Deutsche Zustände 2006

Mehr Fremdenfeindlichkeit, mehr Angst vor Muslimen, die Demokratie verliert für mehr Bürger an Substanz

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Zeit der Jahresrückblicke naht und man kann sich sicher sein, dass dem "deutschen Sommermärchen" ein großer, prominenter Platz eingeräumt werden wird. Jubelszenen der deutschen Fußballer und ihrer Fans, das Meer der fröhlich geschwenkten Deutschlandfahnen: die Wiederentdeckung des Patriotismus in angeblich entspanntem Geist (Impressionen zum neuen deutschen Flaggenwahn). Wie entspannt der Nationalgeist tatsächlich daherwehte, konnte man im Sommer schon prüfen. Diejenigen, die der Party nicht so viel abgewinnen konnten und vor allem dem euphorisch zelebrierten neuen Nationalgefühl etwas skeptisch gegenüberstanden, wurden als verstockte Spaßverderber etikettiert und sahen sich in privatem Kreis und in Diskussionsforen einigen emotionalen Ausbrüchen ausgesetzt. Der bekannte Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld geht nun noch einen Schritt weiter als die Miesepeter, die kein Vergnügen an der Sommerparty fanden: Die Folgen solcher "Identitäts- Nationalstolzkampagnen" können sogar gefährlich sein, weil sie für viele die Abwertung der Fremden implizieren – nicht das einzige Ergebnis aus dem aktuell erschienenem fünften Teil der Heitmeyerschen Langzeitstudie "Deutsche Zustände", das dem Sommertraum im nachhinein eine kalte, erschreckende Frischluft aus den realen Verhältnissen zuführt.

Wilhelm Heitmeyers Forschungsprojekt "Deutsche Zustände" hat den Vorzug, dass es eine Langzeitstudie ist. Zehn Jahre lang kann man demnach Jahr für Jahr den Einstellungswandel der Deutschen zu rechtspopulistischen Themen ablesen und verfolgen. Heitmeyer hat sich in der Rechtsextremismusforschung einen Namen gemacht. Selbst wenn er seine eigenen Thesen gerne hin- und herwendet und sie von immer neuen Perspektiven aus beleuchtet, was ihm seitens anderer Forscher bisweilen angekreidet wird, so steht außer Frage, dass an seinen Untersuchungen zu den gesellschaftlichen Veränderungen in der Republik keiner vorbeisehen kann. Die Erkenntnisse, die Heitmeyer in seinem neuen Forschungsbericht präsentiert, nennt er "alarmierend".

Sie zeigen, dass die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland angestiegen ist: Knapp 50 Prozent sind allgemein fremdenfeindlich eingestellt. Beinahe jeder fünfte Deutsche neigt zu rechtspopulistischen Vorstellungen.

Das Ausmaß an Fremdenfeindlichkeit mit deutlicher Zustimmung dazu, dass es zu viele Ausländer im Lande gebe und sie nach Hause geschickt werden sollten, wenn die Arbeitsplätze knapp würden, nahm in den letzten Jahren kontinuierlich zu.

Besonders deutlich wird im neuen Bericht, dass die Skepsis bzw. sogar die Furcht vor den Muslimen in Deutschland gestiegen ist. Was den Antisemitismus betrifft, so beobachtet Heitmeyer nach dreijährigem, stufenartigem Rückgang der "klassischen Facetten des Antisemitismus" zwischen 2003 und dem Frühjahr 2006 einen erneuten Anstieg auf das Niveau von 2002 - nach dem Krieg zwischen der israelischen Armee und der Hisbullah.

Das mag manchem keine andere Reaktion als Achselzucken abnötigen, bedenklich ist dabei aber, dass es mehr und mehr Milieus der Mitte sind, die Einstellungen offenbaren, welche man gerne nur dem extremen rechten Rand, also einer Minderheit zuordnet:

Wenn es um den Mentalitätszustand dieser Gesellschaft geht, spielen weniger diejenigen eine besondere Rolle, die sich selbst an den linken oder rechten Rändern des politischen Spektrums verorten, sondern vorrangig fallen die mittleren Soziallagen und ihre Einstellungen ins Gewicht – schon allein wegen ihres Umfanges.
Sie gelten bislang als Synonym für Solidität der Lebensweise, Leistungs- und Aufstiegsorientierung sowie Einstellungen ohne extreme Positionen, kurz: als Garant von Normalität und politischer Stabilität. Nun zeigt sich eine sowohl beunruhigte als auch beunruhigende Mitte, denn die Kontrolle über die eigene Lebensplanung und das Reservoir von Anerkennungsmöglichkeiten werden in der Gesamtentwicklung von Desintegrationsängsten und -erfahrungen auch für sie prekär, und feindselige Mentalitäten greifen Platz.

“Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“

Anders als etwa eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung bestärkt die Forschung Heitmeyers die gängige These, wonach Fremdenfeindlichkeit und Sympathie für rechtspopulistische Formeln und Einstellungen vor allem im Osten Deutschlands zu finden seien. Zwar gibt es auch im Westen Länder, wie zum Beispiel Bayern, die hier über dem gesamtdeutschen Durchschnitt liegen, aber besonders ausgeprägt sind ausländerfeindliche Mentalitäten in ländlichen Gemeinden und Kleinstädten im Osten.

Der Konformitätsdruck sei hier stark, und da die Abwanderungsbewegung in solchen Gemeinden groß ist, werden hausbackene Einstellungen noch weiter verstärkt, Meinungsdissidenten sind dort selten (und wahrscheinlich bedroht). Das diesbezügliche Schlagwort stammt von Heitmeyer selbst und wird von anderen Sozialwissenschaftlern gerne übernommen: "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit". Sie kann sich in kleineren Gemeinden deutlich besser durchsetzen als in Städten.

Die höchsten Zustimmungen zu feindseligen Äußerungen finden wir in dörflichen Gemeinden und Kleinstädten Ostdeutschlands. Besorgniserregend ist das deshalb, weil in Ostdeutschland eine ländlich-kleinstädtische Siedlungsstruktur dominiert. Hinzu kommt, dass mit der Abwanderung von gut ausgebildeten jungen Menschen ein systematischer Selektionseffekt entsteht. Das lässt erwarten, dass sich das Verhalten derjenigen, die bleiben, noch weiter homogenisiert. In den abwanderungsstarken Kommunen und Regionen gibt es einen niedrigeren Bildungsgrad, eine höhere Angst vor Arbeitslosigkeit, ein größeres Gefühl politischer Machtlosigkeit und stärkere mangelnde soziale Unterstützung als in abwanderungsschwachen Regionen.

Solche Befunde sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, da sich in diesen Problemzonen deutlich zeigt, was woanders nicht so leicht erkannt wird: die Entkernung der Demokratie, welche für erschreckend viele zur bloßen Fassade heruntergekommen ist. Der Rechtsextremismusforscher nennt das Syndrom: "Demokratieentleerung". Die Gefahr ist, dass sich solche Strukturen eingraben und nicht mehr rückgängig zu machen sind. Es würde künftig sehr auf das Verhalten der ökonomischen und politischen Eliten ankommen, ob sich solche Verhältnisse dauerhaft manifestieren, warnt Heitmeyer.

Nimmt man aber beispielsweise die Stimmung unter Angehörigen dieser Eliten während der WM als Indiz, so ist von dieser Seite keine große Aktivität zu erwarten, die sich um die Kehrseite des neuen Patriotismus kümmert. Bestätigt wird eher der Eindruck, dass man eben auf Stimmung setzt, die man sich nicht verübeln lassen will, dass Nationalstolz schon richten könne, was der Arbeitsmarkt nicht schafft und größer werdende soziale Kluft an Unzufriedenheit und Angst schürt: Optimismus, ein „gutes Lebensgefühl“ oder Einheitsräusche statt Frust, Wut und Neid.

Für Heitmeyer haben derart aufgeladene Identitätskampagnen, wie etwa "Du bist Deutschland" oder die Forcierung von Nationalstolz, wie es der Großteil der Medien und Politiker in diesem Sommer während der WM zelebrierten, eine ambivalente Wirkung. Unter den vorherrschenden Bedingungen der sozialen Desintegration könnten solche Diskurse "menschenfeindliche Züge" annehmen:

Es ist daher riskant, soziale Desintegration mit Nationalstolz kompensieren zu wollen. Dies hat sich auch bei der Fußballweltmeisterschaft gezeigt. Der "neue" Nationalstolz in Schwarz-Rot-Gold wurde allgemein begrüßt. Die Auswertung der Daten unserer Längsschnittstudie von 2002 und 2006 zeigt jedoch, dass Nationalstolz einen signifikanten Einfluss auf fremdenfeindliche Einstellungen hat: Je höher die Identifikation mit Deutschland und je größer der Stolz auf die eigene Gruppe, desto stärker werden Fremdgruppen abgewertet. Dies ist zusätzlich problematisch, weil sich empirisch zeigt, dass die Integrationsbereitschaft der Mehrheit gegenüber Minderheiten und insbesondere gegenüber Muslimen abnimmt.