Das Inland des Empire

Dystopische Vision einer Welt ohne Kinder: "Children of Men"

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Alfonso Cuarons neuer Film "Children of Men" ist ein rasant eleganter Science-Fiction, zugleich ein Paranoia-Thriller, der sich um Immigrantenabwehr und Geburtenrückgang dreht. Den vielen intensiven Bildern und den guten Ideen steht allerdings das Überwältigungsgetöse der Inszenierung, die naiv-doofe Geschichte und ein esoterisch angehauchter, kitschig-katholischer Symbolismus und Erweckungsgedusel entgegen. Die ästhetischen Potentiale des Films werden nicht genutzt, aufgeworfene Sinnfragen nicht beantwortet. Und auch warum man noch Kinder in diese Welt setzen soll, das vermag Cuarón nicht zu erklären.

Bild: (c)UIP

"Papa, why is it, Ken and Barbie don't have children?"
"Well, they don't fancy, having children yet."
"Come on Papa..."
"You'll ask, when you see them."
"Can you love each other and not have children?"
"I don't know, Julie, I don't know. May be you can."
"And have children, if you don't love each other?"
"Well, maybe, they do what they like, I have no idea."

Dialog aus dem Film "Ordinary Man"

Woher kommt es eigentlich, dass sich gerade England so sehr als Schauplatz für die Vision schöner, schrecklich neuer Welten anbietet? Orwell ("1984"), Huxley ("Brave new world") und Bradbury ("Fahrenheit 451") schrieben auf der Insel ihre klassischen Horror-Visionen des 20. Jahrhunderts, die zugleich Entwürfe einer totalitären Zukunft sind. Früher schon verfassten mit Thomas Morus und Francis Bacon zwei Briten die ersten Utopien der Neuzeit, und auch im Kino waren es zuletzt mit "28 Days Later", "Code 46", "V For Vendetta" jenseits von Hollywood britische Regisseure und ihre Insel, die zum Schauplatz für negative Zukunftsentwürfe erkoren wurden.

Und schon 1990 führte Harold Pinters Adaptation von Margaret Atwoods Roman "The Handmaid's Tale" eine feministische Orwell-Variante vor, die eine Welt zeigt, die von rechten Fundamentalisten geprägt ist, in der Schwarze, Homosexuelle und Linke getötet oder in Todeslager deportiert werden. Kurz also: Dystopien, schwarze Zukunftsentwürfe, erscheinen als ein geradezu "typisch britisches" Genre par excellence.

Das jüngste Beispiel liefert jetzt zwar mit Alfonso Cuaron ein Mexikaner, doch sein Film "Children of Men", ein bitterer Science-Fiction, spielt in England im Jahr 2027, geht auf eine britische Vorlage zurück und ist auch produktionstechnisch ein hundert Prozent britischer Film, finanziert durch amerikanisches Geld (Universal Pictures), mit dem der Regisseur allerdings wesentlich freier als in Hollywood üblich machen konnte, was ihm vorschwebte.

Big-Brotherismen, Denunziation, Slums und eine "Selbstmord-Box" für den Massenmarkt

"Children of Men" ist ein rasant eleganter Science-Fiction, zugleich ein Paranoia-Thriller: Nach dem Roman von P.D. James (deutsch: "Im Land der leeren Häuser") zeigt der Film eine Welt im Zusammenbruch. Europa ist zerstört, Pandemien und Hungersnöte quälen die Menschheit, und die Menschen sind seit einiger Zeit unfruchtbar geworden. Es droht nichts Geringeres als die Auslöschung der Menschheit. Warum und wieso das geschah, interessiert den Film kein bisschen, er wirft dem Zuschauer ein paar entsprechende Vergangenheitsinformationsbröckel hin, und während der noch daran kaut, entwirft er mit schnellem Pinsel Skizzen einer Chronik der laufenden Ereignisse und ihrer Folgen.

