Entwicklungschancen in sozialen Brennpunkten

Vielen Kommunen droht die Ausgrenzung ganzer Stadtteile. Ein möglicher Weg aus der Krise erfordert mehr Kooperationsbereitschaft, Transparenz und Mitbestimmung

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Trotz der erfreulichen Absenkung der Arbeitslosenquote und verbesserter ökonomischer Rahmendaten ist Deutschland weit davon entfernt, seine wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die immer deutlicher auf eine Spaltung der Gesellschaft hinauslaufen, in den Griff zu bekommen. Während die Große Koalition über Investivlöhne und die Beteiligung von Arbeitnehmern an Unternehmensgewinnen diskutiert, leben hierzulande nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef mittlerweile 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche auf Sozialhilfeniveau. Mit der Einschränkung des finanziellen Spielraums reduzieren sich nicht nur die Chancen auf eine gleichberechtigte Teilnahme am Gesundheits- und Bildungssystem, sondern auch die Gelegenheiten zur Kommunikation und Kontaktaufnahme mit Menschen, die außerhalb der eigenen, eng gesteckten Grenzen leben.

Immer mehr Kinder müssen auf Taschengeld, Freizeit- und Sportangebote verzichten. Oft ernähren sie sich mangelhaft und sind bei schlechter Gesundheit. Benachteiligte Kinder bleiben immer häufiger in isolierten Wohnvierteln unter sich, ohne gute Schulen, Ausbildungsmöglichkeiten und ausreichende soziale Unterstützung.

Unicef

Mit dieser Entwicklung beschäftigt sich auch das Deutsche Jugendinstitut (DJI) im Rahmen seines aktuellen Schwerpunktthemas Neue kommunale Konzepte für soziale Brennpunkte. Das DJI arbeitet seit vielen Jahren an einer wissenschaftlichen Begleitstudie zum Programm E&C (Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten), das 1999 von der damaligen Bundesregierung ins Leben gerufen wurde. Detaillierte Untersuchungsergebnisse sind für den März 2007 angekündigt, doch schon jetzt zeichnen sich Tendenzen ab, die interessante Rückschlüsse auf die Wirksamkeit lokaler Netzwerke und kommunalpolitischer Steuerungsformen zulassen.

Dauerprobleme und Endlos-Dialoge

Dabei unterscheidet sich der Befund zunächst nicht von den beunruhigenden Ergebnissen anderer Institutionen und wissenschaftlicher Untersuchungen.

In sozial benachteiligten und gefährdeten Quartieren häufen sich Armut und soziale Ausgrenzung. Ethnische Konflikte, vor allem in den Schulen, hohe Arbeitslosenraten, Spuren von Verwahrlosung, Alkoholismus, Müll und Vandalismus, Delinquenz und Kriminalität sind sichtbarer Ausdruck der vielfältigen Gefährdung, der Kinder und Jugendliche in diesen Vierteln ausgesetzt sind.

Susanne John, DJI

Weniger konsensfähig sind die möglichen Gegenmaßnahmen kommunaler Verantwortungsträger. Für das DJI steht fest, dass soziale Probleme „nicht auf einzelne Zuständigkeiten“ verteilt werden dürfen, sondern erst durch die ganzheitliche Sicht erfolgversprechende Problemlösungen anvisiert werden können. Stadtplanung, Schulamt, Jugendhilfe, Polizei, Sozialamt, Politik, Kultur und Wirtschaft müssen also an dem sprichwörtlichen einen Strang ziehen, doch das ist leichter beabsichtigt als getan.

In der kommunalen Wirklichkeit stellen sich dem dankenswerten Vorhaben zahlreiche Schwierigkeiten in den Weg, die von der gemeinsamen Terminfindung über unterschiedliche Zielvorstellungen bis hin zum scheinbar obligatorischen Kompetenzgerangel reichen. Eine der wichtigsten Fragen des DJI lautet folgerichtig, wie vor Ort verhindert werden kann, „dass sich statt der angestrebten Synergien ein Endlos-Dialog mit ideologischen Streitigkeiten entwickelt“.

Governance statt Top-Down

Nach den vorläufigen Erkenntnissen funktioniert die Kooperation immer dann besonders gut, wenn hierarchische Entscheidungsstrukturen zugunsten moderner Governance-Konzepte aufgegeben werden. In der Praxis verlangt dieses Vorgehen eine klare Dezentralisierung und die im Fachjargon oft beschworene, im Alltag jedoch weniger häufig anzutreffende „sektorübergreifende Ämterkooperation“, aber auch eine intensive Zusammenarbeit von staatlichen, privaten und gesellschaftlichen Akteuren in lokalen Netzwerken, die schnell und effektiv auf veränderte Situationen oder besondere Problemstellungen reagieren können.

Tatsächlich sind in diesen Bereichen einige bemerkenswerte Fortschritte erzielt worden, so dass Jugendliche in manchen Kommunen nun an Fragen der Stadtentwicklung unmittelbar beteiligt sind.

