Die Heuchelei der neu aufgelegten Gewaltdebatte

"Killerspiele" sind ein Nebenschauplatz der Militarisierung - Populistische Zensurparolen zielen nur auf Symptome eines aggressiven Gesellschaftsmodells

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Das virtuelle Abknallen von Menschen am Computer ist eine der vielen Ausdrucksformen in einer Kultur, die auf das soziale Erledigen von Menschen mit Zynismus reagiert und sich global in millionenfachem Massenmord übt. Selektive Verbote für Produkte der Unterhaltungsindustrie sind Lieblingsforderungen von Politikern, die ihrer eigenen Moral ganz gewiss sind und ansonsten in der Militarisierung der Massenkultur kein Problem sehen.

Aus traurigem Anlass sind die „Killerspiele“ wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt worden. Fürsprecher dieser Unterhaltungsprodukte haben nur wenige Argumente auf ihrer Seite. Dass Mediengewalt – zumal wenn sie zur dominanten „Kunstform“ aufsteigt – generell wirkungslos bleibe, kann in einem seriösen Diskurs wohl kaum noch vertreten werden.

In den Großproduktionen der Unterhaltungsindustrie ist der Kult der Waffe nahezu obligat. Er wurzelt – historisch gesehen – in einer Hauptgestalt von „Amerikanismus“. In diesem Waffenkult wird – analog zur Heiligsprechung des Kapitalismus – Freiheit mit dem individuellen (und kollektiven) „Recht“ auf Gewaltausübung verwechselt. Killerspiele sind ein Problem; doch ein viel größeres Problem sind die moralischen Defizite, die durch lautstarke Verbotsforderungen kaschiert werden.

Politiker, die zu besseren Zeiten und mit Hilfe von Parteiapparaten den Aufstieg geschafft haben, belehren heute die kleinen Leute, sie sollten sich gefälligst zusammenreißen. Derweil fragen sich Jugendliche und ihre Eltern, was nach der Schule kommt. Erwerbsarbeit wird zur Mangelware in unserer Gesellschaft, und eine drastische Verschlimmerung dieses Zustands ist abzusehen.

Unverdrossen jedoch verbreitet die herrschende Politik in ihren Moralpredigten, der anständige Bürger solle gefälligst arbeiten gehen und nicht einen auf Lauschepper machen. Im Einzelfall werben Politiker in ihrem Wahlkreis mit einem Einsatz für das gemeine Volk, weigern sich dann aber auf höherer Ebene, die Überweisungen von mächtigen Wirtschaftskomplexen auf ihr Konto offen zu legen. Auch in einer Pyramide, die am oberen Ende immer spitzer wird, verlagert sich der Druck nach unten. Das Bedürfnis, Druck abzulassen, wächst. Es stellt sich übrigens die Frage, ob die rücksichtslosen Gewinnermanieren in kommerziellen Werbeausstrahlungen nicht vielleicht mehr gesellschaftliche Gewalt nach sich ziehen als Killerspiele.

Sanktionierung des Kriegs und Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen

Neben der subtilen und offenen Gewaltausübung durch die ökonomischen Verhältnisse stehen Gewaltvoten, die sich auf das globale Killerspiel „Krieg“ beziehen. Darauf möchte ich mit diesem antimilitaristischen Beitrag zur aktuellen Debatte aufmerksam machen. Sehr deutlich trug im Juni 2000 Generalleutnant a. D. Jürgen Schnell, Hochschullehrer für die Bundeswehr, seine These von der Zukunftsträchtigkeit des Krieges vor (taz, 7.11.2006):

Wenn der Krieg von Anfang an zur Geschichte der Menschheit gehört, dann ist anzunehmen, dass der Krieg überwiegend positive Funktionen erfüllt. Wäre es nicht so, dann hätte die Evolution sicherlich längst dafür gesorgt, dass der Krieg als Phänomen verschwunden wäre. [...] Die Natur ist offensichtlich von A bis Z auf Wettbewerb angelegt, und Kriege sind ihrem Wesen nach spezifische gewaltsam ausgetragene Formen des Wettbewerbs zwischen sozialen Großgruppen. Worum wird konkurriert? Im Wesentlichen um Macht, Ressourcen und die Vorherrschaft der eigenen kulturellen Identität.