Bild: (c)UIP

London sieht aus wie heute, ein paar hübsche technische Gimmicks wie digitalisierte Zeitungsanzeigen einmal ausgenommen, der "Evening Standard" erscheint weiterhin, die schwarzen Taxis allerdings wurden wie in Bombay durch Moped-Rikshas ersetzt. Big-Brotherismen begegnet man allerorten. Die S-Bahn wird - von wem? - mit Steinen beworfen. Und ständig tönen Ansagen und Aufforderungen der Polizei durch den öffentlichen Raum. Sie fordern, ebenso wie die Plakate an den Wänden, zur Denunziation aller Verdächtigen, Einwanderer wie Terroristen, auf. In den Wäldern leben die Unterklassen, Einwanderer und Passlose.

England ist von Todesstreifen und Konzentrationslagern durchzogen, die ein wenig an Guantanamo und ein wenig an deutsche KZ's erinnern (dass dann zwei Häftlinge Deutsche sind, ist ein kleiner böser Witz), und in denen Einwanderer gehalten werden, und Terroristen versuchen aus dem Untergrund auch die wenigen noch funktionierenden Reste der Gesellschaft zu zerstören. Ihre Bombenattentate scheinen an der Tagesordnung zu sein, genau wie Rassismus, eine omnipräsente Homeland Security und religiöser Fanatismus. Und in den barbarischen Einwandererslums an der Küste dominieren Islamisten.

Kurz: Die Welt ist ein grauer, düsterer Ort, so wenig lebenswert, dass längst eine "Selbstmord-Box" für den Massenmarkt legalisiert wurde, die den schönen Namen "Quietus" hat. England aber ist noch der eher lebenswerte Teil von ihr. "The world has collapsed; only Britain soldiers on," tönt die TV-Propaganda zum Trost aller Empire-Nostalgiker. Die hier aufgeworfenen Fragen sind allen Nachdenkens wert: Was würde mit uns psychologisch geschehen, wenn das Ende der Welt bevorstünde? Danny Hustons kunstliebender Intellektueller erklärt Theo, dass er nicht darüber nachdenkt, sondern sich einfach mit dem Ende abfindet.

Offenbar glaubt der Film, dass nur Kinder und zwar jedes Kind hier noch Hoffnung bedeuten kann. Denn als sich eine junge Einwanderin als schwanger entpuppt, knüpft der Film an dieses Ungeborene seinen Hoffnungsschimmer. Clive Owen spielt einen Mitarbeiter der Regierungsbürokratie, zugleich ein ehemaliger Aktivist einer gescheiterten Bewegung der Linken. Dieser Theo Faron ist ein desillusionierter Idealist, ein zynischer, aus Kummer trinkender und rauchender, existentialistischer Noir-Chrakter. Er hilft der Schwangeren bei der Flucht. Aber wohin will sie eigentlich fliehen? Zu einem mysteriösen "Human Project", einer Gruppe von Wissenschaftern, die auf einer Insel nach Überlebensmöglichkeiten der Menschheit forscht. Das ist der MacGuffin des Films, in der Bibel hieß es "Die Heiligen Drei Könige".

Am Ende ist Theo durch allerlei Gefahren hindurch erfolgreich. Das Kind wird geboren und der Film ist bald darauf zuende. Was jetzt passiert, wie das eine Kind die Menschheit retten könnte, und warum das gut wäre, erfahren wir nicht. Mitreißend und reißerisch bietet "Children of Men" unter - durchaus preiswürdigen - spektakulären Bildern und überaus ideenreicher Ausstattung - allein schon die Wohnung eines reichen Mannes (Danny Huston), der Picassos "Guernica" und Michelangelos "David" (mit metallener Fußprothese) vor der Vernichtung bewahrt, ist Gold wert - vor allem Spektakel und eine kitschige Weihnachtsgeschichte.

Meisterliche Momente, geniales production design und Löcher der Narration

Anfangs ist das durchaus noch ein hochinteressant anzusehender, poetischer und gut inszenierter, jedenfalls starker Film. Er gehört nicht in die Liga von "Matrix", aber er fordert immerhin auf, über den gegenwärtigen Zustand der Welt nachzudenken und tut dies voller geschickter, nicht übermäßig aufdringlicher Anspielungen auf die Gegenwart. Alles ist sehr traurig und sehr schön - auch dass die Handlung immer schon unplausibel ist, macht den Film nicht kaputt -, man sieht die Darsteller gern, zumal man hier nicht sicher sein kann, ob sie nicht trotz großen Namens schnell wieder aus dem Film verschwinden. Gelobt wird Michael Caine, der immer toll ist, aber hier als liebenswerter Althippie doch etwas arg chargiert.

