Ein echter Loser

Die liberale Gesellschaft produziert ihre jugendlichen Ego-Shooter in Serie

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Hoch schlagen derzeit wieder mal die Wellen der Empörung angesichts dessen, was sich an der Schule einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt ereignet hat. Das Bild, das die Öffentlichkeit von dem jugendlichen Möchtegern-Killer gemalt bekommt, gleicht dem seines prominenten Vorgängers Robert Steinhäuser: Auch er hatte Probleme mit Schule, Noten und der Adoleszenz; auch er fühlte sich von seiner Umfeld unverstanden und sozial ausgegrenzt; auch er fand eine Ersatz- oder Parallelwelt im Netz, die ihm jene soziale Anerkennung verschaffte, die er im täglichen Umgang mit Seinesgleichen vermisste; auch er hatte offensichtlich kein Problem, sich Zugang zu Waffen zu verschaffen; und auch er hörte am liebsten Death Metal und gab sich exzessiv hinlänglich bekannten Baller- und Killerspielen hin.

Gesellschaftliche Reflexe

Dass Politiker und Publizisten sofort ein Verbot von Killerspielen fordern würden, war am Tag danach ebenso zu erwarten wie die wohlfeile Forderung nach mehr Psychologen und Betreuung an den Schulen. Von der Verantwortung der Eltern ihren Kindern gegenüber, von Verboten und Aufsichtspflicht oder von frühkindlicher Prävention, die schon im Kindergarten und in der Grundschule an- und einsetzt, um Kindern entsprechende Signale und Vorgaben zu geben, war dagegen weniger zu hören.

Deswegen werden all diese öffentlichen Erklärungen und Reflexe, die man jetzt zu hören bekommt, insgesamt wenig helfen. Zu vertrackt und verzwickt ist die Lage. Nicht nur, weil uns allen die Sensibilität für das Richtige und Notwendige in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen abhanden gekommen ist, der Sinn für die Rücknahme des Ego, die Verletzlichkeit und Freiheit des anderen. Sondern vor allem auch, weil solche Taten durch die Pop- und Massenkultur, durch ihre Symbole, Codes und Rituale, aber auch durch die gesellschaftliche Akzeptanz von symbolischer, anarchischer und ästhetischer Gewalt in Bild, Wort und Ton, „indirekt“ gefördert und befeuert werden.

Damit wir uns nicht falsch verstehen. Keinesfalls wird jemand durch Pop oder Ballerspiele zum Killer, Schläger oder Vergewaltiger. Dafür bedarf es schon erheblich mehr als das. Zumal es auch noch viele andere Fluchtwege gibt, um seiner Frustration über eigene Unzulänglichkeiten Ausdruck zu verleihen: Drogen oder Konsum, Depression oder Magersucht. Sicher ist aber auch, dass Mode, Musik und Kunst längst eine Vielzahl von Insignien bieten, die jugendliche Amokläufer zu ihren explosiven Taten inspirieren. Wer da nicht gelernt hat, zwischen Symbolischem und Realem feinsinnig zu unterscheiden, zwischen RestistanX und Person, Matrix und Alltagswelt, wird unweigerlich in diesen Genres Inspirationsquellen und Anhaltspunkte finden, um seine Wut auf sich und/oder andere zu kanalisieren und durch entsprechende Taten zu „veredeln“. Jürgen Kaube hat das richtig und sehr genau beobachtet.

Wider besseren Wissens

Sicher hätte man auf die Verlautbarungen und Ankündigungen, die der Täter im Netz gemacht hat, hören und möglicherweise auch im Umfeld (Familie, Freunde, Bekannte) besser und effizienter reagieren können. Aber da hätte man heutzutage viel zu tun, würde man das alles für bare Münze nehmen, was dort gesprochen, geschrieben oder gesendet wird. Weshalb die Forderung nach einer „Internetpolizei“ mehr als hilflos wirkt. Wer im Netz „lebt“ und/oder mit ihm „arbeitet“, weiß, welche Unzahl an sonderlichen Gestalten und Besserwisser sich dort tummelt und welche abstruse Gedanken und Wünsche sie verbreiten oder dort ausleben. Erinnert sei nur an den Kannibalen von Rotenburg.

Andererseits schüttelt man doch immer wieder den Kopf, wenn man sieht, was Computerspielproduzenten so an „Stoffen“ für Jugendliche produzieren, wie fahrlässig Kontrolleure der USK mit Altersbegrenzungen oder Indizierungen umgehen und mit welcher Verve die Liberalen in diesem Land diese Art von "Meinungs- und Informationsfreiheit" verteidigen. Und zwar wider besseren Wissens. Denn die sich für diese Spiele so mächtig ins Zeug legen, werden wohl kaum in Jubelstürme ausbrechen, wenn sie merken, dass ihre zwölf- oder vierzehnjährigen Kinder oder Enkel sich damit vor dem Bildschirm vergnügen.

