Im Land von Tausendundeiner Meldung

Selten war die Lage im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern undurchschaubarer

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Waffenstillstand im Gazastreifen hat nicht gehalten: Nachdem seit dem Beginn der Waffenruhe mehr als 70 Raketen auf die israelischen Städte und Gemeinden in der Nachbarschaft des palästinensischen Landstrichs abgefeuert worden sind, soll das Militär nun zurück feuern dürfen – denn der Druck der israelischen Öffentlichkeit ist stark, nachdem mittlerweile auch zwei Menschen bei einem Einschlag in Sderot verletzt wurden. Auf der palästinensischen Seite liefern sich derweil weiterhin Anhänger der Fatah-Fraktion von Präsident Mahmud Abbas und der Hamas von Premierminister Ismail Hanijeh erbitterte Auseinandersetzungen; Dutzende fielen den Schießereien bisher zum Opfer. Zudem werden immer wieder auch Funktionäre von Hamas und Fatah entführt.

Israels Premierminister Ehud Olmert versucht deshalb, Abbas zu stärken und stößt dabei auf den erbitterten Widerstand der Militärführung, die kaum etwas unversucht lässt, um die Entscheidungen der Regierung zu torpedieren: Am Donnerstag führte die Armee nur eine Stunde vor einem Treffen Olmerts mit dem ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak eine Razzia in Ramallah durch; vier Palästinenser starben; der Gipfel verlief ergebnislos. In den Medien häufen sich derweil die Berichte über einen baldigen Austausch von Gefangenen.

Die israelische Nachrichtenagentur Itim ist eigentlich ein eher verschlafener Laden: In den 50er Jahren von den israelischen Medien gegründet, um alle Termine zu besetzen, für die die Gründungsmitglieder kein eigenes Personal verschwenden wollten, hat sich das mittlerweile unabhängige Unternehmen von diesen Vorgaben nie ganz gelöst. Endlos ist die Liste der Berichte über Ortstermine von Ministern ohne Ressort, über Besuche ausländischer Parlamentsdelegationen, die sich an normalen Tagen im Redaktionssystem aufbaut, ohne jemals abgearbeitet zu werden – Itim hat man, weil es sie gibt und es gibt sie, weil man sie hat. Nur selten verirrt sich einer der Berichte in die Öffentlichkeit.

Die neue Unübersichtlichkeit

Bisher. Es war vor vielleicht zwei Wochen, als der Ticker, der heutzutage gar kein Ticker mehr ist, sondern ein Computerprogramm, zunehmend Nachrichten über Berichte in arabischen Medien über einen bevorstehenden Austausch von palästinensischen Häftlingen in israelischen Gefängnissen gegen den im Juni in den Gazastreifen verschleppten Wehrdienstleistenden Gilad Schalit, über Reaktionen von israelischer Regierung und der radikalislamischen Hamas, über Bestätigungen und Dementis zu Tage zu fördern begann – widersprüchliche Meldungen zwar, aber die Rettung für die angeschlagene Agentur. Denn sie bieten reichlich Futter für die journalistischen Politwahrsager, die täglich außer Samstags in den israelischen Medien jedes Wort, jedes Ereignis auseinander nehmen und darauf prüfen, ob sein Innenleben nicht vielleicht die Antwort auf die Fragen liefert, die im Moment die Öffentlichkeiten auf beiden Seiten bewegen: Wann kommen Gefangene heim? Wie viele werden es sein? Meint die israelische Regierung es ernst? Und wie wird es mit den Palästinensischen Gebieten weiter gehen?

„Fragen über Fragen, auf die es keine Antwort gibt“, sagt Joel Fried vom Militärrundfunk: „Es weiß ja noch nicht einmal jemand, was von den vielen Meldungen wahr ist, und was nicht.“ Selten war die politische Lage in der Region unübersichtlicher als im Moment, und dahinter steckt womöglich System.