Wirklich lobenswert ist hingegen das geniale production design, das auf den Ähnlichkeiten zwischen Jetzt und Später insistiert, nicht auf den Unterschieden, und diese ganz zurückhaltend in die Textur des Filmes einwebt. Auch filmisch hat "Children of Men" meisterliche Momente: Die Action-Szenen sind furios, aber immer zweckorientiert, sie dienen der Handlung und dazu, uns in die Szene zu versetzen. Kameramann Emmanuel Lubezki ("The New World") und sein Assistent George Richmond leisten herausragende Arbeit. Mehrfach kommt es zu minutenlangen, im Effekt dokumentarisch wirkenden Plansequenzen, zuletzt, als Theo auf der Flucht mit Kee und ihrem Baby durch Straßenkämpfe taumelt, durch ein Chaos aus Lärm, Qualm, Explosionen. Gelegentliche Manierismen wie Kunstblutspritzer auf der Kameralinse - die man selbstverständlich bei der Nachbearbeitung hätte herausnehmen können, die also absichtlich drin blieben - fallen da nicht ins Gewicht. Diese Kampfszenen erinnern in ihrer Intensität an Kubricks "Full Metal Jacket" und "Black Hawk Down".

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Trotz alldem fragt man sich am Ende, ob sich hinter dem, was man da gerade gesehen hat, hinter Bildern, die einen gefangen nehmen und unmittelbar mitreißen, nicht viel heiße Luft verbirgt. Zu groß sind die Löcher in Logik und Narration der Drehbuchautoren Cuaron und Timothy J. Sexton. Das Szenario wird nicht gut erklärt, sondern schlecht begründet. Der Ausbruch der Unfruchtbarkeit ist nie erklärt, das "Human Project" bleibt völlig vage, ähnlich wie der globale Kollaps. Der Menschheit, und das ist eine eklatante Schwäche des Films, fehlt hier nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit. Das Spannendste des Films sind eigentlich die Randgeschichten, seine ideellen Kulissen. Davon möchte man mehr sehen, mehr wissen, davon erzählt uns der Film aber nichts.

Auch die Idee, die Sechziger Jahre als die letzte Epoche zu entwerfen, in der die Menschheit noch eine Zukunft und ein universales politisches Projekt hatte, ist reizvoll und des tieferen Nachdenkens wert, auch sie wird hier aber zur Kulisse und verschenkt.

Eine gigantische Bestätigung all unser Denk- und Fühl-Klischees

Politisch ist "Children of Men" durch sein Thema. Aber um wirklich politisch zu sein, um als ernsthafter Kommentar zu Gegenwartsfragen zu taugen, müsste der Film auch zeigen, was das Chaos geschaffen hat, und warum es zu den Folgen führte, die man im Film besichtigen kann. Würde "Children of Men" in 210 oder 2100 Jahren spielen, könnte man jede noch so krude Annahme akzeptieren, da er aber in 21 Jahren spielt, geht das nicht.

Cuaron gibt der "Multitude" (Hardt/Negri) und der neuen Biopolitik unserer globalisierten Welt ein Gesicht, steigert den neoliberalen Geist der ökonomischen "Rationalisierung" zu einer Welt, in der keine Rücksicht mehr auf niemanden existiert, die von Umweltkatastrophen und Migrationschaos geprägt ist und von einem kryptofaschistischen Regime regiert wird - eine mögliche Variante des Zusammenbruchs des Ancien Regime des Westens. Aber so wie die Kinderlosigkeit derzeit die wonnevoll gepflegte und auch von ihren Vertretern allzu oft praktizierte Schreckensvision aller Bildungsbürger ist, ist genau dies ja auch eine Schreckensvision, die von den Linksliberalen (und Bildungsbürgern) dieser Welt ungemein gern aufgenommen wird, die eigentlich alles bestätigt, was man gerne glauben mag, wenn man die Differenzierungsmaschine seines Verstandes einmal kurz ausschaltet.

