Steinzeitdenken im Informationszeitalter?

Der erste deutsche IT-Gipfel wurde mit einer "Erklärung von Potsdam" beendet, klein- und mittelständische Unternehmen, Datenschützer und die Zivilgesellschaft waren ausgegrenzt

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Die erklärte Absicht des ersten deutschen IT-Gipfels, der am 18. Dezember 2006 in Potsdam stattfand, verdient erst einmal Beifall. Gut ist, dass die Bundesregierung ein reichliches Jahr nach dem 2. UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) das Thema als ein wichtiges politisches Leitthema erkannt hat. Gut ist auch, dass die Regierung mehr als eine Milliarde Euro in die Hand nehmen will, um Forschung und Entwicklung im IT-Bereich zu stimulieren. Noch besser ist, dass sich Ministerpräsidenten, Minister und Staatssekretäre zusammen mit den Bewohnern der Chefetagen großer Unternehmen fast einen ganzen Tag nur mit diesem Thema beschäftigten. Ein solcher thematischer Dauerbeschuss kann nachhaltige Wirkungen haben, auch auf jene höheren Beamte und Bosse, der sich noch immer die e-Mails von ihren Sekretärinnen ausdrucken lassen. Ob aber dieser IT Gipfel auch tatsächlich das erreichen wird, was er sich in den 12 Punkten von Potsdam vorgenommen hat, steht auf einem anderen Blatt Papier.

Exklusion vs. Inklusion: Das WSIS-Modell

Natürlich gibt es auf den fünf Seiten der Potsdamer Erklärung neben vielen Lippenbekenntnissen und ein bisschen heißer Luft auch eine ganze Menge sachgerechter Vorschläge und konkreter Initiativen. Ordentliches Ranklotzen bei Bildung und Forschung, Förderung von Spitzentechnologien und die umfassende Vernetzung aller Bundes- und Landesverwaltungen zur Beschleunigung der Kommunikation mit Wirtschaft und Bürger sind gute Vorhaben. Sie erfordern das energische Agieren von vielen Stakeholdern.

Aber genau an diesem Punkt, d.h. bei der Einbindung von allen Betroffenen und Beteiligten in eine in sich stimmige Gesamtstrategie, kam bereits im Vorfeld des IT-Gipfels "Unmut" auf. Insbesondere die deutsche zivilgesellschaftliche Netzgemeinde, die im WSIS-Prozess international eine führende Rolle gespielt hatte, fühlte sich bei der Vorbereitung des nationalen IT-Gipfels durch die Bundesregierung außen vor gelassen. Im Ausland, wie z.B. unlängst bei Präsident Putin in Russland, setze sich die Bundeskanzlerin gerne für Nicht-Regierungsorganisationen ein, im eigenen Land aber werden die heimischen NGOs schlichtweg ignoriert, grummelte es in der Netzgemeinde vom Bibliotheksverband bis zum Datenschutzverein, von Creative Commons bis zur FOSS Community, von Attac bis zum CCC.

In einem offenen Brief wandte man sich an die Kanzlerin um auf die Schieflage aufmerksam zu machen. Die konzeptionelle Verengung des IT-Gipfels auf überwiegend technische und wirtschaftliche Aspekte wurde kritisiert. Damit, so die NGOs, blieben erhebliche gesellschaftlicher Potentiale, die man zur Erreichung der proklamierten wirtschaftlichen Ziele benötige, ungenutzt. Die deutsche Zivilgesellschaft argumentierte dabei mit dem Verweis auf den UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft:

Im Rahmen des WSIS-Prozesses wurde fünf Jahre lang über die verschiedenen Ansätze diskutiert mit dem Ergebnis, dass die technischen und wirtschaftlichen Aspekte nicht separiert werden können von den gesellschaftspolitischen und sozialen Implikationen der neuen IT Technologien. In der WSIS-Deklaration hat man sich daher auf ein breites Konzept von der Informationsgesellschaft verständigt, das auf den Menschen orientiert ist. Das spiegelt sich auch in dem vom WSIS Prozess entwickelten Grundprinzip wider, wonach die Gestaltung der Informationsgesellschaft die volle Einbeziehung von Regierungen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft in ihren jeweiligen spezifischen Rollen und Verantwortlichkeiten erfordert. Das Internet mit seinen großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten schafft auch neue interaktive Formen der Beziehungen zwischen den beteiligten Stakeholdern: zwischen Regierungen und Bürgern ebenso wie zwischen Anbietern und Nutzern von Produkten und Dienstleistungen.

