Orthografie, Satzstil und Grammatik zum Gruseln

Lehreralltag in einer Berufsschule

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Fünf Uhr, der Wecker reißt mich unsanft aus dem Schlaf. Der Wetterbericht verkündet schönes Wetter. Dem reibungslosen Tagesstart als Lehrer an einer berufsbildenden Schule, mit den Fächern BWL, Datenverarbeitung, Büroorganisation, Englisch und Chemie, dürfte somit nichts im Wege stehen. Deshalb schnell die üblichen Dinge des Morgens erledigt, der Zug wartet nicht.

Sieben Uhr Eintreffen am Arbeitsort. Durch Strukturänderungen der Schullandschaft innerhalb drei Jahren meine dritte Schule. Die Kollegen werden begrüßt, die Unterrichtsmaterialien bereitgelegt und das Klassenbuch unter den Arm geklemmt. Auf dem Weg zur „Übungsfirma“ (Raum, in dem vorrangig die Wirtschaftsausbildung stattfindet) noch die Toilette aufgesucht - sehr wichtig, ansonsten gelange ich da vor der Mittagspause nicht mehr hin. Als Admin des PC-Netzwerkes unserer „Übungsfirma“ hauche ich diesem sehr zuverlässigen und effektiven Novellprodukt plus Lehrer-PC dann Leben ein. Anschließend wird der separate Internetrechner und ein Kopierer zum Laufen gebracht und der Diskettenklassensatz und die benötigten Arbeitshefte bereitgestellt. Schnell noch das Unterrichtsthema - Anfertigen eines Geschäftsbriefes als Normvordruck nach DIN 676 und DIN 5008 (Angebotsschreiben) mittels Textverarbeitungsprogramm WORD - an die Tafel geschrieben. Dann kurz die eigene Anzugsordnung geprüft und den 20 Schülern einer BVJ-Klasse (Hauptschulabgänger, 15-17 Jahre alt), Vollzeitausbildung 1 Jahr, 5 Minuten vor Unterrichtsbeginn die Tür geöffnet. Während lockerer Begrüßung die unverzichtbare Kontrolle der Schuhsolenreinigung am Abtreter (Textilfußboden im Raum) und des ordnungsgemäßen Ablegens der Garderobe in die vorhandenen Schränke.

Foto: Eberhard Schröder

Da zwanzig 486er Workstations vorhanden sind, findet jeder Schüler mehr oder weniger schnell nach Aufnahme seiner Diskette und des Arbeitsheftes den „Stammplatz“ und startet die Station. Während WORD geladen wird, vermerke ich die Anwesenheitskontrolle im Klassenbuch. Seit Einlass 7:25 h sind etwa schon 10 min vergangen.

Eigentlich könnte die Stunde beginnen, aber da sind noch lange nicht alle Arbeitsutensilien, wie Schreibgeräte und Hefte, bei den Schülern in Bereitschaft. Hier eine „Bravo“, dort eine „BILD“, der eine hat schon Hunger und Durst (obwohl er einen Tag vorher die PC-Kabinett-Ordnung unterschrieben hatte, welche Trinken und Essen im Raum verbietet). Ein „Filou“ macht andere Mitschüler auf das von seinem Monitor flimmernde eingeschleuste Spiel neidisch und so gibt es derer einige, die erst mal „aktiviert“, sprich motiviert, werden müssen.