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Das wäre dann aber auch nicht weiter schlimm. Kino lebt unter anderem von dem Genuß, den es bereitet, wenn unsere Vorurteile und Vorannahmen bestätigt werden. Aber was bietet der Film darüber hinaus? Welches unter all unseren Vorurteilen stellt "Children of Men" infrage? Die hanebüchene Story lassen wir hier ein weiteres Mal weg, die Tatsache, das dystopische Filme dort, wo sie realistisch sein wollen, sich oft weitaus besser begründen, zum Beispiel die genannten, und in manchem ähnlichen "28 Days Later" und "Code 46". Aber das Szenario selbst ist nicht besser.

Bezeichnend, dass die Welt der Zukunft, die Cuaron zeichnet, gar nicht so zukünftig ist, sondern sich aus Nachrichtenbilderschnipseln der Gegenwart zusammensetzt. Der Film jongliert ausschließlich mit Phänomenen, die wir aus den täglichen Nachrichten kennen: Terrorismusverfolgungswahn, ein autoritärer Überwachungsstaat, die Beschränkung der Bürgerrechte, Randale Jugendlicher in den Vorstädten des Westens, Flüchtlingsströme, die nach Europa drängen. Im Grunde ist "Children of Men" damit nichts weiter als eine gigantische Bestätigung all unser Denk- und Fühl-Klischees, und in 30, vielleicht schon in 20 Jahren wird man diesen Film lesen als Ausdruck und Spiegel allen Gedankenmülls unserer Zeit, all ihrer Ängste: Böse Araber, faschistische Regierungen, Terror an jeder Ecke und Unterschichtsmassen, die den Mittelstand bedrohen.

Allegorien, krude Symbolismen und Fragmente eines Gebets

In der letzten halben Stunde dreht der Film dann wirklich durch, verbindet Hysterie und Katholizismus zu einem kruden Symbolismus: Soldaten knien nieder vor dem Neugeborenen und ballern dann aber gleich weiter, Owen stirbt auch noch und das rettende Schiff heißt "domani". Dazu passt, dass P.D. James eine Autorin ist, die mit ihren konservativen, stark anglikanischen Überzeugungen nicht hinterm Berg hält. Ihr Roman ist christlich-moralisch gemeint, soll ein Gottesurteil beschreiben: Eine kinderlose Welt ist sündhaft, verworfen und des Todes. Sie muss verrohen und schließlich implodieren.

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Analog zum Buch enthält auch der Film zahlreiche theologische Referenzen, strotzt von teilweise sehr plumpen und schwer erträglichen religiösen Metaphern und Symbolismen: "Fische" nennt sich die kinderfreundliche Untergrundgruppe, und bekanntlich war der Fisch das geheime Erkennungszeichen der Christen im römischen Untergrund zur Zeit der Verfolgung. Der Held heißt Theo, dies ist der altgriechische Begriff für "Gott". Die Messias- und Hoffnungsmutter des Films heißt "Kee" - für "key"? Das Boot, das Hoffnung heißt, hat die Rolle der Heiligen Drei Könige. Und John Taveners Soundtrack heißt "Fragment of a Prayer".

Überhaupt ist die Handlung eine Allegorie auf die Evangelien, die Geschichte von Christi Geburt. Auch Kee und Theo "finden keine Herberge", später knien die Soldaten wie die Hirten auf dem Feld. Und schon vorher erklärte eine Nebenfigur Theo und den Zuschauern: "Euer Kind ist das Wunder, auf das die ganze Welt gewartet hat." Zugleich ist der Film aus Theos Sicht eine Reise zu dessen Erlösung und spiritueller Wiedergeburt: Rein innerlich toter Mensch muss wieder zu leben lernen. Diese Reise wird zum Hinterrund der Geschichte von der Ankunft eines neuen Messias. Theo ist ihr Moses und folglich stirbt er, bevor er das gelobte Land "Tomorrow" sieht. So wirkt der Film wie ein religiöser Wandteppich, der die Apokalypse in grellen Farben und ein wenig voyeuristisch ausmalt, um dann bei der Darstellung von Gottes Wort ästhetisch zu kapitulieren.