Andererseits funktioniert entgegen der Vorgaben des Programms „Soziale Stadt“ und den Intentionen des E&C-Programms die Kooperation von Jugendhilfe und Stadtentwicklung bei weitem noch nicht so wie gewünscht. Ressortinteressen, Ämterhierarchien und wechselseitige Abgrenzungsversuche erschweren oder verhindern vielfach Kooperationen. Insbesondere für strategische Planungen und Entscheidungen im Bereich der Jugendhilfe und bei der Kooperation mit anderen Ämtern und Ressorts fehlen trotz vielversprechender Ansätze entsprechende Netzwerke noch weitgehend.

DJI

Wie kompliziert die Umstellung traditioneller Top-Down-Strukturen auf moderne Entscheidungsprozesse ist, zeigt die Mikroprojektförderung LOS - Lokales Kapital für soziale Zwecke. Hier bekommen Kommunen maximal 100.000 Euro, wobei die Fördergrenze jedes einzelnen Projekts bei 10.000 Euro liegt. Derzeit beteiligen sich bundesweit 286 Stadtteile an LOS, die nicht nur das soziale Engagement ihrer Bürger stärken, sondern überdies Verwaltung und Träger motivieren wollen, ihre Angebote optimal aufeinander abzustimmen und Anregungen aus der Bevölkerung konstruktiv aufzunehmen. Teilnehmen dürfen nur Kommunen, die mithilfe einer Koordinierungsstelle und eines Begleitausschusses eine lokale Plattform in sozialen Brennpunkten aufbauen, auf der die Beteiligten ihre Vorhaben und deren Umsetzung beraten und beschließen können.

Was gut klingt, scheitert in der Realität aber noch viel zu oft an den bereits beschriebenen Hindernissen, und von einer Einbettung in stadtteilübergreifende lokale Governance-Strukturen kann oft keine Rede sein.

Allerdings wird die Programmumsetzung nur in insgesamt einem Drittel der Kommunen tendenziell nach Governance-Prinzipien gesteuert. Das heißt, trotz der Programmvorgaben finden wir in den meisten Kommunen im Rahmen der LOS-Umsetzung klassische Steuerungsverfahren oder aber lediglich Ansätze in Richtung Governance.

DJI

Brennpunkt Schule

Nachholbedarf gibt es auch in zwei weiteren, vom DJI analysierten Untersuchungsbereichen, der Umsetzung von SGBII für Jugendliche unter 25 Jahren und der Rolle der Schulen. Wenn es um die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe für Jugendliche geht, bemühen sich offenbar nur 26,7 Prozent der Kommunen um „ausgeprägte Governance-Merkmale“, und an den Schulen, welche die Auswirkungen sozialer Fehlentwicklungen und Schieflagen besonders deutlich zu spüren bekommen, ist die Etablierung effektiver Netzwerke ebenfalls noch nicht weit vorangeschritten.

Die Politologin Susann Burchardt, die seit 2004 für das DJI-Team in Halle arbeitet, hat festgestellt, dass sich Schulen in erster Linie an Polizeidienstellen und Jugendämter wenden, deren Hilfe aber auch erst dann suchen, wenn sie dringend benötigt wird. Die Einrichtung runder Tische wäre nach Burchardts Einschätzung allerdings sehr viel sinnvoller.

Ein solches Gremium auf Stadtteilebene sollte natürlich alle Akteure zusammenbringen, die in der einen oder anderen Weise Verantwortung für Kinder und Jugendliche im Stadtteil übernehmen. Dazu zählen Schulvertreter - und hier nicht nur die Schulleiter -, die freien Träger der Jugendhilfe, die Polizei und die öffentliche Jugendhilfe und gegebenenfalls Vertreter anderer Bereiche, z.B. der Stadtplanung. Wichtig ist natürlich das Quartiermanagement, wobei dieses häufig den personellen Kern dieser Gremien bildet. Da die inhaltliche Arbeit in die kommunale Politik rückgekoppelt werden muss, ist eine Einbindung politischer Akteure (Ortsräte, Stadträte) anzustreben.

Susann Burchardt

Die bisherigen Untersuchungen lassen erkennen, dass prinzipiell alle Seiten zur Zusammenarbeit bereit sind, viele aber nicht wissen, wie sie im Detail funktionieren könnte, weil beispielsweise keine expliziten „Governance“-Schulungen angeboten werden und verwaltungstechnische Feinheiten eine schnelle Konfliktlösung immer wieder behindern.

Solange bestimmte ressortorientierte Zuständigkeiten nicht aufgebrochen werden - und hier handelt es sich nicht per se um unwillige Individuen, sondern schlicht um bestehende (handlungsbehindernde) Verwaltungsstrukturen - ist eine umfassende Bearbeitung sozialer Problemlagen von Kindern und Jugendlichen, in den von ihnen besuchten Brennpunktschulen nicht oder nur mit großem Aufwand möglich.