Nach Ansicht der Zivilgesellschaft würde diesem Prinzip beim IT-Gipfel nur unzureichend Rechnung getragen.

Die in den sieben Arbeitskreisen des geplanten IT Gipfels berührten wirtschaftlichen Fragestellungen lassen sich nicht trennen von gesellschaftspolitischen Fragen wie Meinungsfreiheit und Datenschutz im Cyberspace, Verbraucherschutz bei eCommerce, Bürgerbeteiligung bei eGovernment, freie Software und offene Publikationsmodelle. All diese gesellschaftlichen Fragen sind auch von hoher wirtschaftlicher Relevanz. Wirtschaftliche Projekte, die das Thema der digitalen Spaltung und/oder digitalen Ausgrenzung ignorieren, lassen zukünftige Marktpotenziale ungenutzt.

Klage kam wenig später auch vom Bundesdatenschutzbeauftragten und von den klein- und mittelständischen Unternehmen, die sich gleichfalls ausgegrenzt fühlten. Die Bundestagsfraktionen der "Linken" und der "Grünen" nahmen diese Vorlage gleichfalls auf und die "Grünen" stellten sogar eine kleine parlamentarische Anfrage, deren Beantwortung die Bundesregierung erst einmal auf die Zeit nach dem IT-Gipfel verschoben hat.

Prinzip "Weiter so"

Bewirkt haben Brief, Anfragen und kritische Kommentare offensichtlich nichts. Schaut man sich die Potsdamer Erklärung etwas genauer an, geht es auch nach dem IT-Gipfel mit dem bereits davor kritisierten verengten Ansatz des exklusiven Dialogs zwischen (ausgewählten) Politikern und (ausgewählten) Wirtschaftslenkern unter Ausschluss von klein- und mittelständischen Unternehmen, Datenschützern und der Zivilgesellschaft weiter.

Die Bundesregierung wird demnach einen "hochrangigen" Koordinierungskreis gründen, der dann mit "hochrangigen" Vertretern der Wirtschaft mehr oder weniger darüber weiterkungelt, welche Fördermillionen wer kriegen soll (wie im Fall der jetzt offensichtlich gescheiterten Suchmaschinenprojekts Quaero) und welche rechtlichen Bevorzugungen gebraucht werden (wie im Fall der flächendeckenden Breitbandverkabelung durch die Deutsche Telekom), um die deutsche IT-Industrie und damit unser Land "stark" zu machen. Ein solches Konzept führt dann logischerweise zu etwas einseitig ausgerichteten Projekten wie die RFID-Offensive oder das neue Suchmaschinenprojekt "Theseus", das jetzt den Wettbewerb mit Google aufnehmen soll.

Natürlich wäre es gut, wenn Google europäische Konkurrenz bekäme. Natürlich ist es gut, wenn deutsche IT Unternehmen weltweit marktführend auf ihren Gebieten werden. Aber die Denkweise, man brauche nur ein paar Top Leute aus Politik und Wirtschaft zusammenbringen, Geld in die Hand nehmen und dann "von oben" einfach "durchstellen" ist nach all den komplexen gesellschaftlichen Veränderungen die in den letzten zwanzig Jahren mit der Entwicklung des Internets einhergingen - und die in Deutschland wegen der Überbeschäftigung mit der Bewältigung der deutschen Einheit partiell nicht wahrgenommen worden - schlicht gesagt von vorgestern.

Im Informationszeitalter ist "Top Down" so etwas wie Steinzeitdenken. Wer auf diese Weise plant und agiert, hat noch nicht begriffen, dass die Hierarchien der Industriegesellschaft so in der Informationsgesellschaft nicht mehr funktionieren. Spätestens seit Manuel Castells Ende der 90er Jahre über die "Network Society" geschrieben hat, sollte es eigentlich zu den Binsenweisheiten eines modern handelnden politischen Personals gehören, dass es die Netzwerke sind, aus denen die Dynamik sowohl der wirtschaftlichen als auch der gesellschaftlichen Entwicklung im 21. Jahrhundert kommt.