Mein Arbeitspuls steigt, da die Arbeitszeit abnimmt. Meine Uhr zeigt 7:40 h! Grad als ich loslegen will, meldet sich jemand mit Hundekot an den Sohlen, der mir trotz Akribie am Abtreter durch die Lappen ging und mittlerweile den „Textilrasen“ verunschönte. Nachdem sich der allgemeine Jubel gelegt hat, notiert sich jeder das Unterrichtsthema und ich beginne meine Ausführungen dazu mit Hilfe einiger Folien auf dem Overheadprojektor. Für die Schüler heißt es nun, die konkreten Einzelheiten am PC nachzuvollziehen. Aber schon der Eintrag der Firmenadresse und der Kundenanschrift gemäß Vorschlag der DIN 5508 (Brief) geraten fast zum Desaster. Nur wenige Schüler sind in der Lage, die entsprechenden Zeilen und deren Abstände richtig zu ermitteln. Für mich beginnt der unvermeidliche Dauerlauf durch den Unterrichtsraum, zielgenau gelenkt durch die sich mehrenden Hilferufe. Da helfen keine Vorbereitungen durch vorhergegangene Unterrichte. Die ausgegebenen Arbeitshefte mit dem abgeforderten Briefmuster erweisen sich genauso wirkungslos, wie es meine, in mühevoller Heimarbeit gefertigten und auf dem Projektor dahinschmelzenden Folien tun. Auch das gepriesene Computernetz verschafft mir keine Atempause, da ich ja „vor Ort“ an mindestens 15 Stationen erklären, korrigieren, ermuntern und tadeln muss. Überfliege ich dabei die geschriebenen Worte, fühle ich mich oft ins Ausland versetzt. Wohl gemerkt – in dieser Klasse sitzen nur zwei „Russlanddeutsche“ aus Kasachstan! Beide sind während der Stunde sehr diszipliniert, verstehen die deutsche Sprache und trotzdem interessiert sie mein Geschäftsbrief nicht die Bohne. Sie arbeiten einfach deshalb nicht mit, weil sie „heute keinen Bock haben“. (Nach etwa vier Wochen sind sie urplötzlich gar nicht mehr anwesend. Nach Aussage ihrer Eltern hätte der Stress sie plattgemacht.) Die anderen 18 Mitschüler bewundern sie ob ihrer „Tatkraft“, oder halten sie einfach nur für „beknackt“.

15 min noch für die Bezugs- und Betreffzeile an richtiger Stelle! Meine nächste Laufetappe wird vom Ruf. „Herr Lehrer, meine Tastatur ist tot“ unterbrochen. Nachsehen, Ursache der Störung vorerst nicht erkennbar, neue Klaviatur holen und anschließen. Betreffzeilen - Notfälle behandeln...und wider Erwarten noch zur Anrede übergehen.

Die Luft im Raum wird langsam unerträglich, geöffnete Fenster sind jetzt notwendig, aber bei den Schülern gar nicht gern gesehen. 22 Rechner und ihre Monitore produzieren viel kuschelige und trockene Wärme, da ist Kühle von außen nur unter Protest einlassbar.

Erlösung! Das Pausensignal ertönt! Ehe ich recht zur Besinnung komme, ist der Raum in Blitzesschnelle entleert. Alles eilt zur Raucherinsel oder Toilette. Schnell ändere ich gedanklich meine weitere Unterrichtsplanung – es ist in der folgenden Stunde kein „selbsterfundener“ Text zu formulieren. Ich gebe die Anrede und den Text nachher als Abschrift aus dem Arbeitsheft vor. Nebenbei lasse ich Frischluft ins Kabinett einströmen, so dass ich wieder aufatmen kann. Verfluchte Klingel! Es geht weiter – nur die Schüler fehlen. Ruf runter in den Schulhof geschickt und nach zusätzlichen 5 min sind die Stationen besetzt.

Kurze Einweisung und ich hoffe vorerst im Sitzen anfallende Probleme „ferngesteuert“ lösen zu können. Es ist ja nur das Abtippen eines Textes! Natürlich Irrtum. Kaum fühle ich wohlig die Ruhe in meinen auch nicht mehr ganz jungen Knochen aufsteigen, da treiben mich verschwundene Absatzmarken, völlig verrutschte Textzeilen und nichtgewollte Zeilenabstände um die Tische. Alles keine Softwarepannen, immer handelt es sich um Bedienfehler. Kein betroffener Schüler kann trotz vorhergegangener Unterweisungen diese Tücken allein lösen. Ruhe und Freundlichkeit bewahren und sich an seine Berufung erinnern!

