Die große blaue Blinkschachtel

"Blinkenlights" im Abriss-Plattenbau

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Lichtspiele sind dieser Tage wieder sehr populär. Passend zur Jahreszeit wurde auch im Zentrum Magdeburgs eine festliche Hausbeleuchtung eingerichtet. Diese allerdings kann man selbst programmieren.

Realsozialistische Palastarchitektur: Der „Blaue Bock“ in Magdeburg (Bild: Bluebox)

In den 70er-Jahren wurden nicht nur im Westen "Hasenkäfige" gebaut, große Appartementhäuser mit einer Single-Einzimmerwohnung neben der anderen und einer grandiosen Aussicht auf ein gleichartiges, weiteres Betonmonument. Auch im Osten wurden derartige Single-Unterkünfte konstruiert – die normalen DDR-Plattenbauten waren ja für Familien gedacht. Einziger Unterschied: Im Osten spricht man nicht von einer Einzimmer- sondern von einer Einraumwohnung.

Verwandlung von Fenstern in gelbe Pixel (Bild: Bluebox)

Ein solches Gebäude in der Mitte von Magdeburg erhielt den Spitznamen "Blauer Bock", einerseits wohl wegen der so „leichtfüßigen“ Architektur, andererseits wegen der blauen Kacheln, mit denen – DDR-typisch – das Gebäude verkleidet worden war. Da es nicht einmal wie die westlichen Hasenkäfige und auch viele Ost-Plattenbauten in Wohnghettos am Stadtrand, sondern mitten in der City aufgestellt worden war, hielt sich die Begeisterung in Grenzen, dort eines der jeweils 48 auf einem Stock befindlichen 16-qm-Zimmer anzumieten: Wie viele Gebäude im Osten steht der "Blaue Bock" seit Jahren leer.

Erste Tests – noch bei Tageslicht (Bild: Bluebox)

Eigentlich hätte er längst abgerissen und durch ein Geschäftshaus ersetzt werden sollen, doch war – DDR-historisch bedingt – die Eigentumsfrage an dem Grundstück, auf dem der Plattenbau steht, ungeklärt und verzögerte dies. Erst im Laufe des Jahres 2007 soll der „Bock“ nun geschlachtet werden.

Bereits im Dezember 2004 hatte ein Team Magdeburger Kunstaktivisten einige der leerstehenden Wohnungen mittels einmal um Mitternacht umgeschalteter Neonröhren in einen überdimensionalen Adventskalender verwandelt, der den jeweiligen Tag anzeigte. Angesichts der Aufmerksamkeit, die diese Lichtspiele hervorriefen, wurde nun zwei Jahre später, zum 1. Dezember 2006, das gesamte Gebäude in der Tradition von "Blinkenlights" in ein überdimensionales Display umfunktioniert, wozu die Fenster der ehemaligen Wohnungen jeweils mit gelber Plastikfolie überzogen und in den Räumen Baustrahler aufgestellt wurden. Über Elektronik-Steuereinheiten mit Dimmfunktion ist es möglich, 128 Graustufen auf insgesamt 686 Pixeln darzustellen, womit neben Buchstaben und Strichgrafiken auch Schwarzweiß-Bilder geringer Auflösung möglich sind – und Filme.

Adventskalender 2004 (Bild: Bluebox)

Über eine 0900-Telefonnummer kann auf der Gebäudefront „Pong“, „Pacman“ und „Tetris“ gespielt werden, was allerdings trotz Webcam nur vor Ort mit einem Handy sinnvoll möglich sein dürfte, da die eigentlich vorgesehenen Streams providerseitig technische Probleme haben. Es ist jedoch auch möglich, eigene Grafiken und Filme zu erzeugen und in das System der "Blue Box" einzuspielen, wie sich das Kunstprojekt nun in Anlehnung an die allerersten Hacker nennt, die noch ganz ohne Computer kostenlose Telefongespräche verschafften – mittels eben so genannter „Blue Boxes, die entsprechende Signalsteuertöne erzeugten.

”Big Sister is watching you…” (Bild: Bluebox)

Mit einem Anruf bei der bereits erwähnten 0900-Nummer und der Eingabe eines vorher selbst gewählten Codes kann der Film dann zu einem beliebigen Zeitpunkt innerhalb der aktiven Zeit des Riesendisplays (täglich 17 bis 24 Uhr sowie zusätzlich 6 bis 8 Uhr früh an Werktagen) gestartet werden – von Liebeserklärungen über Grüße bis zu eigenständigen Animationen ist hier prinzipiell alles möglich. Nur von ursprünglich geplanten, in dieser Größe angezeigt sicher beeindruckenden Egoshooter-Arcade-Games hat man angesichts der Killerspieldebatte wieder Abstand genommen.

Vierfach-Dimmereinheit für eine Wohnung mit vier Fenster-Pixeln (Bild: Bluebox)

Was die künstlerische Ausrichtung betrifft, sieht der zum Betrieb gegründete gemeinnützige Verein mehr als nur überdimensionale Leuchtgraffitti und Computer-Ping-Pong als sein Ziel. Auch die 0900-Nummer deckt nicht einmal die Stromkosten ab, weswegen Fensterpatenschaften angeboten werden. Für ihn die Künstler steht die Verfremdung medialer Inhalte im Vordergrund, um zu zeigen, wie unwirklich die mittlerweile als selbstverständlich über die Medien transportierten und als wahr akzeptierten Abbilder sind, wie sie sich der statischen Erfassung entziehen, und auch, wie einfach sie jeder manipulieren kann. Dazu soll es Anfang 2007 zusammen mit einer Theatergruppe eine gemeinsame Produktion geben. Nach dem Abriss bleibt dann immer noch der Simulator.