Leugnen und Vertuschen

Frankreich versucht seine Rolle beim Völkermord in Ruanda 1994 offensiv unter den Tisch zu wischen. Eskalation des diplomatischen Konflikts zwischen Paris und Kigali

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Frankreich und der ostafrikanische Staat Ruanda haben auf Initiative der ruandischen Regierung sämtliche diplomatischen Beziehungen abgebrochen. Grund ist die seit nun über einer Woche anhaltende, äußerst heftige Polemik um die Rolle Frankreichs, aber auch der damaligen Rebellenbewegung und jetzigen Regierungspartei RPF (Rwandan Patriotic Front) während des Völkermords im Frühjahr 1994. Frankreich wolle seine Mitwisserschaft und Mitschuld leugnen, indem es die Verantwortung auf die seinerzeitigen Rebellen abwälzt, so lautet der Vorwurf aus Ruanda. Nicht grundlos.

Von April bis Juni 1994 in Ruanda ereignete sich der vierte und letzte Genozid im 20. Jahrhundert, der in wissenschaftlichen Debatten als solcher anerkannt wird - nach den Völkermorden an den Herero in Namibia, den Armeniern in der Türkei und den Juden sowie Sinti und Roma im NS-beherrschten Europa. In Ruanda fielen innerhalb von nur einhundert Tagen über 800.000 (nach anderen Angaben bis zu eine Million) Menschen den systematischen Tötungen durch Milizen der extremistischen „Hutu Power“-Bewegung zum Opfer. Die Ermordeten gehörten größtenteils der Tutsi-Minderheit an, unter ihnen waren aber auch politische Oppositionelle oder schlicht Gegner des Völkermords innerhalb der Mehrheitsbevölkerung der Hutu. Die Rebellenbewegung RPF wiederum kämpfte, zunächst als Vertreterin der Tutsi, gegen das damalige Regime in der ruandischen Hauptstadt Kigali, bevor sie die politische Macht dort übernehmen konnte.

Die französische Regierung führte damals Krieg: gegen die RPF und an der Seite der regimetreuen ruandischen Streitkräfte in Gestalt der FAR (Forces armées rouandaises). Frankreich wird deshalb seit längerem aus Kigali, aber auch aus einem wachsenden Teil der französischen kritischen Öffentlichkeit eine Mitschuld und Mitwisserschaft am Völkermord vorgeworfen.

Paris konterte nun vorige Woche, indem es insgesamt neun internationale Haftbefehle gegen führende Persönlichkeiten der aktuellen ruandischen Spitze erließ, die aus der damaligen RPF kommen. Vorwurf: Diese hätten den Völkermord ausgelöst. Eine Ungeheuerlichkeit, antwortete man in Ruanda, wo heute eine gemischte Regierung aus Tutsi und Hutu amtiert, deren harter Kern jedoch aus der damaligen Tutsi-Rebellenbewegung (RPF) hervorging. Hier würden Opfer zu Tätern gemacht, und Paris wolle von seiner Mitverantwortung offensiv ablenken. Ein Vorwurf, der auch innerhalb Frankreichs bei kritischen Geistern Unterstützung findet.

Am Mittwoch dieser Woche publizierte die Pariser linksliberale Wochenzeitung Charlie Hebdo ein Interview mit dem Historiker Marcel Kabadanda, in welchem die Argumentation, mit der die Haftbefehle begründet werden, als „geschichtsrevisionistisch und negationistisch“ bezeichnet werden. Der Begriff des „Negationismus“ bezeichnet in Frankreich bisher die bewusste Leugnung des Holocaust. Eine Karikatur der Wochenzeitung zeichnet den Untersuchungsbericht des Richters Bruguière, der den Haftbefehlen zugrunde liegt, als Wischpapier, an dem die Völkermörder sich das Blut von ihren Händen wischen.

Der Untersuchungsauftrag des Richters Bruguière

Jean-Louis Bruguière amtiert seit 1984 in Paris als Untersuchungsrichter, der auf Terrorismusdelikte spezialisiert ist. In der Vergangenheit ermittelte er beispielsweise gegen Libyen und den Iran. Damit bekleidet er natürlich einen politisch hochsensiblen Posten. Darüber hinaus hat der Richter nun offen seine Absicht bekundet, im Juni kommenden Jahres bei den Parlamentswahlen als Kandidat der konservativen UMP (der von Innenminister und Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy angeführten Regierungspartei) anzutreten. Spätestens damit wird die politische Dimension der Persönlichkeit Jean-Louis Bruguière unverkennbar.