Aber es wird fleißig in die Tasten gehauen und hier und dort lassen sich sogar durch die konzentrierte Arbeit leicht gerötete Gesichter ausmachen. Es schleicht sich bei mir so etwas wie ein Erfolgserlebnis ein und ich bin fast von meinem Beruf beglückt. Zwar weiß ich, dass von den 45 Unterrichtsminuten bei Hauptschülern im PC-Unterricht effektiv nur 20-25 Minuten übrig bleiben. Trotzdem behalte ich die Hoffnung, dass wenigstens diese nicht verloren sind. Fast niemand aus unseren BVJ-Klassen erhält einen Ausbildungsvertrag, wir sehen die Schüler, mit nur wenigen Ausnahmen, im kommenden Jahr in einer neuen „Maßnahme“ wieder.

Das Anlegen der Grußformel bereitet dann die erwarteten Schwierigkeiten. Trotzdem, der Geschäftsbrief füllt den Bildschirm aus und lässt sogar manche Schüler stolz auf die geleistete Arbeit erscheinen. Nun die nächste Nagelprobe. Der Brief muss auf Diskette gespeichert und im Anschluss daran ausgedruckt werden. Die notwendige Hilfe beim Umgang mit der Diskette, einschließlich des richtigen Einstellens von Verzeichnis und Durchführung des Speichervorganges, kostet mich Schweiß und Lebensmonate. Das Drucken der Datei ist dann der Höhepunkt. Der Zeitraum vom Einführen des Druckerpapiers, über das Einleiten des Druckvorganges bis zum Briefformular in der Hand des Schülers, kündet von einer physischen und psychischen Höchstbelastung aller Beteiligten. Bemerkenswert und für alle Anstrengungen entschädigend; einige Schüler wollen den Brief ihren Eltern zeigen, um ihnen beim Anfertigen ähnlicher Schreiben helfen zu können.

Hurra! Was hab ich heute geleistet! Der Uhrzeiger mahnt das nahende Ende der Stunde an. Also: Drucker abstellen, Disketten aus den Laufwerken entfernen, Anwendungsprogramm schließen, von der Workstation abmelden, Arbeitstisch ordnen, Arbeitshefte und Disketten im Klassenbehältnis ablegen und nach dem Abholen der Garderobe Verabschiedung in die große Pause.

9:05 h ist es. Ich wechsele den Diskettenklassensatz gegen den folgenden aus, halte den Stundeninhalt im Klassenbuch fest, öffne alle Fenster und bemerke dabei das Fehlen von Wasser in den Luftbefeuchtern an den Heizkörpern. Dann Vollständigkeitskontrolle der Computermäuse, dabei klemme ich mir noch eine vergessene Schülerjacke unter den Arm, verschließe den Raum und eile im Galopp dem Lehrerzimmer zu. 20 min Pause, von denen noch 10 min übrig sind! Misslingender Schnellversuch, Durst und Hunger zu stillen, Klassenbuch wechseln und Kollegen - Talk lauschen. Nach lauten Klopfzeichen an der Tür vergessene Jacke übergeben, Tasche greifen und im Sekretariat Luftbefeuchter - Wassermangel melden. Zunehmenden Druck in der Blase „wegfühlen“ und während des 1. Klingelns den PC-Raum für die davor stehende nächste Klasse öffnen.

Unterrichtsbeginn 3. Stunde, 9:25 h, 24 Wirtschaftsassistentinnen, Vollzeitausbildung, Realschulabschluss, 1. Lehrjahr, Alter zwischen 17 und 23 Jahre. Auch hier Textverarbeitung „Erstellen eines Angebotsschreibens mit Informationsblock“. Die 1. Stunde steht für die Anfertigung des Firmen-Briefbogens und die 2. Stunde für das Verfassen des Angebotes zur Verfügung. Vier Schüler müssen sich zwei PCs teilen. Dem Internet rechner sind zwei sehr selbständig arbeitende Schüler zugeordnet und der Lehrer-Computer wird notgedrungen ebenfalls zum Schülerarbeitsplatz. Nachdem das Anfangsszenario ähnlich der BVJ-Klasse verlief, gilt es, sich ins System einzuloggen, WORD zu laden; was sogar allen gelingt.