Die Bundeskanzlerin hat zwar im Potsdam immer wieder von Vernetzung gesprochen, aber offensichtlich ist damit nur eine bessere Telefonverbindung zwischen dem Minister und dem Vorstandsvorsitzenden gemeint. Die Netzwerke der Informationsgesellschaft sind hingegen offen und transparent, konstituieren sich von unten und lassen vor allem Raum für Innovation und Kreativität. Und die kommt häufig, wie alle die Internet-Erfolgsgeschichten der letzten Dekade zeigen - Yahoo, eBay, Amazon, Skype, Google, MySpace, Facebook, YouTube - von den "Enden" des Netzwerkes und nicht aus der Zentrale einer Hierarchie.

Wenn die Betroffenen und Beteiligten nicht in die Netzwerke, von denen die Bundesregierung jetzt spricht, eingebunden sind, sondern in die Rolle von passiven Konsumenten gedrängt werden, denen man dann nur noch die hinter verschlossenen Türen gefällten Entscheidungen richtig erklären muss, der hat in der Tat noch nicht verstanden, dass die technische Revolution des Informationszeitalters weit reichende gesellschaftspolitische Implikationen hat.

Time-"Mann des Jahres" in Potsdam vor der Tür

Fataler hätte es eigentlich für die Bundesregierung gar nicht kommen können. Einen Tag vor dem Gipfel kürte das amerikanische Nachrichtenmagazin "Time" den "Internetnutzer" zum "Mann des Jahres", die Bundesregierung aber setzt ihn vor die Tür. Sie spricht von der Notwendigkeit einer Aufbruchsatmosphäre, von neuem Spaß am Informatikstudium und von lauter neuen IT-Dienstleistungen, aber der Bürger/Nutzer/Konsument/Netizen wird de facto entmündigt. Wie das zusammengehen soll, bleibt rätselhaft.

Immerhin sollen nach Artikel 10 der Potsdamer Erklärung, der das Thema "Sicherheit" behandelt, im neuen Verein "Deutschland sicher im Netz e.V." auch nichtstaaliche Organisationen (NGOs) mit machen. Die interessante Frage nach dem IT-Gipfel ist nun die, ob dieser Verein ausgebaut werden soll zu einer neuen gesellschaftspolitischen Innovation nach dem Muster der "Dynamic Coalitions" die jüngst beim Internet Governance Forum (IGF) in Athen auf globaler Ebene gebildet wurden. Bei diesen IGF-Koalitionen suchen betroffene und beteiligte Vertreter von Regierungen, der Privatwirtschaft und der Zivilgesellschaft auf gleicher Augenhöhe in ihren jeweiligen spezifischen Rollen und Verantwortlichkeiten miteinander Antworten auf die Zukunftsherausforderungen (Eine Erfindung für die Globalpolitik).

Solche "nationalen dynamischen Koalitionen" als Follow-Up des IT-Gipfels wären eigentlich eine gute Sache. Zu "Deutschland sicher im Netz" gehört ja auch, dass sich die Bürger nicht nur vor Phishern und Pädophilen sicher fühlen, sondern dass auch ihre persönlichen Freiheitsrechte respektiert werden. Eine kritische gesamtgesellschaftliche Reflektion über Sicherheit im Cyberspace ist mehr als notwendig, um konfligierende Wertvorstellungen und Rechtsgüter neu miteinander auszubalancieren. Wenn der Sicherheits-Verein aber "multistakeholderism" lediglich simuliert und nicht mehr sein soll als ein kollektiver Organisator, Agitator und Propagandist, der die Politik des Bundesinnenministeriums - Schirmherr des Vereins - an die Massen bringt, wird das Klassenziel wohl eher verfehlt werden.

Nachdem die vom Gipfel aufgewühlten Gewässer sich wieder beruhigt haben, wird es nun interessant sein zu beobachten, wie es denn weitergeht und wie man von A nach B und dann vielleicht auch mal nach C gelangt. Die Kanzlerin ist offensichtlich auf konkrete Resultate aus. Sie will schon zur CEBIT 2007 handgreifliche Resultate sehen. Eine kurze Zeit, in der natürlich nicht die Versäumnisse von zehn Jahren - z.B. im Bildungssektor - aufgeholt werden können. Aber irgendwann muss man ja mal mit der Weichenstellung beginnen. Warum also nicht 2007. Ein zweiter IT-Gipfel ist für den kommenden Herbst anvisiert.