Das Quälen von virtuellen Personen wird als real empfunden

Wissenschaftler haben das bekannte Milgram-Experiment in einer immersiven VR-Umgebung wiederholt

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Eines der wegen seiner erschreckenden Ergebnisse bekanntesten Experimente ist neben dem Stanford Prison Experiment das so genannte Milgram-Experiment aus den 60er Jahren. Getestet wurde hier die Bereitschaft von normalen Menschen, andere Menschen entgegen ihrer sonstigen Einstellung zu quälen, wenn dies in einem bestimmten Setting geschieht. Im Milgram-Experiment wurde den Versuchspersonen gesagt, dass sie an einem wissenschaftlichen Experiment über Lernen und Bestrafen teilnehmen. Bei Fehlern sollten die Versuchspersonen ihren von Schauspielern dargestellten "Schülern", die auf einem Stuhl festgebunden waren, auf Anordnung der Versuchsleiter zunehmend stärkere Elektroschocks versetzen. Die "Schüler" zeigten daraufhin entsprechende Schmerzreaktionen. Zwei Drittel der Versuchspersonen gehorchten den Versuchsleitern und steigerten die Elektroschocks bis zur maximalen Stärke.

Milgram selbst hatte das Gehorsams- oder Autoritätsexperiment in weiteren Varianten mit ebenfalls interessanten Ergebnissen erforscht. Für den Gehorsam, einem anderen Menschen Schmerzen zuzufügen, ist nach den Ergebnissen sowohl die Nähe des Versuchsleiters als der Autoritätsperson als auch die des bestraften Schülers bedeutsam. Aufgrund ethischer Bedenken wurde das Experiment in der Folge nicht mehr ausgeführt.

In seinem Buch über Folter wies der Historiker McCay darauf hin, dass das Milgram-Experiment möglicherweise von der CIA finanziert wurde, da man in dieser Zeit neue Foltermethoden entwickelte (Foltern soll geheim bleiben). Interessant an dem Experiment ist, unter welche Bedingungen Menschen ihre normalen moralischen Hemmungen überwinden und andere für irgendeinen vermeintlich guten Zweck quälen. Das Experiment wurde auch zur Erklärung des Abu Ghraib-Skandals herangezogen (Das Böse steckt im System).

Nun hat Mel Slater, der am Virtual Reality Centre of Barcelona der Universitat Politècnica de Catalunya und am Department of Computer Science der University College London tätig ist, mit Kollegen das Milgram-Experiment als Simulation wiederholt. Über das Experiment berichten sie in der aktuellen Ausgabe des Open Access Journal PLoS One. Während im originalen Experiment den Versuchspersonen der Eindruck vermittelt wurde, dass der "Schüler", den sie strafen sollten, wirkliche Scherzen erleidet, spielte in diesem Fall eine virtuelle Akteurin die Schülerin. Die Versuchspersonen wussten also von vorneherein, dass niemand wirklich Schmerzen erleidet, wenn sie Elektroschläge erteilen.

Bild: Mel Slater/Plos One

Bei dem neuen Experiment wurde eine immersive virtuelle Umgebung geschaffen. Mit der CAVE-Technik befindet sich der Benutzer über Stereo-Großbildprojektionen auf drei vertikalen Screens und einem am Boden in einer 3D-Simulation. Dabei erfolgt eine visuelle Rückkopplung in Echtzeit über einen Kopftracker. In einer solchen virtuellen Realität fehlen die Vergleiche zur äußeren Realität. Daher reagieren Menschen auf diese Realität, aber auch auf virtuelle Akteure ähnlich wie auf eine materielle Wirklichkeit oder wirkliche Personen, weswegen man in solchen Umgebungen auf Handlungen in der physikalischen Realität vorbereiten (Flugsimulatoren, Kampfsimulationen etc.) oder auch therapeutisch beispielsweise Ängste behandeln kann. Die Versuchsperson las der virtuellen Akteurin jeweils fünf Worte vor, auf die die "Schülerin" eine von vier möglichen Antworten geben sollte. Von 32 Durchgängen wurden in 20 Fällen falsche Antworten gegeben, wobei sich die Fehlerhäufigkeit im Laufe der Zeit steigerte. Die Versuchsperson hatte vor sich einen Knopf, mit dem sie Elektroschocks auslösen konnte, und eine Anzeige für die Stärke sowie einen Hebel zur Einstellung der Stromstärke. Beim Auslösen des virtuellen Elektroschocks ertönte ein entsprechendes Geräusch. Der Versuchsleiter wies die Versuchsperson bei jeder falschen Antwort an, die Stromstärke heraufzusetzen.

Die Versuchspersonen, bei denen der Hautwiderstand gemessen und ein EKG abgenommen wurde, erhielten wie im Milgram-Experiment Geld für ihre Teilnahme. Ihnen wurde gesagt, dass sie jeder Zeit den Versuch abbrechen könnten und dass es sich nur um eine virtuelle Person handelt. Die Forscher interessierte neben der Wiederholung des Milgram-Experiments, ob die Versuchspersonen mit einer virtuellen Person, die ihnen gegenüber sitzt, ähnlich wie mit einem wirklichen Menschen umgehen und ob sie diese als real empfinden würden, obgleich sie wussten, dass ihr Gegenüber nur eine virtuelle Person war. Im Grunde ist die Situation dadurch noch verzwickter, wie die Autoren schreiben, weil es ja "nur" darum geht, ob sie gehorsam und verpflichtet durch das Geld einer virtuellen Person virtuelle Schmerzen zufügen.