Im Zusammenhang mit Ruanda war der Untersuchungsrichter Bruguière seit 1998 mit einem Verfahren betraut, das nicht Opfer des ruandischen Genozids angestrengt hatten, sondern die Angehörigen von Franzosen, die kurz vor Ausbruch des Völkermords in dem ostafrikanischen Land getötet worden waren - und zwar an der Seite des damaligen Präsidenten Juvénal Habyarimana. Konkret handelte es sich um die (aus Frankreich kommende) Besatzung des Präsidentenflugzeugs von Habyarimana und um französische Militärs, die sich mit an Bord befanden. Dieses Präsidentenflugzeug wurde am Abend des 6. April 1994 kurz vor 20.30 Uhr beim Landeanflug auf Kigali mit zwei Boden-Luft-Raketen abgeschossen. Die erste beschädigte einen Flügel der Präsidentenmaschine, die zweite verwandelte es in einen Feuerball, dessen Trümmer in den Garten des Präsidentenpalasts fielen. Es gab keinen Überlebenden an Bord der Falcon 50. Abgefeuert worden waren die beiden Flugkörper von dem Hügel Masaka, der in der Nachbarschaft des Flughafens von Kigali liegt.

Startschuss zum Völkermord

Ungeklärt ist, wer genau die Boden-Luft-Raketen abgefeuert hat. Nicht ernsthaft umstritten dagegen ist, dass ihr Treffer den Startschuss zum Völkermord gab, der ab dem folgenden Morgen losbrach. In Kigali wurde damit begonnen, Straßensperren einzurichten, an denen Tutsi unter den Vorbeikommenden ausgesondert und auf den Seiten massakriert worden. Getötet wurde in der Regel mittels Hieben von Macheten.

Es dauerte damals eine Woche nach dem Abschuss von Präsident Habyarimana, bis eine funktionstüchtige Übergangsregierung auf die Beine gestellt worden war. Aber es brauchte nur wenige Stunden, um eine erschreckend effiziente und im Folgenden über Monate hinweg unermüdlich funktionierende Mordmaschinerie in Gang zu setzen. Stunden nach dem Absturz des Präsidentenflugzeugs fingen die Präsidialgarde, die Milizen der Hutu-Extremisten (Interahamwe genannt), bald auch mit Unterstützung durch die zivilen Verwaltungsorgane, und schließlich „gewöhnlichen“ Hutus aus der Bevölkerung an, ihre „ethnischen Feinde“ zu massakrieren.

Der Versuch, die Gesamtheit der Tutsi-Minderheit auszulöschen, war kein spontaner Einfall oder eine Idee, die plötzlich – ähnlich wie der Präsidentenflieger – vom Himmel gefallen wäre. Vielmehr war er über Jahre hinweg vorbereitet worden. Dabei hatten die „Hasssender“ wie das berüchtigte „Radio-télévision libre des mille collines“ (RTLM) eine wichtige Rolle bei der Mobilmachung gespielt. Die hier gesendeten Einpeitschtiraden, in denen die Tutsi in kaum verhüllter Form mit Ungeziefer, das zu eliminieren sei, verglichen wurden, waren über Monate hinweg kontinuierlich verbreitet worden.

RTLM ging im Juli 1993 auf Sendung. Selbst das technische Gerät für den Völkermord war längere Zeit vorher planmäßig bereitgestellt worden. Der Gebrauch von Macheten war in Ruanda damals in der Landwirtschaft üblich, aber die scharfen Werkzeuge gab es nicht in so großer Anzahl, wie sie später für den Völkermord „benötigt“ wurden. Im Sommer 1993 erging eine Großbestellung für Millionen von Macheten von Ruanda an die Volksrepublik China. Ein Faksimile des damaligen Lieferauftrags war im vorigen Jahr in einer kritischen Ausstellung über die französische Ruandapolitik, in der Nähe von Paris, zu sehen. Kurz: Was ab dem 7. April 1994 passierte, war offenkundig zuvor von längerer Hand vorbereitet worden.

