Aktuelle und zukünftige Medientrends

Quo vadis TV?

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Selbst die allgegenwärtige „Glotze“ macht sich mittlerweile Sorgen um ihre Zukunft. Das Fernsehen und die Fernsehanbieter, wie wir sie kennen, könnten in Zukunft verschwinden. Nicht, dass es gar kein Fernsehen mehr gäbe, aber die klassische heutige Art des Fernsehens, genauso wie die heutigen Fernsehsender selbst, könnte es in Zukunft nicht mehr geben. Die selbst gewählten Beschleuniger und Veroberflächlicher wie die viel zitierte Digitalisierung, die Konvergenz der Medien sowie die neue Rollenverteilung zwischen Produzenten, Inhalte- und Plattformanbietern sind ein Teil dieses Umwälzungsprozesses, der längst alle Medien heimsucht und verflacht.

Die Branche frisst sich selber: Kein Medienanbieter ist mehr bereit, auf einem Geschäftsfeld zu bleiben, konsequent nur Fernsehen, Radio, Internet oder Gedrucktes zu machen und das dafür richtig. Heute will dagegen jeder alles, und das sofort: Liegt der Content erst einmal digitalisiert vor, so muss er vom Newsdesk auch möglichst schnell, verlustfrei und ohne langes Zögern und Nachdenken unter die Leute, und zwar auf allen Wegen: TV, Internet-Video, Web, Newsletter, Papier – was nur auf den ersten Blick außer sprachlich nichts mit Inkontinenz und auf jeden Fall sehr viel mit Inkonsequenz zu tun hat.

Schöne neue Medienwelt: "Leser-Reporter" aus „Epic 2015“

„Zweitverwertung“ war früher die geheime Chance der Kleinen, der Autoren, der freien Journalisten. Diese konnten beispielsweise ein recherchiertes Thema zunächst einer Tageszeitung für die Computerecke, anschließend einem Onlineangebot für Briefmarkensammler und dann noch einem Fachmagazin für Modellflug verkaufen – nur so waren aufwendige Recherchen überhaupt refinanzierbar. Den Leser störte dies nicht, da sich die Kreise normal nicht überschnitten und die Beiträge auch nicht identisch, sondern auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten waren.

“Über Nacht noch mal geschlafen“ wird heute über keinen Text mehr

Heute dagegen zweitverwerten normal nicht mehr die Autoren, deren Text mit einmaligem Verkauf ohnehin bereits restlos „verbrannt“ ist, da er über die Webangebote Google bekannt wird. Dies führt dazu, dass das Modellbaumagazin bei einer kurzen Nachrecherche ohne große Mühe und nicht mal beabsichtigt auf den für die Briefmarkensammler geschriebenen Text stößt und das Thema folglich entweder ganz ablehnt oder dem Autor dafür nur noch 50% bezahlt. Die Zweitverwerter sind heute vielmehr die Verlage, wobei es nicht mehr wie früher um Nachdrucke und Sonderhefte geht, sondern um „Multimedia“. Manche Verlage lassen sich von den Autoren schon vorab die Rechte auf alles geben, bis zum Recht auf Theateraufführung des gelieferten Beitrags, die bei einem Test eines neuen WLAN-Systems zugegeben eher zur komischen Oper geraten dürfte. Aber ohne Zusatzhonorar, das ist der Unterschied zur früheren Zweitverwertung durch die Autoren, wird die WLAN-Test-Oper also zum Hit, so wird der Autor vielleicht berühmt, aber ganz bestimmt nicht reich.

Außerdem ist immer mehr Tempo angesagt: Es geht im Web nur noch um schnelle Tickermeldungen, die Hits bringen. Die einmalige Chance, gerade online keine Platzprobleme, keine Zwänge, Texte auf fixe Seitenzahlen zurechtstutzen zu müssen, zu haben und den Text genau so bringen zu können, wie er vom Autor geschrieben wurde, wird nicht mehr genutzt: Drei kurze Texte oder Fotostrecken bringen mehr Klicks und damit Werbeeinnahmen als ein langer Text, auch wenn letzterer den Leser mehr fesselt und wiederkommen lässt. Es ist also nur noch ein Wettrennen, wer Agenturmeldungen am schnellsten auf seine Seite kopiert. Wer eigene Texte schreibt, ist bereits im Hintertreffen; wer nachrecherchiert, ebenfalls. Und jeden Tag wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben.