Bild: Mel Slater/Plos One

Der Versuch wurde in zwei Varianten durchgeführt. Für 23 Versuchspersonen war die virtuelle Akteurin sicht- und hörbar, reagierte auf die Schocks durch Schmerzäußerungen und Proteste und verlangte von der Versuchsperson, mit den Schocks aufzuhören. Allerdings waren die Reaktionen nicht so dramatisch wie beim Milgram-Experiment. Beim stärksten Schock fiel sie vornüber und blieb leblos. Die übrigen 11 Versuchspersonen konnte sie nicht sehen, überdies antwortete sie nur schriftlich und es gab keine Proteste oder Äußerungen des Schmerzes. Hier führten alle Versuchspersonen alle 20 Elektroschocks bis zur höchsten Stärke aus, während bei denjenigen, die die virtuelle Person sehen und hören konnten, dies nur 17 machten. Davon sagten 12 nach dem Versuch, dass sie daran gedacht hatten, vorzeitig abzubrechen, in der anderen Versuchsgruppe sagte dies nur eine Versuchsperson. Einige gaben an, das Milgram-Experiment zu kennen, was aber nach den Wissenschaftlern keinen Unterschied in der Reaktion ergab.

Nicht erstaunlich ist, dass die Versuchspersonen, die die von ihnen traktierte virtuelle Person in der immersiven Simulation sehen und hören konnten, physiologische Zeichen von Stress zeigten, während bei der andere Gruppe der Unterschied zwischen den Ergebnissen vor dem Test und in diesem sehr viel geringer und nicht signifikant war. Sie reagierten also auf die virtuelle Akteurin ähnlich wie auf einen wirklichen Menschen, obgleich die visuelle Darstellung der Person und ihr Verhalten wenig realistisch waren.

Trotz ihres Wissens, keinen Menschen vor sich zu haben, reagierten die Versuchspersonen auf die virtuelle Akteurin, die sie sehen und hören konnten, mit einer deutlich messbaren Erregung während des Austeilens der Elektroschocks. Im Unterschied etwa zur Reaktion auf einen Film, der ähnliche physiologische Stressreaktionen verursachen kann, richteten sich die Versuchspersonen an die virtuelle Akteurin. Zwei versuchten auch, ihr zu helfen, viele zögerten erst, bevor sie auf den Knopf drückten. Einige fragten den Versuchsleiter nach weiteren Anweisungen, kicherten über die Fehler oder zeigten sich frustriert über die schlechte Leistung der virtuellen Akteurin. Bei Nachfragen nach dem Test sagten einige Versuchspersonen, dass sie sich gefragt hatten, ob das wirklich nur eine Simulation sei oder wie es wäre, wenn es real sei.

Die Wissenschaftler gehen nach ihrem Experiment davon aus, dass mit immersiven VR-Simulationen zahlreiche psychologische oder sozialpsychologische Versuche durchgeführt werden können, die Aufschlüsse über das Verhalten von Menschen geben können. Dass die Versuchspersonen auf die virtuelle Akteurin ähnlich wie auf einen Menschen reagieren, führen die Wissenschaftler neben der Immersion darauf zurück, dass das Gesicht mit den Augenbewegungen und der Mimik bereits einigermaßen realistisch war und dass sie geatmet, gesprochen und mit Schmerzen auf die gegebenen Schocks reagiert hat. Nicht zuletzt dürfte eine Rolle gespielt haben, dass die virtuelle Akteurin die Versuchspersonen direkt angeschaut hat und sie auch bat, mit den Schocks aufzuhören.

In vielen Hinsichten unterscheiden sich "Killerspiele" von der Erfahrung in einer immersiven Umgebung mit einer virtuellen Person, die mit dem Spieler interagiert ("Killerspiele" und Gewaltdarstellung). Gleichwohl könnte das Milgram-Experiment mit der simulierten Person auch die Argumente derjenigen stärken, die vor den Gefahren warnen, die von den brutalen Spielen ausgehen, da Menschen unter bestimmten Bedingungen ähnlich auf virtuelle Akteure wie auf Menschen reagieren. "Natürlich weiß jeder, dass nichts wirklich passiert", sagt Slater. "Aber einige Teile des Wahrnehmungssystems verstehen das als wirklich. Ein Teil des Gehirns kennt die Virtuelle Realität nicht."

Die Wissenschaftler selbst sagen, dass man vermutlich wirkliche Situationen nicht so realistisch simulieren könne, dass die Menschen nicht mehr Wirklichkeit und Simulation unterscheiden könnten. Würde die Simulation aber so perfekt sein, dann würde das ethische Problem, aufgrund dessen man das Milgram-Experiment nicht mehr wiederholt hatte auch bei simulierten Versuchen entstehen.