Nun heißt es, einen Briefkopf der Form A (27mm Höhe) mit Rahmen und Firmenlogo nach eigener Wahl, den Info-Block, die Orte der Absender- und Anschriftdaten, der Bezugs- und Betreffzeile, der Anrede, des Textes, der Grußformel, des Anlagevermerkes und der Fußzeile mit den Firmendaten anhand des Arbeitsheftes in WORD vorzubereiten.

Ich will von dieser Stunde nur das Wichtigste schildern und dabei die fachspezifischen Schritte im Hintergrund lassen. Mit Arbeitsbeginn ist sofort der „Qualitätssprung“ gegenüber der BVJ-Klasse bemerkbar. Textverarbeitung am PC gehört zu den Lieblingsfächern dieser jungen Damen. Sie arbeiten je nach Temperament und Tageslaune relativ selbständig, schnell und versuchen mehr oder weniger erfolgreich, geringfügige Hard- und Softwareprobleme nach der „Versuch- und Irrtum-Methode“ selbst zu beheben. Meine Anwesenheit wird vorrangig zur Einschätzung und Hilfe bei ihrer Arbeit genutzt. Fast absolut hilflos sind sie immer wieder bei Umrechnungen von Zoll in Zentimeter, es offenbaren sich deutliche Schwächen beim Erkennen und Nutzen der Vorteile der absatzorientierten Textverarbeitung. Bringt eine falsche Textformatierung unerwünschte Ergebnisse, dann flippen Susi und Marlen auch mal schnell aus.

Nachdem inmitten der Unterrichtsstunde der Hausmeister ohne Vorwarnung mit der Wasserkanne bedeutsam durch den Raum schreitet und mit großem Hallo von den Girlies begrüßt wird, künden von vermeintlich „versteckten“ Stationen grüne Bildschirme vom Spiel Solitär. Wir haben bewusst in unserem Netz, trotz gut ausgeklügelter und doch sparsamer „pädagogischer Oberfläche“, dem Schüler Freiheiten gelassen. Diesmal musste meine strenge Miene aber sofort das auffällige Grün als nicht erwünscht deklarieren. Als es 10:10 Uhr zur Pause klingelt, sind bis auf wenige Nachzügler alle mit Teil 1 des Arbeitsauftrages fertig.

Die 5 min-Pause wird wie gewöhnlich zur 10 min-Erholung für die Schüler. Ich hingegen bin Opfer einer Kollegin geworden, die mich ausgerechnet jetzt bittet, ihr für den morgigen Tag ein Programm für den Fremdsprachen-Unterricht auf dem Netz-Server bereitzustellen. Meine Frage, ob das Programm eine Mehrplatz-Lizenz besäße, wurde von ihr als Gag aufgefasst und eventuell auftretende Probleme an einzelnen Stationen wollte sie gleich gar nicht gelten lassen. Zu mehr reichte die Zeit nicht. Mir wurde die Programm-CD in die Hand gedrückt und gutes Gelingen gewünscht.

Es ging mit Zeitverzug weiter. Nun musste der angelegte Briefbogen mit selbstgeschaffenem Text gefüllt werden. Nach kurzer Denkpause begann das große Klappern der Tastaturen im warmen Raum. Wirklich Tatsache! Bei einigen Lehrlingen wurden die Tasten nass! In diesen Klassen gibt es beim Schreiben von Texten immer wieder interne Wettbewerbe, wer wohl am schnellsten den Brief abschließen kann. So weit, so gut, oder auch nicht. Denn beim Rundgang bekam ich alles an Orthografie, Satzstil und Grammatik geboten, was einen das Gruseln lehren könnte. Nun wurden sogar einige, ansonsten freundliche Wesen, recht ausfallend und spürbar arrogant. Meine Korrekturen, Kritiken, Hilfen und die Aufforderung mal zum Duden (der jeden Tisch ziert) zu greifen, schienen für manche Schülerin einer Majestätsbeleidigung nahe zu kommen. Rätselhaft bleiben mir nur die Deutsch-Abschlussnoten aus der Realschule, sie waren alle bei 2-3 angesiedelt. Ich kann die Aussagen vieler Ausbildungsbetriebe nur bestätigen, den Jugendlichen fehle eine ausreichende Basis beim Gebrauch der deutschen Sprache.