Wer die druckfrische Wissenschaftszeitschrift aufschlägt, findet nun also auf den Newsseiten die Meldung, die er zwei Wochen vorher bereits auf der Website der Zeitschrift las, nachdem er als Abonnent eine E-Mail mit Hinweis auf die Meldung erhalten hatte. Doch daran erinnert er sich nicht bewusst, nur dass er die Meldung bereits kennt, bemerkt er. Die schöne glänzende Vierfarbdruck-Zeitschrift fliegt in die Ecke, sie ist ja offensichtlich schon total veraltet, die teuer bezahlte Werbung darin sieht niemand mehr. Der Abonnent kündigt, er bekommt ja alles „Wichtige“ bereits schneller und kostengünstiger online. Und die Zeit, die schönen langen Hintergrundgeschichten nach den Newsseiten zu lesen, hat er ohnehin nicht mehr, seit er täglich stundenlang im Web rumklickt. Papier entspannt auf dem Sofa zu lesen – igitt, das ist ja, wie einen Spielfilm wie im Kino von Anfang bis Ende anzusehen, statt alle drei Minuten den Kanal zu wechseln und am Schluss erschöpft bei albernen Wetten in "Wetten dass?" oder einer lustigen, aber anspruchslosen Talkshow hängen zu bleiben, in der eine Rechtsanwältin gerade der ganzen klick- und zappfrustierten Nation von ihren intimsten Hobbys berichtet.

“Zumüllen“ ist angesagt – auf Produzenten- wie Konsumentenseite

So wie die – in kleinem Maßstab, bei Nischenthemen mit wenig Seitenabrufen und somit Hostingkosten – Kostengünstigkeit von Online-Angeboten einst Idealisten dazu brachte, vom Konsumenten zum Mitwirkenden zu werden und mit SELFHTML ihre Webseiten ins Netz zu stellen und später weit einfacher Blogs, die einige gelegentliche Perlen zu bieten haben, aber viele reine ich auch!’s, halten es inzwischen auch die Profis, nur im Massen-Maßstab: Es wird recycelt, wiederverwertet, was das Zeug hält und die billige Produktion verführt zum wortwörtlichen Massennachrichtenmedium: Statt wie früher Nachrichten zu filtern und dem Leser nur wirklich Interessantes zu bieten, prasselt nun das Rauschen der Nachrichtenagenturen immer ungefilteter auf den Leser ein. Er klickt sich ein, zwei Stunden scheinbar aktiv wissbegierig durch die Meldungen und bleibt doch erschöpft und unbefriedigt zurück, weil so viel ungelesen bleibt. „Zapping extrem“ – hier ein neues Fenster, da ein Hyperlink – das Stöbern im Internet ist mittlerweile desorientierender als ein Fernsehabend mit Zapping in den Werbepausen.

Ebenso desorientierend und desorientiert ist die Arbeit auf Redaktionsseite geworden: mal wird die Online-Abteilung mit großem Tamtam ausgebaut und es werden mal eben stolz 25 neue Arbeitsplätze versprochen, aber billige hungrige Jungkräfte ohne Familie bitte, keine nach Tarif arbeitenden erfahrenen Journalisten, die auch einen Feierabend zu schätzen wissen. Dann wieder wird alles zurückgefahren und kräftig entlassen, und die nicht mal eine Handvoll verbliebenen Mitarbeiter dürfen sich aufarbeiten, bis sie freiwillig kündigen. Und statt ein schönes Print- oder Online-Objekt mit Qualität zu machen, darf der Redakteur einer Händlerzeitschrift auf Wunsch der Verlagsleitung, die angesichts der einbrechenden Anzeigeneinnahmen mehr Ertrag wünscht, nun zusätzlich auch noch Newsletter, Website, Web-TV und Veranstaltungen aufziehen. Aktionismus pur! Während der damit angesprochene Händler, der so schon von morgens bis abends arbeitet, von diesem Information-Overflow und der von Newslettern verstopften E-Mail-Box völlig verschreckt ist, auch seinen Mitarbeitern niemals gestatten würde, ihre Arbeitszeit mit langwierigem Web-TV-Gucken und Herumgeklicke zu verplempern und kurzerhand das (kostenlose!) Abo der Händlerzeitschrift cancelt, um nicht völlig in Pseudonews unterzugehen. Was den Verlag nur dazu veranlasst, von den Redakteuren noch mehr Aktivitäten einzufordern, um die wegbrechende Auflage zu retten…

