscheidungsgremium kennt, erlaubt es, eine primär an der sachlichen Herausforderungen orientierte Diskussion zu führen die nicht primär von nationale Interessen oder spezifischen Geschäftsmodellen diktiert wird. Das IGF kanalisiert und strukturiert praktisch einen "clash of cultures", das Aufeinandertreffen zweiter Diskussionskulturen, hier der diplomatischen Diskurs der Regierungen und dort die mehr interaktive Debatte von Unternehmen, Experten und engagierten Bürgern. Das IGF ist insofern eine Art "Runder Tisch", ein bisschen auch am Stil des Davoser Weltwirtschaftsforum orientiert, ergänzt aber um die in Davos auf der Straße stehende Zivilgesellschaft, die beim IGF mit im Plenarsaal und den Workshops sitzt.

Diese neue Form des Miteinanders öffnet möglicherweise die Türen für weitere neue innovative Bündnisse. Ohne dass es einen "Beschluss" gegeben hatte, formierten sich in Athen sogenannte "dynamische Koalitionen" zu Fragen wie Zugangsrechte zum Netz, Datenschutz im Cyberspace und Meinungsfreiheit im Internet. Diese "dynamic coalitions" sind keine neuen "pressure groups" sondern neue Formen des Zusammenwirkens aller drei Stakeholdergruppen: Regierungen, Unternehmen und Zivilgesellschaft.

Nicht jeder nimmt an allen teil, sondern jeder engagiert sich dort, wo er es für sinnvoll erachtet. Auf diese Weise wird Politikentwicklung praktisch von Kopf auf die Füße gestellt. Sie kommt "von unten", nicht "von oben". Was aus diesen "dynamischen Koalitionen der Willigen" herauskommt, wird spannend werden, denn sie brechen die bisherigen Strukturen der Globaldiplomatie, bei der Ausschüsse nach dem Proporzprinzip zusammengesetzt werden, auf und bereichern die politische Landschaft.

Damit wird die politische Struktur des IGF der technischen Architektur des Internet immer ähnlicher: diversifiziert und netzwerkartig. Im Zentrum des Internet sind die Root Server. Die sind wichtig aber lediglich mit technischen Funktionen ausgestattet. Sie sind mit den Name-Servern verbunden die ihrerseits mit den ISPs und Domainnameholdern vernetzt sind. Die eigentliche Musik aber spielt sich an den "Enden" ab, beim Nutzer, der dank des End-to-End-Prinzips des Internet gleichzeitig Sender und Empfänger, Konsument und Produzent ist.

Beim IGF sind die Eröffnungs- und Abschlussveranstaltungen so was wie die Root Server: Sie sind wichtig, aber haben eine mehr technische Funktion. Der Präsident des Gastgeberlandes erklärt das Forum für eröffnet und hochrangige Würdenträger haben eine Bühne, um sich zu zeigen. Die Plenarveranstaltungen mit ihren Sachthemen fungieren hingegen wie die Name Server, sie repräsentieren eine spezifische Domain auf noch relativ allgemeiner Ebene. Will man konkreter werden, muss man bei IGF in die Workshops gehen, wo es spezifisch zur Sache geht. Dabei werden die Workshops in Eigenverantwortung der Veranstalter organisiert. Das IGF hat also keine Kontrolle über den dort diskutierten Inhalt. Die eigentlichen langfristig innovativen Aktivitäten aber finden beim IGF wie im Internet "an den Enden" statt: in den Kaffeepausen, bei den Empfängen, den Abendessen im Strandrestaurant oder die ad hoc einberufenen Arbeitssitzungen von "dynamischen Koalitionen" in der Cafeteria.

Dank des Metcalfeschen Gesetzes wissen wir, dass der Wert eines Netzwerkes proportional im Quadrat mit der Zahl seiner Teilnehmer wächst. Es sind also 1.500 mal 1.500 Kontakte, die das IGF ermöglicht und die seinen Wert ausmachen. Und da diese Kontakte transdisziplinär und „multistakeholder“ sind, kommt genau dort die Dynamik her, die andere UN Konferenzen, bei denen ähnlich viele Menschen - allerdings meist nur aus einer Stakeholder-Gruppe - zusammenkommen, nicht haben. Man braucht nur nach Nairobi schauen, wo dieser Tage die UN-Umweltschutzorganisation über das Weltklima spricht, um die Differenz zu erkennen.