Mein geplantes Stundenkonzept brach zeitlich zusammen. Rette, was zu retten ist! Brief speichern ohne auszudrucken, als Hausaufgabe schriftlich einen neuen Text vorbereiten, Disketten in die Klassenkiste, WORD schließen, Tisch ordentlich verlassen...und tschüss, denn es hatte die 10’ Pause eingeläutet.

Ich tätige alle Einträge im Klassenbuch, reiße wieder Fenster auf, überfliege die Arbeitstische auf Vollständigkeit und Ordnung, wechsle die Diskettenschachtel, transportiere rennend das Klassenbuch ins Lehrerzimmer zum nächsten Kollegen (hab’s vergessen der Klasse mitzugeben) und werde auf meinem Rückweg vom Direx gestoppt. Er benötige für das Schulamt eine Gesamtaufstellung aller Hard- und Software (mal wieder), welche in „meinem“ Kabinett vorhanden ist. Aber nicht morgen, auch nicht nach Unterrichtsschluss, sondern vorgestern. Bedient schweiße ich zur nächsten Klasse, die zum Glück das Klassenbuch mitbringt.

Es ist 11:10 h. Irgendwann musste ich mal pinkeln, aber wie durch ein Wunder ist das Bedürfnis verdampft. Dabei haben wir fast ein Luxusklo! Alles wunderbar sauber, gutdurchlüftet, ausreichende Waschbecken, keine beschmierten Wände. Kurz: ein herrlicher Ort zum Verweilen!

Freude zieht in mir ein, denn jetzt kommt die Klasse, bei er ich als Klassenleiter fungiere. Eine BKF-Klasse, 2. Lehrjahr, duale Ausbildung in dreijähriger Lehrzeit.. Angehende 15 Bürokaufleute (wir haben eine 32er Klasse intern geteilt) zwischen 18 und 25 Jahren mit Lehrvertrag in der Tasche. Aufgefüllt mit fünf „älteren“ Frauen einer Weiterbildungsmaßnahme der Arbeitsagentur. Die Lehrlinge besitzen gute Abschlüsse der Realschule, haben das Abitur oder sind Studiumsabbrecher. Sie besuchen für zwei Tage die Berufsschule und gehen die restlichen Tage zur praktischen Ausbildung in ihre Betriebe. Nach Abschluss der Lehrzeit erhalten in der Regel etwa fünf von 30 BKF - Lehrlingen einen Arbeitsvertrag, einige nur für drei Monate.

Auch hier annähernd das gleiche Thema, denn wieder steht Textverarbeitung auf dem Lehrplan. Das Stundenbeginn-Prozedere läuft ähnlich wie geschildert ab. Für mich ist das spürbar höhere Bildungs- und Verhaltensniveau dieser Lehrlinge die Rettung vor dem drohenden physischen Kollaps. Hunger, Durst, Hitze, Dauerlauf und kaum eine „Sitze“ seit Verlassen der Deutschen Bundesbahn...und das war morgens gegen 6.45. Also Brust raus und nochmals zusammengerissen, diese „Luxusschüler“ entschädigen einen für alle Anstrengungen des bisherigen Tages

Der Unterricht läuft, nur die 5 „Gäste“ bedürfen ab und zu der Hilfe. Alle sehr lernwillige und fleißige Frauen, die sich zum einen völlig problemlos in die Klasse eingefügt haben und zum anderen so etwas wie eine Mutter- und Vorbildfunktion in die junge Truppe einbringen. Hier helfen stärkere den schwächeren Schülern, es wird intensivst und selbständig gearbeitet. Die „Top-Lehrlinge“ sind die Bestimmenden und Zugpferde zugleich.