Wer aber das Präsidentenflugzeug vom Abendhimmel über Kigali geschossen hat, bleibt dennoch umstritten. Dazu gibt es zwei widerstreitende Thesen. Die eine, die in der französischen kritischen Öffentlichkeit als höchst plausibel gilt, besagt, dass die Tötung von Präsident Juvénal Habyarimana aus den Reihen des eigenen Regimes heraus vorbereitet worden sei. Dafür spricht, dass den extremistischen Kräften innerhalb des damaligen Machtapparats durchaus daran gelegen war, sich zu jenem Zeitpunkt des amtierenden Staatschefs zu entledigen. Denn Junéval Habyarimana hatte im August 1993, unter internationalem Druck, das Abkommen von Arusha (in Tanzania) mit der Rebellenbewegung RPF geschlossen, das einen Friedensprozess für Ruanda vorsah.

Er stand unter Druck, dieses Abkommen einzuhalten, während zugleich ein Wiederaufflammen des Krieges zwischen der von Tutsi begründeten Rebellenbewegung und dem Regime in Kigali – das bereits damals eine rassistische Propaganda unter der Hutu-Mehrheitsbevölkerung betrieb – konkret drohte. Die rassistische, extremistische „Hutu Power“-Bewegung hatte innerhalb des Regimes bereits wichtige Positionen erobert und konnte sich auch auf bestimmte Flügel in frisch begründeten Oppositionsparteien stützen. Und sie hatte mit der Formierung ihrer Milizen längst begonnen, die zu den ausführenden Hauptorganen des Völkermords werden sollten. Dass es ihnen nun gelegen gekommen wäre, sich des zu sehr auf Mäßigung und das internationale Image bedachten Präsidenten zu entledigen, klingt durchaus glaubhaft. Und dass sein Tod ihnen als Fanal, als symbolisch wichtiges Startsignal zum Losschlagen dienen sollte, ebenfalls.

Eine Gegenthese lautet unterdessen, dass auch die Rebellenbewegung der Rwandan Patriotic Front (RPF) den Präsidentenmord verübt haben könnte. Hätte sie doch ein Interesse daran gehabt, das gegnerische Lager gewissermaßen am Kopfe zu treffen, um ihren Vormarsch auf Kigali zu beschleunigen.

Dazu muss man wissen, wer bzw. was die RPF ist. Die RPF ist ein Zusammenschluss von aus Ruanda stammenden Tutsi, die von dort vertrieben oder aber im Ausland als Kinder von ruandischen Tutsi im (erzwungenen) Exil geboren worden waren. Übergriffe auf die Tutsibevölkerung in Ruanda hatte es nicht erst im Jahr 1994 gegeben. Sie waren vielmehr durch einen langen Prozess der Ethnisierung gesellschaftlicher Verteilungskämpfe, den die einstige deutsche und später (ab 1918) belgische Kolonialherrschaft begonnen hatte, vorbereitet worden. Und ab 1959, noch vor der Unabhängigkeit, und erneut 1963 hatten bereits Massaker an mehreren Tausend Tutsi stattgefunden, die die Flucht weiterer Zehntausender Menschen zur Folge hatte.

Moralischer Makel Frankreichs

Frankreich wird seit längerem vorgeworfen, bis zur letzten Minute, also bis zur Einnahme der Hauptstadt Kigali, die Ausführenden des Völkermords geschützt zu haben. Beim damaligen Regime in Kigali handelte es sich um Verbündete, während die RPF vom englischsprachigen Uganda und dahinter auch von den USA unterstützt wurde. Der seinerzeitige Rebellenchef Paul Kagamé hat einen Teil seiner Ausbildung in Nordamerika, an einer Militärakademie in Kansas, erhalten. Der Krieg zwischen dem ruandischen Regime und der Rebellenbewegung RPF war, neben anderen Aspekten, immer auch ein Stellvertreterkrieg zwischen Frankreich und den USA. Nur trug und trägt Frankreich dabei den moralischen Makel davon, dass es jene Seite unterstützt hat, die real den Völkermord vorbereitet und durchgeführt hat.

In einem UN-Untersuchungsbericht vom November 1998 heißt es, Frankreich habe noch bis mindestens im Mai 1994 (also einen Monat nach Beginn des Völkermords) Waffen an die FAR geliefert. Und noch danach hat die französische Armee den Resten des „Hutu Power“-Regimes den Rückzug gedeckt, als die Milizionäre ins damalige Ostzaire flohen. Die vorgeblich humanitären Zwecken dienende „Mission Turquoise“ (Mission Türkis) der französischen Armee ab Juni 1994 diente faktisch dazu, die Flucht der Mörder aus Ruanda zu decken.