Um den Grad der kulturellen Transformation zu erkennen, den diese Gesellschaft aktuell durchmacht, ist ein Blick auf die 1960er und 1970er Jahre ebenso erhellend wie hilfreich. Er zeigt nicht nur, wie emotional abgestumpft und sozial verroht ein nicht unerheblicher Teil von Kindern, Jugendlichen (und auch Erwachsenen) ist, die sich Tag für Tag und das auch noch stundenlang solches Zeug „reinziehen“, sondern wie unsensibel und gefühllos auch jene sein müssen, die das herstellen, bewerten und hinterher zum Verkauf und Konsum feil bieten.

Man vergleiche nur einmal Edgar Wallace- und James Bond-Filme von damals mit denen von heute. Oder man gucke sich nochmals all die Italo-Western, Oswald Kolles, Hausfrauen- und Schulmädchen-Reports auf VOX oder Kabel Eins an, die dort zur Prime time laufen. Dann wird das ganze Dilemma der modernen und moralisch entsicherten Gesellschaft deutlich, der es offenbar höchstes Vergnügen bereitet, sich immer noch Blutrünstigeres und Ekelerregendes, Gewalttätigeres und Schockhafteres auszudenken und zu kommunizieren.

Damals durfte man Blacky Fuchsberger, Clint Eastwood oder Sean Connery erst als Sechzehnjähriger bei der Jagd nach dem Mörder folgen. Das schlussendliche Pengpeng von damals rührt heute nur noch zum Kopfschütteln oder erzeugt höchstens noch müdes und gelangweiltes Gähnen. Und erst als Achtzehnjähriger durfte man im Kino Frauenbrüste und vereinzelt Schamhaare unverhüllt betrachten, während die Kamera beim angedeuteten Kopulieren der Geschlechter dezent weg- und abblendete. Mittlerweile scheint man offenbar kein Problem mehr damit zu haben, Zwölfjährigen Sex-, Folter- und Killerszenen (wie beim aktuellen Bond) zuzumuten.

Versperrte Ausgänge

Bevor die westlichen Gesellschaften dem Pazifismus und dem Free Flow of Information huldigten, wussten sie – zynisch gesagt - noch Mittel und Wege, wie sie mit solch wütenden Jungmännern umgehen und sich ihrer kostengünstig entledigen konnten. Man schickte sie entweder in den Krieg, an die Front oder wenigstens für ein paar Jahre in die Armee. Wurden sie dort nicht gleich entsorgt, so wurden sie doch zumindest und in aller Regel gedrillt, geschliffen und ihr Heißsporn abgekühlt.

Heute, in der postheroischen, moralisch nivellierten Versorgungsgesellschaft, sind diese Ausgänge verstopft. Die Jungmänner suchen sich die Opfer ihrer Wut und Frustration in ihrer näheren Umgebung. Jeder kann ihr Tun und Treiben in der U-Bahn, im Kiez oder an den Schulen beobachten, wenn er willens ist und die Augen davor nicht verschließt. Hans Magnus Enzensberger hat diesem modernen Typus des radikalen Verlierers im Sommer eine kleine psychosoziale Studie gewidmet. Auch Wilhelm Heitmeyer ist beizupflichten, wenn er in der SZ konstatiert, dass „Opfer sein“ unter Jugendlichen inzwischen als schlimmste Demütigung gilt oder empfunden wird. Für sie, die Opfer, hat man nur noch Verachtung übrig oder, wie im Falle der vergewaltigten vierzehnjährigen Stefanie, bestenfalls Mitleid und Anteilnahme. Mit ihrer Art der der sozialen Für- und moralischen Ansprache, aber auch mit ihrer uneinlösbaren Art des Gerechtigkeitsversprechens für alle, produziert die gleichmachende, friedensbewegte und humanitätstrunkene Gesellschaft jene Täter, vor deren Taten sie dann anschließend fassungslos steht und sich überrascht, entsetzt und verwundert die Augen reibt.

Dass der Täter nicht nur ein emotional verwirrter Geist (wie unter Pubertierenden in diesem Alter üblich), sondern obendrein auch ein „echter Loser“ war, hat er selbst auf eindrucksvolle Weise demonstriert. Nicht einmal seine Tat hat er, anders als sein prominenter Vorgänger, „ordentlich“ hingekriegt - trotz großmäuliger Ankündigung im Netz. Zum Glück für jene, die seine Opfer gewesen sind oder hätten sein können.