Als es 12:00 h in die für mich 6. Stunde geht, hat die Klasse zwei fertige Firmenbriefbögen mit unterschiedlichen Briefköpfen vorzuweisen. Kaum glaubhaft, trotzdem wahr – einige Lehrlinge haben freiwillig die Pause durchgeackert und waren nicht von ihrer Arbeit zu trennen. Zwei selbsternannte Computerfreaks fragen mich verschmitzt, ob sie mir nicht mal „mein“ Netz vermurksen dürften. Versucht es, ist meine Antwort und bin über ihre „Kreativität“ erfreut. Da sie aber noch mit ihrem Brief zu tun haben, brechen sie den Versuch sehr früh erfolglos ab. Novell und Admin haben die „Prüfung“ bestanden, das Netz bleibt stabil! Sogar die Freaks sind beeindruckt. Nun sind noch zwei selbstentwickelte Texte auf die Bögen zu bringen, abzuspeichern und auszudrucken. Da für das Erlernen des 10-Finger-Tastschreibens für die BKF-Klassen wenig Zeit zur Verfügung steht, schleichen sich etliche Fehler in die Texte ein, die aber nicht alle nur der fehlenden Schreibfertigkeit geschuldet sind. Obwohl nicht perfekt, kann ich mit dem Erreichten zufrieden sein. 12:45 h, die Klasse ist verabschiedet.

Da bitten noch zwei Lehrlinge um Gehör. Im Fach Rechnungswesen sei der Teufel los, berichten sie. Der unterrichtende Kollege hätte selbst keine Peilung vom Stoff, ließe nur vom Lehrbuch abschreiben und vermittle Dinge, die im Ausbildungsbetrieb nur Kopfschütteln hervorriefen. Ob sie denn mit dem betreffenden Fachlehrer schon gesprochen hätten, war meine Frage. Ja, aber der Erfolg sei Null. Nun liegt der Part der Klärung bei mir. Aber was kann ich erreichen, wenn der Kollege selbst grad ins Rechnungswesen einsteigt und von der Materie völlig unbeleckt ist? Das Ergebnis? Die Lehrlinge akzeptieren nur noch die betrieblichen Unterweisungen und schalten im Unterricht der BbS ab. Für mich bedeutet das ein Aufsuchen der fünf größten Ausbildungsbetriebe in einem relativ ausgedehnten Kreisgebiet; mehr gelingt mir zeitlich nicht. Verständnis kann ich dort für das anstehende Problem nicht finden, aber wie sollte man auch? Einstellungsstopp für Lehrer heißt das Zauberwort! Außerdem, wer geht als Rechnungswesen-Insider ausgerechnet an eine Schule? Die Lehrlinge jedoch müssen eines Tages vor der IHK die Prüfung ablegen...und dort fragt keiner nach dem Lehrer, der noch nie etwas von doppelter Buchführung gehört, geschweige unterrichtet hat. Bedingt durch Ausfälle von Lehrkräften oder Erfordernissen sogenannter Bildungsoffensiven, muss man oft „von heute auf morgen“ einem völlig fremde Lehrstoffe unterrichten Da frage keiner nach der Qualität dieser Darbietungen!

Jetzt aber Tür zu und sehr flotten Fußes nach Abwendung einer Blasenschädigung ins Sekretariat geeilt und aus der meistens übelriechenden grünlichen Assiettentransportschachtel die kühle Mittagsmahlzeit geholt. Im Lehrerzimmer bildet der Rotkohlgeruch meines Essens, gepaart mit dem Stimmengewirr, eine fast anheimelnde Mischung. Da ich erst 5 min vor Ende der 30minütigen Mittagspause eintraf, kann ich die meisten Kollegen nur noch von hinten bewundern. Aber ich kann endlich meinen Puls wieder runterfahren, Unterricht habe ich heute nämlich nicht mehr.