Dieses sehr reale Erlebnis hat etwa den französischen Journalisten Patrick de Saint-Exupéry, der damals als Korrespondent der ausgesprochen konservativen Tageszeitung Le Figaro vor Ort in Ruanda weilte, in der Folge zu einem der radikalsten und schärfsten Kritiker der französischen Politik in Ostafrika werden lassen. In einer vierteiligen Artikelserie im Figaro vom 12. bis 15. Januar 1998 hat der Journalist die französische Mitschuld am Genozid in Ruanda klar benannt und scharf kritisiert. Patrick de Saint-Exupéry hielt auch nicht mit dem hinter dem Berg, was er damals – während sich die Ereignisse in Ruanda in Echtzeit abspielten – an Reaktionen führender französischer Politiker mitbekommen musste. Der damalige Präsident François Mitterrand, so hat Saint-Exupéry wiederholt öffentlich kund getan, habe ihm im Sommer 1994 erklärt: „Ein Genozid in so einem Land (wie Ruanda), das ist nicht so wichtig.“ Auch die Politik der damaligen konservativen Regierung unter Edouard Balladur, die damals in einer Kohabitation mit Präsident Mitterrand zusammen die Staatsgeschäfte führte, wird von Saint-Exupéry frontal angegriffen. Ihr damaliger nationalpopulistischer Innenminister Charles Pasqua (eine der Schlüsselfiguren der mafiösen französischen Afrikapolitik) hatte, ganz im Sinne der Auslassungen Mitterrands, zum Thema den Spruch vom Stapel gelassen: „In diesen Ländern haben die Leute eben nicht dasselbe Verhältnis wie wir zum Tod.“

Die Realität des französischen Vorgehens und die scharfe Kritik daran sind in der französischen Öffentlichkeit seit Jahren bekannt. Unterdessen war aber die politische Klasse weiterhin nach Kräften bemüht, all diese Dinge tunlichst zu vertuschen. Im Gegensatz zu Belgien, den USA und den Vereinten Nationen, die seit 2000 eine Selbstkritik leisteten, weil sie nichts gegen den Völkermord unternommen hatten, hat Frankreich bislang auch keine Entschuldigung gegenüber Ruanda geäußert. Deshalb erntete eine französische Abordnung, die sich aus Anlass der Gedenkfeiern zum zehnten Jahrestag der Auslösung des Genozids am 7. April 2004 aufhielt, auch harsche Kritik in der Ansprache von Präsident Paul Kagamé. In kaltem Zorn packte die Delegation, die vom französischen Staatssekretär im Außenministerium Renaud Muselier geleitet wurde, damals ihre Koffer und reiste umgehend ab.

Der Haftbefehl des französischen Richters

An dieser Stelle kommt nun der eingangs erwähnte Untersuchungsrichter Jean-Louis Bruguière wiederum ins Spiel. Denn im März/April 2004, während seine Untersuchungsarbeit zum Abschuss des Präsidentenflugzeugs Juvénal Habyarimanas offiziell seit über fünf Jahren andauerte, erschienen erstmals andeutungsweise Informationen dazu in der französischen Presse. „In Bälde“ werde Brugière einen Untersuchungsbericht vorlegen, kündigte er damals an. Daraus gehe hervor, dass die Spur des Präsidentenmords vom 6. April 1994 zum Nachfolger führe: zu Paul Kagamé.

Von da ab dauerte es aber nochmals über zwei volle Jahre, bis Brugière nunmehr mit seinen (vorgeblichen) Ergebnissen nach außen drang. Es stellt sich die Frage, ob der Zeitpunkt dafür zufällig gewählt worden ist oder nicht. Im Oktober dieses Jahres hat in Ruanda eine offizielle Untersuchungskommission, die zur Rolle Frankreichs während des Völkermords tätig ist, ihre Arbeit aufgenommen. Ihre öffentlich zugänglichen Anhörungen begannen am 24. Oktober. Ging es dem Richter, der mit seinen politischen Ambitionen – er möchte im kommenden Jahr als UMP-Parlamentskandidat antreten – nicht hinter dem Berg hält, darum, „ein Gegenfeuer zu entzünden“, wie eine französische Ausdrucksweise besagt? Oder hat er aus anderen Gründen gerade jetzt agiert?