Es kann mit großer Wahrscheinlichkeit als Tatsache angesehen werden, dass die israelische Regierung, vermutlich über ägyptische Zwischenleute, zur Zeit mit der Hamas über einen Austausch von Gefangenen verhandelt – eine heikle Sache, weil Kontakte zur jeweils anderes Seite auf der eigenen nach wie vor Tabus sind. Dass sie stattfinden, kann die eigene Öffentlichkeit gerade noch hinnehmen; problematisch wird es bei den Zugeständnissen. Sind sie zu weit reichend, ist Ärger vorprogrammiert. „Deshalb ist es am Besten, Verhandlungen so zu führen, dass es niemand mitbekommt“, sagt der britische Politologe James McAllister: „Wenn die Öffentlichkeit mit am Verhandlungstisch sitzt, ist der Erwartungsdruck viel zu groß. Hinter verschlossenen Türen kann man viel offener miteinander reden und eine Annäherung versuchen, ohne dass dabei von den Medien jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird. Allerdings funktioniert das nur, wenn einer der Verhandlungspartner nicht gerade aus anderen Gründen unter Druck steht.“

Und das ist im Moment der Fall und vermutlich der Grund für die Inflation von widersprüchlichen Meldungen: Die Hamas steht mit dem Rücken zur Wand; der Gefangenenaustausch ist zum Dreh- und Angelpunkt für das politische Überleben der Bewegung geworden. Nach Monaten der Entbehrung und Lebensgefahr, die durch die Konfrontation der Hamas mit Israel und dem Ausland hervorgerufen wurde, erwarten vor allem die verarmten, kriegsgebeutelten Menschen im Gazastreifen, der Heimatbasis der Hamas, dass die Organisation endlich Ergebnisse erzielt, während Israels Regierung gleichzeitig mit kleinen vertrauensbildenden Maßnahmen lockt und mit harter Vergeltung droht. „Wir brauchen Ruhe; wir sind am Ende unserer Kräfte“, sind Aussagen, die immer wieder zu hören sind, während Premierminister Ismail Hanijeh immer noch immer wieder erklärt, die Palästinenser würden falls nötig auf ewig von „Salz und Oliven“ leben. „Wenn er meint, soll er das tun“, sagte Abed, der in Gaza-Stadt ein Teehaus besitzt, in der vergangenen Woche und fügte unter dem Applaus seiner Gäste hinzu: „Aber er soll uns bitteschön fragen – schauen sie sich um: Die Leute können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen und ruhig geschlafen haben wir auch schon lange nicht mehr: Wir wissen ja nie, wann hier die nächste israelische Rakete einschlägt.“

Es geht um Lebenstile und Ideologie

Draußen auf der Straße beobachteten sich derweil mit misstrauischen Blicken meist jugendliche, aber dennoch schwer bewaffnete Anhänger von Hamas und Fatah. Vor drei Wochen hat Präsident Mahmud Abbas angekündigt, sowohl das Parlament als auch den Präsidenten neu wählen zu lassen. Seitdem herrscht zwischen den beiden Gruppen Krieg: Jeder Blick, jedes Wort, jede falsche Bewegung kann zu einer Schießerei führen; Dutzende, viele von ihnen Unbeteiligte, starben bis jetzt bei den Auseinandersetzungen. Immer wieder werden auch Funktionäre der einen oder der anderen Seite entführt. Mehrere Aufrufe der Führungen der Konfliktparteien zum Waffenstillstand haben bis jetzt nichts genutzt.

„Die Lage ist ausgesprochen ernst“, berichtet der palästinensische Journalist Chaled Schweiki: „Mein Eindruck ist, dass beide Seiten zunehmend die Kontrolle über die Kämpfer verlieren – viele von denen scheinen der Ansicht zu sein, dass es besser ist, die Sache jetzt und sofort zu klären.“ Denn es gehe um mehr als nur darum, wessen Partei die Macht hat: „Hier geht es auch um Lebensstile und Ideologie. Die Jungen mit ihren Waffen glauben die Parolen von Salz und Oliven wirklich. Als Regierungspartei hat die Hamas theoretisch die Gelegenheit, Palästina nach ihren islamischen Vorstellungen zu gestalten und dem Land damit nachhaltig ihren Stempel aufzudrücken. Aber bei den Älteren sieht die Sache anders aus: Viele von ihnen identifizieren sich zwar immer noch mit den Werten der Organisation, sie erwarten aber auch, dass man den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird – denn selbst Salz und Oliven müssen von irgendetwas bezahlt werden. Die beiden Gruppen sind nicht mehr miteinander vereinbar. Die Hamas muss dringend Fortschritte vorweisen, um den Leuten zu zeigen, dass sie nicht nur redet, sondern auch handelt, und um ihren bewaffneten Flügel abzulenken.“