Für Zeitungen ist dies tödlich: Sie, die immer das hektische Newsmedium waren, sind nun beim Druck bereits veraltet und haben nur den taktischen Vorteil, dass man morgens sein müdes Gesicht hinter einem PDA in der U-Bahn nicht verstecken kann. Fernsehen ist dagegen schon seit Jahrzehnten laut, hektisch und oberflächlich geworden und erhebt ja selbst proaktiv massive Besitzansprüche auf online – inhaltlich ebenso wie finanziell. Das Fernsehen ist also vom neuen Multimedia-Trubel nicht gefährdet? Falsch!

Panische Hektik auch bei den technischen Anbietern

Zur Zeit wird Fernsehen über Satellit, Kabel, terrestrischen Empfang, über das Internet und über Mobilfunk (UMTS, DVB-H, DMB) zum Empfänger transportiert. Die Plattformbetreiber selbst stehen in starker Konkurrenz zu einander, möchte doch jeder Kunden gewinnen, um irgendwann einmal profitabel zu arbeiten. Es wird also wieder dasselbe hoffnungslose Verzetteln begonnen wie bei den Inhalte-Anbietern (Keine Skrupel, sondern Quadrupel) Dafür werden dann auch schon mal Set-Top-Boxen verschenkt, Telefon- und Internet-Flatrates oder gar kostenlose Kaffeemaschinen als Beigabe angeboten oder zeitlich limitierte kostenlose Schnupper-Abos offeriert.

Bis auf das umfangreiche Free-TV-Bouquet via Satellit muss der TV-Konsument sowieso schon für den Anschluss in die Tasche greifen, unabhängig von zusätzlichen Bezahl-Angeboten und dem öffentlich-rechtlichen Pflichtbeitrag. Und auch mit der Freiheit der „von den Sternen“ kommenden Programme soll es zu Ende gehen: Zur Zeit wird von einer ASTRA-Tochtergesellschaft eine technische Plattform unter der Bezeichnung Entavio aufgebaut, mit der das Fernsehvergnügen via Satellit irgendwann kostenpflichtig sein wird (Sat1, Pro7 und RTL ab 2006: Für einen Hamburger und eine Cola monatlich?).

Leidiges Thema „TV-Mautstellen“

Dass dies tatsächlich so kommt, stand auch bei den meisten Podiums-Teilnehmer der 2. Euroforum-Jahrestagung „Quo Vadis TV“ in Köln außer Frage, aber wann und wie konnte noch nicht beantwortet werden. Gründe für die Umstellung auf Verschlüsselung sind einerseits der zumindest theoretische Wunsch, genau zu wissen, welcher Kunde wann zusieht und ihn ganz individuell mit auf ihn zugeschnittener Werbung zu beglücken – in der Praxis ist diese Absicht jedoch gar nicht so einfach umzusetzen und eher ein Zukunftswunsch der Werbetreibenden.

Der andere Grund ist der Rechteverkauf nicht nur von Spielfilmen, sondern auch von großen Sport-Events. Hier werden ja nationale Rechte vergeben, die sich bei der europaweiten Abstrahlung über Satellit schwer umsetzen lassen. Hier hofft man auch ARD und ZDF mit ins Verschlüsselungs-Boot zu bekommen, da diese andernfalls zukünftig immer öfter die Übertragung über Satellit unterbrechen und durch andere Programme ersetzen müssten, wenn terrestrisch und im Kabel Sport läuft. Auch der Vertreter der Landesmedienanstalt für Nordrhein-Westfalen, Dr. Jürgen Brautmeier, stimmte der grundsätzlichen Einführung einer Verschlüsselung via Satellit zu.

Ein Teilnehmer aus Österreich regte an, das österreichische Model der Verschlüsselung auch in Deutschland einzuführen: man strahlt dort über Satellit alle Programme verschlüsselt aus, dafür erhält der Kunde gegen eine einmalige Zahlung das technische Empfangsequipment zur Entschlüsselung der „verschlüsselten Free-TV-Programme“ und eine Smartcard mit gültiger Freischaltung zur Verfügung gestellt. Damit wäre das Problem einer zusätzlichen monatlichen Zwangsabgabe vom Tisch.