Fakt ist: Der Antiterrorismus-Richter Jean-Louis Bruguière hat am Abend des 17. Novembers der Staatsanwaltschaft in Paris ein 64seitiges Dokument übermittelt, das seine Schlussfolgerungen enthält. Ihr Inhalt wurde der Presse erst am darauf folgenden Montag bekannt. Darin verlangt der Untersuchungsrichter die Ausstellung von Haftbefehlen gegen neun führende Persönlichkeiten in Ruanda, die allesamt zur früheren Rebellenführung der RPF und bis heute zur näheren oder ferneren Umgebung von Präsident Paul Kagamé gehören. Unter ihnen befinden sich der Generalstabschef der ruandischen Armee RPA, James Kabarebe, die Protokollchefin im Präsidentenamt, Rose Kabuye, und der ruandische Botschafter in Indien, Faustin Nyamwasa-Kayumba. Die Haftbefehle, die an Interpol weitergeleitet wurden, können zwar kaum direkt zur Festnahme dieser Personen in Ruanda führen. Aber sie haben doch einige Konsequenzen für die Betroffenen. So können sie jederzeit bei der Einreise in ein Land, das ein Auslieferungsabkommen mit Frankreich hat, und insbesondere bei jeder Einreise in irgendein Land der EU festgenommen werden, um den Haftbefehl zu vollstrecken.

An Präsident Paul Kagamé konnte Untersuchungsrichter Bruguière nicht direkt herankommen, da dieser nach internationalem Recht Immunität als Staatsoberhaupt genießt. Dennoch lie? Jean-Louis Bruguière nicht locker, um auch den ruandischen Präsidenten unmittelbar zu belangen. Er wandte sich deshalb an den Internationalen Strafgerichtshof zu Ruanda (französisch : TPIR), den die UN im ostafrikanischen Arusha eingerichtet haben, um über die Verbrechen im Zusammenhang mit dem Völkermord von 1994 bzw. ihre zentralen Planungsstufen zu urteilen. Der Pariser Richter forderte deshalb den Staatsanwalt am TPIR, Hassan Bubacar Jallow, dazu auf, er möge ein Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit dem Genozid gegen den aktuellen ruandischen Staatspräsidenten einleiten. Dazu wäre er als Einziger befugt, da nur eine au?erordentliche Gerichtsbarkeit wie das TPIR juristische Schritte gegen den amtierenden Staatschef in Ruanda einleiten kann. Der Angesprochene wies dieses Ansinnen jedoch kühl zurück.

Im Hintergrund steht, ziemlich unverhüllt, die Behauptung, Paul Kagamé und die Rebellenführung seien am Genozid in Ruanda schuldig - nicht das damalige Regime in Kigali Und damit, das wäre praktisch, auch nicht dessen französische Unterstützer.

Die Tutsi-Rebellen sind schuldig

Die Kernidee des Anklagedokuments des Untersuchungsrichters Bruguière, der den Termin für den Erlass seiner Haftbefehle mit offiziellen Stellen abgestimmt hat, ist, dass die Rebellenbewegung RPF das Präsidentenflugzeug abgeschossen und dadurch den Genozid, der während der folgenden drei Monate in Ruanda wütete, ausgelöst hat. Es habe sich um einen Racheakt der Hutu-Bevölkerung für die Ermordung ihres Präsidenten durch die Tutsi gehandelt. Zudem hätten die Tutsi-Anführer genau die Folgen gewusst, diese dies billigend in Kauf genommen, weil es ihren Machtambitionen diente. Die Opfer des Völkermords sollten ihnen als moralische Legitimation gegenüber der Weltöffentlichkeit dienen, um die Eroberung von Kigali zu rechtfertigen. Die Tutsi-Rebellen hätten so ihre eigene Bevölkerung innerhalb Ruandas bewusst „geopfert“ und tragen die Hauptschuld an dem Völkermord.

Annähernd könnte man eine solche Argumentation vergleichen mit der Idee, dass die Juden die Hauptschuld am späteren Holocaust trügen, habe doch der im Exil lebende deutsche Jude Herschel Grynszpan am 7. Oktober 1938 auf den deutschen Botschaftsrat Ernst von Rath in Paris geschossen, was wiederum als „Reaktion“ die Pogrome der so genannten Reichskristallnacht ausgelöst habe. Eine Ungeheuerlichkeit? Ja. Aber sehr ähnlich gestrickt ist das Argumentationsmuster im oben genannten Bericht des Richters Brugière.