So ist es wahrscheinlich, dass die Vielzahl an Berichten in arabischen Medien vor allem dem Zweck dienen, der der Hamas zunehmend kritischer gegenüber stehenden palästinensischen Öffentlichkeit das Gefühl zu geben, dass sich etwas tut und die Bemühungen der israelischen Regierung zu kontern, Abbas zu stärken: Der Präsident wurde vor zwei Wochen von einer Minute auf die Andere zu einem Treffen mit Olmert im Jerusalemer Amtssitz des Premierministers eingeladen, wo er wie ein Staatsgast mit palästinensischen Flaggen begrüßt wurde, für deren Ankauf Mitarbeiter des Regierungschef kurz vor dem abendlichen Treffen einen Händler in der Altstadt in seinen Laden zurück beordert hatten („Da kamen plötzlich Israelis in dunklen Anzügen und wollten 32 palästinensische Fahnen. Hier ist die Quittung“). Zudem ordnete das Kabinett den Abbau einiger Straßensperren an, die selbst kurze Strecken im Westjordanland zu einer stundenlangen Tortur machen und überwies umgerechnet rund 83 Millionen Euro an Abbas – ein Teil der Umsatzsteuereinnahmen, die Israel nach dem Wahlsieg der Hamas bei den Parlamentswahlen im Januar vergangenen Jahres zurück gehalten hatte.

Konflikte zwischen Regierung und Militär

Dass diese Maßnahmen ihr Ziel, Vertrauen zu bilden, bisher verfehlten, liegt allerdings weder an der Hamas noch an den Kämpfern des Islamischen Dschihad, die seit Wochen schon Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel abfeuern, als sei der Waffenstillstand im November nie geschlossen worden, sondern an der israelischen Armee.

Schon als die Regierung noch über den Abbau von maximal 56 von mehr als 400 Straßensperren im Westjordanland debattierte, ließ die Militärführung die Welt wissen, dass man solch einen Schritt für „unverantwortlich“ halte und dass es ihrer Ansicht nach nur eine Frage der Zeit sei, bis danach wieder der erste Anschlag auf Israelis verübt werde. Sollte sich die Politik allerdings für den Abbau entscheiden, werde man sich daran aber halten – „als hätte das Militär eine andere Möglichkeit“, kommentierte die Zeitung Jedioth Ahronoth und bezeichnete die Aussage als „eigenartig“.

In der Tat erwies sich allerdings bald, dass das Militär sehr wohl Möglichkeiten hat, die politischen Beschlüsse zu torpedieren: Zwar wurden die Straßensperren Anfang dieser Woche tatsächlich abgebaut – aber dafür wurden die Kontrollen an den bemannten unter den verbliebenen Straßensperren sehr viel intensiver: Vielerorts kann die Abfertigung nun Stunden dauern. Scharfe Kritik aus den Reihen von Regierung und Parlament wies Generalstabschef Dan Chalutz mit der Begründung zurück, es sei die Aufgabe des Militärs, die Sicherheit der Menschen in Israel zu gewährleisten, und dabei seien die Straßensperren nun einmal ein integraler Bestandteil. Und da nun davon weniger zur Verfügung stünden, müssten die Kontrollen an den verbliebenen genauer werden.

Widerspruch gab es ausgerechnet von Schaul Mofas, der einst als Verteidigungsminister das System aus Checkpoints, Betonblöcken, Erdhügeln und Gräben eingeführt hatte: „Wir haben heute andere Methoden, Anschläge zu verhindern als noch vor vier oder fünf Jahren. Das weiß das Militär sehr wohl. Es will sich nur als Beschützerin des Staates darstellen.“ Eine Meinung, die auch Jossi Sarid vom linksliberalen Meretz / Jachad-Block teilt: „Die Armeeführung hat während des Libanon-Krieges versagt und versucht deshalb, die Politiker als diejenigen hinzustellen, die das Land gefährden. Die Straßensperren waren von vorne herein falsch. Dort werden Palästinenser doch erst zu Terroristen gemacht.“

Der wirklich große Knall zwischen Regierung und Generalstab ließ allerdings auf sich warten, und zwar bis kurz vor dem Treffen Olmerts mit dem ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak am Donnerstagabend. Sie hatten über einen Gipfel der Staats- und Regierungschefs Israels, der Palästinensischen Autonomiebehörde, Ägyptens und Jordaniens sprechen und den aktuellen Stand in Sachen Gefangenenaustausch zwischen Israelis und Palästinensern erörtern wollen. Doch am Ende wurde aus dem erhofften „Schritt nach vorne“ (ein Sprecher Mubaraks) ein gezwungener Austausch von Nettigkeiten und mahnenden Worten, „ein diplomatisches Debakel“ (ein Mitarbeiter Olmerts). Und daran ist eine Militäroperation in Ramallah schuld, die nur wenige Stunden vor dem Gipfel gründlich schief ging und die Regierung in Aufruhr versetzt.

