Sachzwang Föderalismusreform

Wie sich Politiker selbst die Hände gebunden haben und es hinterher nicht wahrhaben wollen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Bundespräsident Köhler steht in der Kritik. Sowohl Politiker der SPD aber auch der Unionsparteien werfen ihm Kompetenzüberschreitungen vor, da er wiederholt Gesetzesvorlagen der großen Koalition zurückgewiesen hat. "Es gibt eine Institution in Deutschland, deren Aufgabe es ist, die Verfassungskonformität von Gesetzen zu überprüfen - und das ist das Bundesverfassungsgericht", sagte SPD- Fraktionsgeschäftsführer Olaf Scholz. Das ist allerdings nicht ganz richtig. Tatsächlich hat der Bundespräsident die Befugnis, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, und er kann bei begründeten Zweifeln auch seine Unterschrift unter ein Gesetz verweigern. Das ist eine Praxis, die auch schon Vorgänger von Köhler gelegentlich angewandt haben. Allerdings haben sie von diesen präsidialen Befugnissen wesentlich sparsamer Gebrauch gemacht als Köhler.

Der jüngste Streitfall ist das Verbraucherinformationsgesetz, dem Köhler die Unterschrift verweigert hatte. In der Gesetzesbegründung heißt es ausdrücklich: "Adressat des Informationsanspruches der Verbraucherinnen und Verbraucher sind öffentliche Stellen .... einer Gemeinde oder eines Gemeindeverbandes."

Genau hier sieht Köhler die verfassungspolitischen Bedenken. Schließlich hat die große Koalition mit großer Mehrheit eine Föderalismusreform verabschiedet, die die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern neu regeln sollte. Von Politikern der SPD und der Union wurde die Verabschiedung als großer Erfolg der großen Koalition gefeiert. Die Bedenken der zahlreichen Kritiker der Reform wurden weitgehend ignoriert. Nun sind dieselben Politiker erstaunt, wenn sie darauf hingewiesen werden, dass sie sich mit der Zustimmung zu der Föderalismusreform auch ein Stück weit selbst entmachtet haben. Schließlich heißt es dort ausdrücklich:

Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden.

Nur durch die Bundesländer können nach der aktuellen Gesetzeslage Kommunen und Gemeinden mit dem Vollzug von Bundesgesetzen betraut werden.

Vor den Folgen dieser Bestimmungen haben Kritiker vor der Verabschiebung des Gesetzes immer wieder gewarnt: So befürchteten Umweltschützer, dass ein Wettlauf um die niedrigsten Umweltstandards zwischen den einzelnen Bundesländern einsetzen könnte, weil die von den Bestimmungen eines einheitlichen Bundesumweltgesetzes abweichen können. Im Strafvollzug wurde eine unheilvolle Konkurrenz zwischen den Bundesländern ebenso befürchtet wie in der Bildungspolitik. Diese von breiten Teilen der Gesellschaft geäußerten Befürchtungen hat man ignoriert und das als Handlungsfähigkeit der großen Koalition verkauft. Mit den Folgen ihres eigenen Handelns konfrontiert, fällt den verantwortlichen Politikern nur eine Präsidentenschelte ein.

Flickenteppich

Die Folgen der Reform können gut bei der aktuellen Debatte um ein Rauchverbot verfolgt werden. Eine bundeseinheitliche Regelung wurde unter dem Jubel der Tabakindustrie in letzter Minute gekippt, weil die Politiker dieses Mal noch rechtzeitig einen Blick in die Föderalismusgesetze geworfen haben. Nun wären die Länder am Zuge und die waren sich erst einmal einig, dass sie sich uneinig sind.

Das ist nicht verwunderlich, denn die Länderregierungen sind dem Druck der unterschiedlichen Interessengruppen natürlich viel unmittelbarer ausgeliefert als die Bundesregierung. Jetzt wird vor einem Flickenteppich gewarnt, wenn jedes Bundesland seine eigene Regelung zum Nichtraucherschutz erlassen sollte. Eine einheitliche Einigung wird vermutlich nur möglich sein, wenn die Bestimmungen stark verwässert werden. So zeigt sich auch, dass die Föderalismusreform im Grunde denen nutzt, die einen schlanken Staat und eine starke Wirtschaft wollen. Kein Wunder also, dass die FDP eine noch viel weitergehende Reform fordert und jetzt auch zu den stärksten Verteidigern von Köhler gehört.

Selbstgeschaffene Sachzwänge

Die Föderalismusreform kann als Paradebeispiel eines selbst geschaffenen Sachzwangs heran gezogen werden. Die Politiker können darauf verweisen, dass sie ja Regelungen beispielsweise im Verbraucher- oder Nichtraucherschutz erlassen würden, aber leider seien ihnen eben die Hände gebunden. Dass sie sich mit der Zustimmung zu der Reform selber geknebelt haben, verschweigen sie lieber.

Doch die Föderalismusreform ist nur ein Beispiel für selbst geschaffene Sachzwänge. Auch die leeren Kassen, die immer herangezogen werden, um Sozialkürzungen aller Art zu rechtfertigen, sind nicht naturgegeben, sondern von den Politikern geschaffen. Wer die Unternehmensbesteuerung immer weiter reduziert, braucht sich nicht zu wundern, wenn kein Geld für Sozialprogramme vorhanden ist.

Auch die EU wird gerne als Sachzwang herangezogen, um Forderungen von Studierenden abzuwehren oder die Senkung von Sozialstandards zu begründen. Die Sachzwanglogik dient immer dazu politische und wirtschaftliche Interessen zu vernebeln. Stattdessen werden Naturgesetze oder angeblich nicht zu kontrollierende ausländische Machtzentren für politische Maßnahmen, die großen Teilen der Bevölkerung Opfer abverlangen, verantwortlich gemacht. Deshalb haben diese Sachzwangargumente immer eine doppelt regressive Tendenz. Einerseits wird den Menschen erzählt, es gäbe keine oder wenig Einflussmöglichkeiten in sie betreffende Politikbereiche. Andererseits wird der Zorn auf ausländische Instanzen gelenkt, die angeblich dafür verantwortlich sein sollen.

Diese Schuldverschiebung wird bei der Föderalismusreform sicher schwieriger sein als bei der EU-Debatte. Denn das großkoalitionäre Lob für diese Reform dürfte noch manchen Zeitgenossen in den Ohren klingen.