Der soeben gezogene Vergleich hinkt bzw. wirkt vergröbernd, da es einen nicht unwichtigen Unterschied gibt. 1938 kämpfte keine jüdische Armee im Ausland gegen das Deutsche Reich unter der Nazi-Führung. Dagegen gab es aber seit 1990 tatsächlich eine bewaffnete Rebellenbewegung von Tutsi, die gegen das ethno-rassistische Regime in Ruanda kämpfte, weil es 1959/63 zahlreiche Tutsi vertrieben hatte und die in Ruanda lebenden Tutsi bedrängt wurden. Nichtsdestotrotz ist es ungeheuerlich zu behaupten, der real stattgefundene Genozid lasse sich auf eine bloße „Reaktion“ reduzieren, die durch jene Rebellen ausgelöst worden sei, die (angeblich !) das Präsidentenflugzeug abgeschossen hätten. Die längerfristige Planung des Völkermords, seine ideologische Vorbereitung, die bereits früher stattgefundenen Massaker an den Tutsi, die Bestellung einer großen Menge an Macheten im Vorjahr 1993, die Hass- und Mordpropaganda der rassistischen Sender à la „Radio-télévision libre des mille collines“: All dies fällt dabei unter den Tisch. Die Hutu sollen nur spontan auf den Präsidentenmord „reagiert“ und dabei 800.000 bis eine Million Menschen ermordet haben, zehntausend pro Tag während dreier Monate. Eine spontane Reaktion?

Der Schlüsselsatz des ganzen Dokuments lautet:

Der General Paul Kagamé (Anm. : also der damalige Rebellenführer und jetzige Staatspräsident) hatte bewusst für eine Operationsform optiert, die, in dem besonders angespannten Kontext (...) zwischen den Gemeinschaften der Hutu und Tutsi als Reaktion nur blutige Repressalien gegen die Tutsi-Gemeinschaft nach sich ziehen konnten, die (Anm. : gemeint sind die Repressalien) ihm das legitime Motiv bieten würden, die Feindseligkeiten wieder aufzunehmen und die Macht mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft an sich zu reißen.

Die Rede ist in dieser oben zitierte Passage zunächst vom Flugzeugabschuss am 6. April 1994, später aber auch vom Genozid und vom Ende des Krieges in Form der Einnahme von Kigali durch die Rebellen. Darin steckt also nichts anderes als die Idee, dass die Tutsi-Rebellen absichtlich und in vollem Bewusstsein die Auslöschung der Tutsi-Bevölkerung innerhalb Ruandas provoziert hätten, um über den Leichenberg hinweg in Kigali einzuziehen und ihre politischen Ansprüche international zu legitimieren. Ungefähr so, als ob man behaupten würde (und ganz bestimmte Kreise behaupten es ja auch), jüdische Kreise hätten den Holocaust provoziert oder zumindest aktiv toleriert, um sich eine Legitimationsgrundlage für die Gründung des Staates Israel zu schaffen.

Die „Beweise“ von Bruguière

Jean-Louis Bruguière, der selbst zu keinem Zeitpunkt in Ruanda gearbeitet hat oder dort von seinen Untergebenen eine Untersuchung durchführen ließ, behauptet, er verfüge über einen entscheidenden Hinweis. Die Herkunft der beiden Boden-Luft-Raketen, die am 6. April 1994 auf das Präsidentenflugzeug abgefeuert worden sind, sei ihm bekannt. Sie stammten aus einem Bestand von insgesamt 40 Flugkörpern sowjetischer Bauart, die aus der ehemaligen UdSSR an Uganda (die damalige Hauptstütze der RPF-Rebellen) verkauft worden seien.