Zukünftig Eintritt ins Privat-TV zahlen?

Nach wie vor sehen die Fernsehsender ihre „finanzielle“ Zukunft im kostenpflichtigen Bereich, denn das Werbe-Budget sinkt auf hohem Niveau, genauer genommen das Werbebudgets für die Fernsehsender, den die großen Spieler aus dem Internet können jährlich ihre Werbeerlöse steigern. Als Beispiel ist hier Google Deutschland anzuführen, die schon 2005 einen Jahres-Werbeumsatz von 800 Mio. Euro erzielten, der im Jahre 2006 weit übertroffen wird. Zum Vergleich dazu ist die Pro7Sat1-Gruppe mit einer Mrd. Werbeumsätze für das Jahr 2005 und die RTL-Gruppe ist mit 2,8 Mrd. Euro dabei, Tendenz sinkend. Gerüchte um eventuelle TV-Pläne des Internet-Unternehmens Google reisen nicht ab.

„Nicht regulieren sondern fördern“

Mit diesem Satz des LMA-Vertreters Dr. Brautmeier wird sehr schnell deutlich, in welche Richtung sich in Zukunft die Regulierung bewegen sollte. Dazu gehört eine grundsätzliche Neustrukturierung und Ausrichtung der bestehenden ordnungspolitischen Rahmenbedienungen, Neuordnung des Medienkonzentrationsrechts sowie ein zukunftsfähiges Gesetzesmodell für audiovisuelle Mediendienste.

Verstärkte Entwicklung in der TV-Brache: Diversifikation

Über allem kreist der Begriff der „Diversifikation“, die die TV-Unternehmen nutzen, um unabhängiger von den Werbeerlösen zu werden und der wieder einmal das panische Verzetteln und auf-allen-Hochzeiten-tanzen bezeichnet, wie wir ihn gerade bei den anderen Medien- und Technikanbietern sahen, wobei es allerdings nicht nur um andere Medien wie Online-Angebote geht, sondern auch um Variationen zum Thema TV selbst. Unter Diversifikation fallen folglich alle Bereiche, die nicht zum Kerngeschäft Free-TV gehören, wie Pay-TV, Transaktions-TV (Mitmach-Fernsehen wie 9 Live), Merchandising und Multimedia (wie Internet, Handy-TV, etc.).

Prognosen, die Panik auslösen… (Bild: P. Vitolini Naldini)

Die ProSiebenSAT1.-Gruppe geht hier einen ungewöhnlichen, weil genau umgekehrten Weg: das neu eingekaufte Internet-Video-Portal „MyVideo“ wird in Zukunft fernsehtauglich und in einer eigenen Sendung verwertet – Internet goes TV. Diesem Trend schließt sich auch die RTL-Gruppe an, die mit Clipfish.de ein Video-Portal für Internet-Nutzer anbieten. In einer Kooperation mit Giga-TV (Eigenaussage: „Deutschlands einziger TV-Sender für Digital Lifestyle Gaming und eSports“) gibt es nun seit Januar ein 30-minütiges TV-Format, das die beliebtesten und verrücktesten Kurzfilme der Clipfish-User zeigt, die jedoch meist extrem trivial sind und nicht mal Hobbyfilmer-Niveau erreichen.

“Lass die Arbeit doch die User machen!“

Weitere Trends sind interaktives Fernsehen und individuell angepasste Informationen. Inhalte, die nicht mehr vom Fernsehsender hergestellt werden, sondern vom Konsumenten selbst kommen, auch unter dem Begriff „User generated Content“ bekannt, scheint auch langsam in Mode zu kommen. Praktische Sache: der Medienkonzern spart sich das Gehalt für Redakteure und lässt die Kunden die Arbeit selbst machen! Und die sind noch stolz darauf, endlich auch mal „ins Fernsehen zu kommen“.

Vor kurzem startet das erste Nachrichten-Portal im Internet, das komplett von den Internetnutzern inhaltlich mit Kurznachrichten selbst befüllt wird. Inwieweit hier dann noch eine gewisse Seriosität und Qualität gegeben ist, bleibt dahingestellt, es ist nur zu hoffen, dass es nicht so weit kommen wird, wie es diese auch zu den Medientagen 2006 zitierte Zukunftsperspektive befürchten lässt.