Ich könnte jetzt die Tasche flott machen und zum Bahnhof eilen – aber meine Admin-Funktion lässt erst den Zug ab 15:30 zu. Also Blechnapf genüsslich ausgelöffelt, Schluck aus der Pulle genommen und nochmals in die gute Hochtechnologie-Stube geeilt. Eine Abminderungsstunde, die mir für die Admin-Tätigkeit zugestanden wurde, fiel dem Rotstift zum Opfer. Manche Arbeit führt bis in die Dunkelheit und in das geistige Aus. Aber wen interessiert das? Erst wenn Kollegen in ihren Unterrichten Probleme mit dem Netz bekommen und das lauthals artikulieren, wird der Admin vermisst. 23 Pflicht-Unterrichtsstunden plus oftmaliger Vertretungen (die nicht finanziell, sondern bei Gelegenheit zeitlich abgegolten werden) und die „ehrenamtliche“ Netzpflege sind ein absoluter Full-Time-Job, der als gesundheitsgefährdend einzuschätzen ist.

Obwohl von der das Netz einrichtenden PC-Firma ein tolles Maschinenprogramm geschrieben und installiert wurde, muss ich von Zeit zu Zeit die sich im System anhäufenden temporären Dateien löschen, ansonsten es zum Kollaps käme. Von einem x-beliebigen Rechner über den Netzserver in die Workstations eingeloggt und munter hintereinander bei den 20 PCs den Löschvorgang vollzogen. Dazu bei einigen Druckern erschöpfte Tintenpatronen ausgewechselt und für den kommenden Tag Lehrmaterialien mittels Kopierer für drei Klassensätze abgelichtet. Die Aufstellung der abgeforderten Hard/Software-Übersicht angefertigt...und darüber fast das Englischprogramm vergessen. Es ist schnell auf den Lehrerrechner gebracht und besteht den kurzen Test zum Glück ohne Pannen.

Wie die Kollegin morgen mit der Anwendung unterrichten will, bleibt mir rätselhaft. Sicher helfen ihr einige Schüler, denn Rechner sind für unsere Frau Englisch außerirdische Monster. Eine Rechnungswesen unterrichtende Kollegin ist da noch lockerer. Sie weigert sich demonstrativ, den Umgang mit PCs zu erlernen. Da etliche Schüler an der Tafel nicht 1,234 zu 22,56 addieren können, sieht sie keinen Sinn in der Anwendung von Computern. Ihr Argument, dass Schüler bei Lösung einer Prozentrechenaufgabe 3456% statt vielleicht 56% erhalten und nichts Verwunderliches daran entdecken können, bestärke sie in ihrer Einstellung. Mir fallen dabei die etwa 200 Stunden ein, die man zum Erlernen der Anwendungsprogramme WORD und EXCEL veranschlagt. Der Lehrer soll und muss fast „alles“ können – aber wo nimmt er die Zeit dafür her? Die Weiterbildung bietet oft Unbrauchbares, ist mit weiten und mehrtägigen Reisen verbunden und die Fahrtkosten darf man selbst tragen.

Alarm! Draußen klappert schon das Reinigungsgeschwader durch die Flure. Vier Frauen müssen einen riesigen Gebäudekomplex in nahezu Lichtgeschwindigkeit bei ärmlicher Bezahlung reinigungstechnisch auf Vordermann bringen. Wenn ich am nächsten Morgen zum feuchten Wischtuch greife, kann ich sehr gut erkennen, wie hoch der Staub auf den Computertischen liegt. Unsere Lehrlinge haben sich weiße Pullover schon lange abgewöhnt. 15:10 h! Der Run zum Bahnhof wird eingeleitet. Die Verabschiedung vom Schulleiter, Sekretariat und scherzendem Hausmeister ist schnell erledigt. Im Stakkato die lange Schultreppe runter und...endlich nur noch Feierabend! Einige Anlieger, der sich scheinbar unendlich in Richtung Heimatzug dehnenden Straße, werden hinter ihren Fenstern jetzt wieder denken: Ach, da kommt ja der faule Sack!