„Das Problem ist“, schreibt dazu die Liberation, „dass die Untersuchungsarbeit über die Raketen im Wesentlichen durch die französischen Nachrichtendienste durchgeführt worden ist.“ Also durch eine nicht unbedingt als allzu neutral zu betrachtende Instanz. Hinzu kommt bei Bruguière die Behauptung, die Streitkräfte des damaligen ruandischen Regimes (die FAR) hätten nicht über ebensolche Raketen verfügt. Dazu sollte man als ergänzende Informationsquelle nun wieder Le Monde vom 28. November heranziehen: „Um zu zeigen, dass die FAR nicht ähnliche Raketen besitzen konnte, stützt sich der Untersuchungsbericht auf Zeugenaussagen von ehemaligen hohen Offizieren der FAR. Doch die meisten von ihnen stehen in Arusha vor dem Internationalen Gerichtshof für Ruanda aufgrund ihrer Beteiligung am Genozid, was der Text mitunter zu erwähnen vergisst. Dies zu präzisieren, ist aber keine Kleinigkeit.“

Ansonsten bietet Bruguière noch Zeugen auf, die aussagen, sie seien innerhalb der RPF aktiv gewesen und dort darüber informiert worden, als die RPF-Führung Ende 1993 und Anfang 1994 in mehreren Versammlungen den Beschluss gefasst habe, das Attentat auf das Präsidentenflugzeug vorzubereiten und durchzuführen. Diese Zeugen der Anklage gegen Ruandas Präsident Kagamé geben entweder an, sie seien damals bei den entscheidenden Sitzungen meist als zufällige Ohrenzeugen dabei gewesen, oder aber, sie hätten von den dort getroffenen Entscheidungen innerhalb der RPF vom Hörensagen erfahren. Jean-Philippe Rémy schreibt darüber in Le Monde, dass in Ruanda geborene Tutsi für Aufklärungsdienste eingesetzt wurden:

Nach dem Sieg der RPF wurden diese Tutsi auf die Seite gedrängt oder gar politischen Repressalien ausgesetzt. Manche von ihnen flüchteten sich ins Ausland. Hauptsächlich unter ihnen (...) hat der Richter Bruguière seine Zeugen gefunden. … Haben sie die Äußerungen wirklich gehört, von denen sie berichten? Manche (dieser Zeugen) haben klar ausgesagt, dass sie erst im Nachhinein „gehört“ hätten, dass diese oder jene Entscheidung getroffen worden seien. Andere hingegen behaupten, sie seien in Gespräche hineingeplatzt. Ist es wirklich realistisch, sich vorzustellen, dass Offiziere aus der zweiten oder dritten Reihe oder einfache Soldaten (der RPF), wie sie behaupten, frei in Sitzungen ein- und ausgehen konnten, bei denen die Grundsatzentscheidung für das Attentat gefällt worden sei?

Offenkundig wird, dass die Aussagen von angeblichen Augen- oder eher Ohrenzeugen, über die der Richter Bruguière verfügt, eher die Qualität von Denunzierungen abservierter ehemaliger RPF-Funktionäre haben, denn wirklichen Zeugniswert besitzen.

Auch in der französischen Medienlandschaft wuchsen in den letzten 14 Tagen die Zweifel an der staatsoffiziellen Version der Ereignisse von 1994 ganz erheblich. Hatte Le Monde noch im März/April 2004, zum zehnten Jahrestag des Beginns des Genozids, die französische Rolle in Ruanda verteidigt, so überwiegt jetzt doch die Skepsis. Vor allem in den Berichten des Ostafrika-Korrespondeten der Zeitung wird scharfe Kritik an den Behauptungen Bruguières geübt. Ähnlich neigt sich die Waagschale bei der Libération. Die Untersuchung des Richters Bruguière geht übrigens auf die Klage zu Tode gekommener französischer Militärs aus dem Jahr 1998 zurück. Zu ihnen gesellte sich im Jahr 2000 noch die Präsidentenwitwe Agathe Habyarimana als weitere Nebenklägerin hinzu. Die ehemalige Präsidentengattin, die zu Zeiten ihres Wirkens in Ruanda eine wichtige Stütze der rassistischen „Hutu Power“-Bewegung war, lebt heute in Frankreich und ist eines der Hauptsprachrohre der Lobby des ruandischen Geschichtsrevisionismus.

Reaktionen französischer Militärs und Politiker

Auf Seiten des französischen Staates mochte man sich zwar offiziell nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen. Aber ein namentlich nicht genannter Vertreter der französischen Regierung wurde vorige Woche quer durch die Presse mit Äußerungen zitiert, denen zufolge der Bericht von Jean-Louis Bruguière „nahe an der Wahrheit liegt“. Die ruandische Staatsführung reagiere deshalb so gereizt, so wird die anonym bleibende Stimme der französischen Staatspolitik weiterhin zitiert, weil „sie die Wahrheit nicht verträgt“.