Susann Burchardt

Das DJI geht davon aus, dass die Größe der Kommune und ihr Migrationsanteil eine entscheidende Rolle spielen, wenn es um die Erfolgsaussichten moderner Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse geht. „Kleine Großstädte“ mit 100.000 bis 200.000 Einwohnern und Städte, die über einen hohen Migrationsanteil verfügen, weisen offenbar ein „strukturelles Optimum“ auf, da der öffentliche Druck ausreichend hoch ist und die Übersichtlichkeit gewahrt bleibt.

Zum Beispiel Augsburg

Dass auch jenseits dieses Optimums positive Effekte erzielt werden können, zeigt die bayerische Stadt Augsburg, die bei rund 270.000 Einwohnern einen Ausländeranteil von 16,7 Prozent aufweist. Nach Einschätzung des Leiters des Sozialreferats, Konrad Hummel, unterscheiden sich die kommunalen Probleme kaum von denen anderer Gemeinden. Auch in Augsburg leben heute schon mehr Menschen im Rentenalter als Kinder- und Jugendliche, um Arbeits- und Ausbildungsplätze wird so hart gerungen wie andernorts, und immer wieder zeigen Bedarfsermittlungen erhebliche Versorgungslücken auf - wie etwa bei den Krippenplätzen.

Augsburg gibt fast 20 Millionen Euro für Jugendhilfemaßnahmen aus, doch der „größere Paradigmen-Wechsel“ hat nach Hummels Einschätzung nicht unmittelbar mit finanziellen Aufwendungen zu tun. Der Wechsel von einer „angebotsorientierten klassisch bedarfsorientierten Jugendpolitik“ zu einer „zivilgesellschaftlichen Jugend- und Sozialpolitik“ verlangt eher die Bereitschaft, alte Denkgewohnheiten und Verhaltensweisen abzulegen und sich für neue Projekte und Kooperationsformen zu öffnen.

Hummel hat in Augsburg ein ganzes Maßnahmenbündel mit auf den Weg gebracht, das auf Dezentralisierung und Flexibilität, Früherkennung und Mitbestimmung basiert. Es umfasst die Aufteilung der gesamten Sozialverwaltung in vier Sozialraumregionen mit je etwa 70.000 Einwohnern, Wohnhoffeste und (Theater-)Workshops, ein freiwilliges Engagementangebot „change-in“ für Schülerinnen und Schüler ab 14 Jahren, den neugestifteten Jugendkulturenpreis und eine Jugendberatung, das Streetwork-Arbeitsplatzprogramm oder Arbeitsmarktprojekte speziell für die türkische Jugendszene. Darüber hinaus wurde mit dem Stadtjugendring ein Konzept für eine offene Jugendarbeit entwickelt, mit der nicht nur Jugendzentrums-Streetwork und Verbändearbeit aufgebaut und intensiviert, sondern auch wohnortnahe Strukturen geschaffen werden sollen, so dass der Stadtjugendring die Betreuung von Hausaufgaben und Pausenhoföffnungen übernehmen kann.

Mit Trägern der Jugendhilfe will man innovative Modelle umsetzen, um bereits werdende Eltern, Klein- oder Grundschulkinder bei aufkommenden Problemen unterstützen zu können. In die Netzwerkarbeit soll schließlich auch die Wohnungsbaupolitik einbezogen werden, um eine Heimat für „gemischte, generationsübergreifende Patchwork-Wohngemeinschaften“ zu finden.

Ob die Ansätze in Augsburg und anderen Städten von Erfolg gekrönt sind, wird sich erst im Verlauf der nächsten Jahre entscheiden. Eine wichtige Voraussetzung scheint allerdings schon jetzt die umfassende Beteiligung aller vor Ort Betroffenen zu sein, die sich gemeinsam nach demokratischen Prinzipien über das weitere Vorgehen verständigen müssen. Insofern macht die Aufteilung in kleinere Organisations- und Entscheidungseinheiten durchaus Sinn. Immerhin wurden die „handlungsbehindernden Verwaltungsstrukturen“ von Menschen geschaffen, die sie auch wieder beseitigen können.

Wenn sie denn wollen, und bislang fehlt auf Regierungsebene noch immer das klare politische Bekenntnis, die Kluft zwischen den auseinanderdriftenden sozialen Gruppierungen wenigstens teilweise wieder schließen zu wollen. Auf der anderen Seite sind die Menschen in den problembelasteten Stadtteilen nicht gezwungen, auf die Entwicklung neuer Governance-Ideen und die Einladung an runde Tische zu warten. Es bleibt ihnen unbenommen, selbst zivilgesellschaftliche Konzepte zu entwickeln und sich mit eigenen Vorschlägen an der Diskussion zu beteiligen.