Wir sollen, so meinen Politiker wie konservative Kommentarschreiber, endlich Mut haben, offen zu „unseren“ Interessen und zur Sicherung „unseres“ nationalen Wohlstands zu stehen. Entsprechend wandern Themen wie freie Handelswege und Märkte, Rohstoffe, Energieversorgung oder Migration aus den Ressorts Wirtschaft, Außenpolitik, Entwicklungshilfe etc. heraus und landen in Regierungsdokumenten für die Militärplanung. Dass es für diese Verlagerung im Grundgesetz gar keine Basis gibt, bereitet den Verantwortlichen kaum Bauchschmerzen.

Bei meinem Besuch einer Abiturklasse im Oktober 2006 hielt es ein Jugendlicher für völlig legitim, dass technologisch überlegene Länder weltweit ohne Einschränkungen ihre Interessen durchsetzen. Die „anderen“ seien schließlich selbst schuld, wenn es ihnen an ebenbürtiger Ausstattung fehle. Ich weiß nicht, ob solche Ansichten mehr durch Computerspiele oder durch die wachsende gesellschaftliche Akzeptanz für ganz neue Militärdoktrinen geweckt werden.

Jährlich sterben 25 oder gar 30 Millionen Menschen auf unserem Planeten an Hunger und Unterversorgung. Der UN-Ernährungsbeauftragte Jean Ziegler spricht angesichts der Gleichgültigkeit im „Imperium der Schande“ und angesichts der benennbaren Profiteure von einem vorsätzlichen Massenmord. Es handelt sich hier allerdings nicht um ein virtuelles Szenarium am Computerbildschirm, sondern um Realität. Die Empörung bleibt aus. Warum werden realistische Lösungsmöglichkeiten bezogen auf das unaufhaltsame Massensterben so hartnäckig ignoriert und die erforderlichen Mittel lieber der Rüstungsindustrie zugespielt?

Bei der Suche nach Antworten benötigen wir dringend Forschungen über die Psychogramme und Interessensprofile, die in der Politik vorherrschen. Wir brauchen auch Erkenntnisse über Realitätsverlust, Abstumpfung und Apathie von Politikern, die sich von den prognostizierten Folgen des Klimawandels auf heute noch nicht geborene Menschen völlig unbeeindruckt zeigen. Auch hier geht es, wie UN-Generalsekretär Kofi Annan unlängst betont hat, nicht um Science-Fiction.

In einem Internetvideo über „die zehn besten Waffen“ aus Ego-Shootern erfährt man, dass man ein bestimmtes Modell mit großer Tauglichkeit für Schüsse auf Mülltonnen oder auch auf andere Personen einsetzen kann. Dergleichen wird jeder, der noch nicht dem Gesülze einiger „neoliberaler“ Kulturrezensenten verfallen ist, für schändlich halten. Doch was sollte beim Schusswaffengebrauch durch den Geheimdienstagenten James Bond, mit dem sich das Königreich Britannien ganz amtlich identifiziert, von höherer moralischer Qualität sein?

Zahlreiche Großproduktionen für die Leinwand brechen Lanzen für ein universal zuständiges „Problemlösungsprogramm Militär“, ein vermeintliches „Recht“ auf Angriffshandlungen an jedem Ort des Globus, die Entwicklung einer neuen Atomwaffengeneration, den Einsatz von Massenvernichtungstechnologie oder anderen geächteten Kriegsmitteln, Gleichgültigkeit gegenüber zivilen „Kollateralschäden“, die negative Darstellung ganzer Kulturräume oder Religionen, die Missachtung rechtsstaatlicher Verfahren, die Kreation willkürlicher neuer „Rechtsnormen“ oder die Anwendung von Folter. Nachweislich sind bei einer Reihe solcher Werke – z.B. bei einigen 007-Folgen und vielen Kriegsfilmen – auch Pentagon oder NATO-Militär beteiligt.1

Banale Militarisierung des Alltags

Die Debatte darüber, wann, wie und wo aufquellende Gedärme gezeigt werden dürfen, wirkt angesichts solcher Befunde komisch. Übrigens: Im Sinne der Verbraucheraufklärung könnte der Bundestag beschließen, dass Unterhaltungsproduktionen eine staatlich-militärische Beteiligung (z.B. durch Pentagon, französische Regierung, Bundeswehr) auf der Verpackung – oder bei TV-Formaten im Vorspann – sichtbar ausweisen müssen, zumal, wenn sie mit ihren Botschaften dem im internationalen Recht festgehaltenen Zivilisationskonsens zuwiderlaufen. Dafür wären keine Verbotsgesetze notwendig.