Hohe französische Militärs äußerten sich unterdessen bereits triumphierend, als die Nachrichten vom Inhalt des Bruguière-Berichts bekannt wurden. Der General Jean-Claude Lafourcade frohlockte, der Untersuchungsbericht Bruguière belege, dass sowohl das Attentat auf das Präsidentenflugzeug als auch der (dadurch provozierte) Genozid Bestandteile einer „planmäßigen Strategie der Machteroberung“ auf Seiten der Tutsi-Rebellenbewegung RPF gewesen seien. General Lafourcade ist der ehemalige Oberkommandierende der berüchtigten „Operation Türkis“, die Frankreich im Juni und Juli 1994 in Ruanda durchführte und die den Abzug der rassistischen Hutu-Milizen in das damalige Ost-Zaire deckte.

Ein nicht namentlich genannter „hoher Beamter im französischen Verteidigungsministerium“, der in Le Monde vom 23. November zu Wort kommt, führt seinerseits aus: „Bislang hatte man den Eindruck, dass den französischen Militärs die Beweislast zukommt, dass sie davon überzeugen mussten, dass sie nicht schuldig seien. Heute sind die Dinge umgekehrt worden. Man sieht, dass der Ursprung all dessen auf Seiten von Kagamé liegt.“

In diese politische Landschaft passt, dass das Pariser Verteidigungsministerium am Donnerstag voriger Woche ankündigte, der ehemalige französische Vize-Militärattaché in Ruanda, Grégoire de Saint-Quentin, werde „ in den nächsten Tagen“ per Videokonferenz vor dem Internationalen Tribunal in Arusha aussagen. Dieser in Tansania basierte Gerichtshof ist im November 1994 durch die Vereinten Nationen eingerichtet worden, um über die Hauptverantwortlichen des Genozids entscheiden. Die Prozesse dort sollen bis zum Jahresende 2008 in erster Instanz abgeschlossen werden. Der Oberstleutnant Saint-Quentin soll dort „auf Antrag der Verteidigung der ruandischen Militärs, die des Völkermords angeklagt sind, aussagen“, wie Le Monde vom 25. November es knapp auf den Punkt bringt.

Ruanda bricht mit Frankreich

Selten waren die offiziellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern derart angespannt. Der ostafrikanische Staat hat am vergangenen Freitag beschlossen, sämtliche diplomatischen Beziehungen zu Frankreich abzubrechen. Zukünftig werden die Botschaften Belgiens und Deutschlands die Interessen ihres westlichen Nachbarlands in Kigali, der Hauptstadt Ruandas, mit vertreten. Der französische Botschafter Dominique Decherf musste innerhalb von 24 Stunden das Land verlassen und reiste am Samstagabend tatsächlich aus. Am Donnerstag war auch der ruandische Botschafter aus Paris – Emmanuel Ndagijmana – abgezogen worden. Staatspräsident Paul Kagamé erklärte:

Frankreich ist ein reiches Land, also denkt es, dass es immer Recht hat, auch wenn es im Unrecht ist. Aber Frankreich kann Ruanda nicht behandeln, wie es andere Entwicklungsländer behandelt hat. Wir werden Frankreich die Stirn bieten.

In einem anderen Interview sagte Kagamé:

Dort, wo dieses Flugzeug abgeschossen worden ist, wurde die Zone durch französische Soldaten kontrolliert. Warum verlangt man von den Franzosen also keine Erklärungen? (...) Frankreich ist in den Genozid verwickelt. Daran gibt es keinen Zweifel.

Am Montag dieser Woche mussten zudem die verbleibenden Einrichtungen Frankreichs auf ruandischem Boden, darunter das französische Kulturzentrum und die Schule Saint-Exupéry, geschlossen werden. Aufgebrachte Demonstranten versuchten am Montag in Kigali, in die nunmehr geschlossene französische Botschaft einzudringen und das Tor aufzubrechen. Sie wurden jedoch von der ruandischen Polizei daran gehindert. Bereits am vorigen Donnerstag hatten 25.000 Menschen in Ruandas Hauptstadt gegen die französische Politik demonstriert. Sie trugen Schilder mit Aufschriften wie „Frankreich – Völkermörder“, „Hört auf, die Mörder zu schützen“ oder auch „Frankreich raus aus Ruanda“.