Dass eine Militäroperation schief geht, dass es Tote gibt – damit muss man sich wohl abfinden, wenn man Regierungschef des Staates Israel ist. Dass man allerdings gar nicht wusste, dass die Armee eine Aktion plant – das ist inakzeptabel, und dies noch viel mehr, wenn man gerade auf dem Weg zu einem Treffen mit einem der wichtigsten Staatschefs des Nahen Ostens ist. Die Sprecher von Premierminister Ehud Olmert machten sich so am Freitag nicht einmal die Mühe zu dementieren, dass etwas sehr gründlich schief gelaufen war. „Das einzige was man dazu sagen kann ist, dass wir die Todesopfer bedauern und es uns gewünscht hätten, wenn diese Sache anders verlaufen wäre“, sagte ein ungewöhnlich direkter Sprecher Olmerts am Freitagmorgen.

Denn der Schaden ist groß – nicht nur für Olmert, der nach diversen Korruptionsermittlungen gegen ihn selbst und der Festnahme seiner langjährigen Bürochefin wegen Bestechlichkeit Anfang der Woche nun eine weitere Krise am Hals hat. Auch Präsident Abbas hat damit einen herben Rückschlag erlitten. „In den Augen der Palästinenser sieht es so aus, als habe er sich von Olmert an der Nase herumführen lassen“, so Journalist Schweiki: „Das wird ihn weiter schwächen, wenn nun von der israelischen Seite nichts wirklich Handfestes kommen sollte.“

So verurteilte Abbas die Operation mit äußerst scharfen Worten: „Sie beweist, dass die israelischen Aufrufe zu Frieden und Sicherheit verlogen sind.“ Ein Mitarbeiter sagte zudem: „Dass das Militär am helllichten Tage in Ramallah einfällt und wild um sich schießt, zeigt, dass das alles nur Show war.“

Israelische Beobachter sehen derweil die Schuld nicht bei Olmert, sondern bei der Militärführung: „Ein klarer Angriff auf die Politik der Regierung“, resümierte die Tageszeitung Jedioth Ahronoth; „Das Militär übernimmt die Macht“, titelte Ma'ariv reißerisch. Und HaAretz stellte einmal mehr die Personalfrage: „Es gab in den vergangenen Wochen eine ganze Reihe von positiven Entwicklungen in der diplomatischen Arena. Der Regierungschef sollte nun alles daran setzen, den eingeschlagenen Kurs mit neuen Leuten fortzusetzen.“

Olmert selber scheint dem nicht abgeneigt zu sein – aber seine Möglichkeiten sind beschränkt. Er saß noch im Flugzeug zurück nach Hause, mit versteinerter Miene, von Zeit zu Zeit intensiv auf seine Berater einredend, wie Journalisten berichten, die mit im Flieger waren, als Israels Medien die Nachricht verbreiteten, Verteidigungsminister Amir Peretz sei so gut wie gefeuert, und Chalutz mit ihm – eine Meldung, die das Büro Olmert umgehend dementierte: Die Arbeiterpartei hatte damit gedroht, die Regierung zu verlassen, sollte Peretz, der allerdings nach Aussage der beteiligten Offiziere ebenfalls nichts von der Operation wusste, seinen Hut nehmen müssen. Damit würde es so gut wie zwangsläufig Neuwahlen geben.

Aus welcher Quelle die Meldung stammte, das können oder wollen auch die Mitarbeiter von Itim nicht sagen, die die Nachricht, wie so viele in diesen Tagen, verbreiteten, ohne nachzufragen, ob der darin nicht namentlich genannte Mitarbeiter Olmerts tatsächlich für den Premierminister arbeitet. Wichtig ist diese Information für das politische Jerusalem, weil damit ein neues Kapitel im unendlichen Buch der Nahostpolitik aufgeschlagen worden ist: Nämlich jenes, in dem das Rennen um den Vorsitz der Arbeiterpartei Peretz' und von Kadima, der bis jetzt Olmert vorsteht, eröffnet wird. Längst drängeln sich die Anwärter aus der zweiten und dritten Reihe auf die Nachfolge der beiden Parteichefs. Bei Itim freut man sich schon auf viele, viele neue Meldungen: „Wissen Sie, wie frustrierend das ist, immer für den Papierkorb zu arbeiten? Endlich wird man mal gelesen und ich hoffe dass das bleibt“, sagt Ascher Barak, einer der Redakteure: „Glücklicherweise kann hier in der Gegend niemand an einem Mikro vorbei gehen, ohne ein Interview zu geben“.