Nicht anders geht es der zwischenstaatlichen International Telecommunication Union (ITU), die ihrer alle vier Jahre stattfindende Vollversammlung im Anschluss an das IGF im türkischen Antalya durchführt. ITU-Generalsekretär Utsumi, der noch vor Jahren für die ITU die Hoheit über das Internet reklamiert hatte, erklärte nun bei seiner Eröffnungsrede in Antalya, nachdem er das IGF in Athen gesehen hatte, dass wohl die ITU-Strukturen nicht flexibel genug seien, um auf eine solche von unten kommenden Dynamik der Entwicklung reagieren zu können. Und er gab seinem Nachfolger mit auf dem Weg, diesbezüglich nachzudenken und die ITU zu flexibilisieren.

Deutschland und das Internet: Ein Wintermärchen

Die deutschen Medien haben dem IGF kaum Aufmerksamkeit geschenkt. ARD und ZDF hatten sich gleich gar nicht akkreditieren lassen. Spiegel-Online publizierte eine Agenturmeldung und die FAZ erwähnte das IGF im Nachrichtenteil. Die "Süddeutsche Zeitung" hatte immerhin im hinteren Teil einen Zweispalter, wobei der Autor offensichtlich die Idee des Forums nicht verstanden hatte. Er mutmaßte, dass über die eigentlichen Fragen der Kontrolle über den Root "hinter verschlossenen Türen" verhandelt würde. Dabei hätte er nur zu Milton Muellers Workshop über die Root Server gehen brauchen, um sich mehr Klarheit zu verschaffen. In Athen gab es keine "verschlossenen Türen". Einzig und allein Monika Ermert von Heise Online hielt die deutsche Öffentlichkeitauf dem Laufenden.

Die deutsche Bundesergierung war auf niederer Ebene vertreten, deutsche Unternehmen kaum. Sie hatten sich offensichtlich von der Kapitulationserklärung des deutschen Verlegers Herbert Burda anstecken lassen, der mit Blick auf die neue Welle innovativer Internetdienste gesagt hatte, dass deutsche Verlage hier nicht mithalten könnten. In der Tat sind nicht nur die großen Internet-Unternehmen von gestern - Google, Yahoo, Microsoft, eBay -, sondern auch die neuen Stars von heute - MySpace, YouTube, Facebook - durch die Bank amerikanische Projekte. Diese Schieflage aber politisch durch zwischenstaatliche Internetverhandlungen korrigieren zu wollen, wie manche in Brüssel offensichtlich träumen, ist nicht nur der falsche Weg, sondern auch eine Illusion. Niemand wird einem die Aufgabe abnehmen, eigenständige Initiativen zu entwickeln und einfach "besser" zu sein.

Immerhin gab die Bundesregierung beim IGF einen Empfang, dessen Zweck aber weniger die Förderung des Multistakeholder-Dialogs als die Beförderung der Wahl von Michael Kurth zum ITU-Generalsekretär war. Die später noch korrigierte Ankündigung, zu dem Empfang im Athener Luxushotel Westin seien nur Regierungsvertreter willkommen, löste im IGF-Plenarsaal Buhrufe aus. Viel hat der Empfang nicht genutzt. Zehn Tage nach der verkorksten Party im griechischen Athen verlor Kurth bei der ITU-Vollversammlung im türkischen Antalya im dritten Wahlgang mit 60 zu 95 Stimmen gegen den Malinesen Hamadou Toure.

Im deutschen Fußball gibt es immer mal wieder "junge Wilde", wo aber sind die jungen deutschen Wilden, die sich der neuen globalen Möglichkeiten des Internet bedienen? Offensichtlich wandern die aus, wie die "Zeit" neulich mit Verweis auf einen der drei "YouTube"-Gründer berichtete, dessen Eltern Anfang der 80er Jahre erst aus der DDR und dann aus der BRD in die USA vertrieben wurden. Deutschland und Fußball, das war ein Sommermärchen. Deutschland und das Internet, das ist noch immer ein Wintermärchen.