In einflussreichen Kreisen der „westlichen Kultur“ hält man schöne nackte Körper für jugendgefährdend und verleiht im gleichen Atemzug Medienangeboten, in denen auf Terroristen geballert wird, das Prädikat „pädagogisch wertvoll“. Im Bereich der elektronischen Unterhaltungsprodukte nimmt man Angebote, deren Finanzierung über Steuergelder abgewickelt wird, von der demonstrativ zur Schau gestellten Entrüstung aus. Die „banale Militarisierung“2 unserer Gesellschaft ist den Zensoren kein Dorn im Auge.

Computerspiele sind durchaus ein bedeutsames Medium für die Militarisierung der Alltagskultur. Das Hauptproblem stellen in diesem Zusammenhang aber nicht die – auch von einigen Pazifisten konsumierten – „schmutzigen Killerspiele“ und drastische Gewaltorgien dar. Viel schlimmer sind die „sauberen Kriegsspiele“ und Simulationen, deren Funktionen sich kaum noch von denen der Militärelektronik unterscheiden (beides kommt schließlich aus den gleichen Forschungswerkstätten).

In diesen PC-Games wird die moderne Militärtechnologie – samt ihrer Potenzen zur Massenvernichtung – ästhetisiert. Im Lexikon-Menü kann der jugendliche Spieler seiner Technikfaszination nachgehen und zwar auf dem Feld von Militärwissen und Rüstungsproduktion. Ganz nebenbei wird der politische Background vermittelt. Computerspiele dieser Stilrichtung kommen in vielen Fällen ohne menschliche Innereien aus. Der moderne Krieg ist ja eben „sauber“.

Auch in diesem Zusammenhang könnte der Bundestag tätig werden. Er könnte den Öffentlichkeitsabteilungen der Bundeswehr z.B. gesetzlich untersagen, jemals Werbemittel nach Art des Pentagon-Spiels „America’s Army“ anzubieten oder Rüstungsgüter bei der Rekrutierung als Anreize zu stilisieren.

Regelmäßig werden Eltern und Lehrer mit der Aufforderung terrorisiert, sie sollten ihre Zöglinge gefälligst gut erziehen und gegen die Gewaltkultur immunisieren. Wenn sie dann in diesem modernen Drachenkampf unterliegen, kommt es oft zu Schuldgefühlen oder Frust. An dieser Stelle gibt es in der Verbotsdebatte über Killerspiele zumindest einen begrüßenswerten Aspekt. Der Blick wird gewendet – weg von den Konsumenten auf die Anbieterseite.

Wer sind die Medienriesen der Unterhaltungsindustrie, die mit ihren Produkten federführend zur Militarisierung der Gesellschaft beitragen? Mit welchen anderen Interessensbereichen sind diese Medienkonzerne wirtschaftlich verflochten? Wie lange können wir es uns noch leisten, dass Künstler, die eine anregende Unterhaltung ohne Gewalt und Militarismus entwickeln wollen, von den kommerziell maßgeblichen Produktionen der Massenkultur ausgeschlossen bleiben?

Zum Schluss noch eine ganz rigorose Verbotsforderung: Ich bin unbedingt dafür, Wahlkampfspenden von Killerspielproduzenten, Rüstungskonzernen und Waffenherstellern an Politiker gesetzlich zu verbieten. Dies sollte am restriktivsten dort durchgeführt werde, wo potentielle Nutznießer – wie im Fall des Hamburger Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs – im Parlament als „verteidigungspolitische Experten“ ihrer Fraktion fungieren.

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