Der skrupellose Moralist

Martin Sonneborn lebt von den Abfällen der Mediengesellschaft und ist glücklich mit dieser Rolle. Im Interview sprach der Satiriker über entlarvenden Humor und warum er Harald Schmidt verachtet

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Herr Sonneborn, Sie sind Liebling vieler Intellektueller und tun doch nichts anderes, als Telefonstreiche zu spielen und allerlei Leute zu beleidigen. Haben Sie eine Erklärung?

Martin Sonneborn: Ich glaube, dass man alle denkbaren Spezialinteressen öffentlichkeitswirksam vertreten kann. Wenn Sie einer verrückten Idee ein gewisses Publikum verschaffen, ist die Chance groß, dass es ein paar Irre gibt, die das auch gut finden. Als langjähriger Chefredakteur von Titanic besaß ich das unschätzbare Glück, den Quatsch aus Jugendjahren weitertreiben zu können, gegen Bezahlung. Wem genau das gefällt, was meine Kollegen und ich tun, das weiß ich allerdings nicht.

Kennen Sie denn Ihre Zielgruppe nicht?

Martin Sonneborn: Nein, wir machen keine Leserbefragungen. Die Personen, die zu den Lesungen von Titanic-Autoren kommen, lassen nur einen ungefähren Rückschluss auf das Publikum zu. Demnach ist es zu zwei Dritteln männlich; Frauen werden zu den Lesungen eher mitgeschleift. Die meisten Käufer mögen unter 35 sein, einige Altleser sind dem Magazin seit seiner Gründung 1979 treu. Wir lassen uns von Verkaufszahlen nicht beeindrucken, das unterscheidet unsere Redaktion von anderen. Solange das Überleben gesichert ist, was bei etwa 60.000 verkauften Exemplaren der Fall ist, verschwenden wir keinen Gedanken daran, wie sich der Gewinn steigern ließe. Deshalb findet man auch kaum Werbung im Blatt.

Sie orientieren sich also nicht am Geschmack Ihrer Leser?

Martin Sonneborn: Die Redaktion entscheidet seit 25 Jahren völlig autark, worüber zu lachen ist. Und erfreulicher Weise lacht ein Teil der Bevölkerung mit.

Widersprüche in einem guten Witz auflösen

Die Titanic betreibt Medienkritik in der Form der Satire. Wie kamen Sie zu diesem Gewerbe?

Martin Sonneborn: Es gab kein Schlüsselerlebnis. Ich denke, das ist eine Charakterfrage. Man kann in fünferlei Weise mit diesem zunehmend irrer werdenden Gesellschaftssystem umgehen. Da ist der Weg in den bewaffneten Widerstand – heute eher antiquiert –, die Entwicklung zum Alkoholiker, die aktive Teilnahme am System oder die klassische Gesellschaftskritik. Und man kann versuchen, die Widersprüche in einem guten Witz aufzulösen, wofür ich mich entschieden habe.

Satire ist also für Sie nicht mehr Aufklärung, sondern Therapie?

Martin Sonneborn: Das ist eine Funktion. Viele Medienereignisse müssen nicht mehr satirisch gebrochen werden. Nehmen Sie Gerhard Schröders Ausfall in der Elefantenrunde nach der verlorenen Bundestagswahl. Was dort geschah, liegt klar auf der Hand. Und wenn Satire keine neuen Wege aufzeigen, nicht mehr aufklärerisch wirken kann, dann ermöglicht sie doch zumindest noch immer ein befreiendes Lachen und insofern eine befriedigende Kanalisation dieses Schwachsinns.

Unter Ihrer Leitung ist die Besatzung der Titanic zunehmend selbst als Akteur in Erscheinung getreten, statt nur auf Medienereignisse zu reagieren. So haben Sie eine eigene Partei gegründet und mit Ihrer legendären Bestechungsaktion die Fußball-WM 2006 nach Deutschland geholt. Wie kam es zu diesem Strategiewechsel?

Martin Sonneborn: Auch dies sind Reaktionen auf die Umwelt, die Mediengesellschaft und politische Mutationen. Zur Gründung der Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative kam es 2004, weil ich neue satirische Formen erproben wollte. Ein weiteres Motiv war die Suche nach Tabus, an denen man kratzen kann, und Themen, die unthematisiert unter der Oberfläche schwelen.

Zum Beispiel?

Martin Sonneborn: Der Einheitsmythos beziehungsweise die fortbestehende deutsche Zweiheit in kultureller, historischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Titanic hat sich seit 1989 an der so genannten Einheit zu reiben versucht. Insofern fügt sich die Gründung der Partei gut in diese Tradition ein.

Focus und Bild-Zeitung machen uns Konkurrenz

Ist es nicht eher so, dass Ihre Satire brachialer wurde, weil die subtileren Formen nicht mehr funktionierten?

Martin Sonneborn: Woran denken Sie da?

Nehmen Sie Anzeigen-Parodien. Die Werbung hat aufgeholt, ist pointenreicher und spritziger geworden. Mit Persiflagen humoristische Volltreffer zu landen, erscheint ungleich schwerer als früher.

Martin Sonneborn: In einem Punkt gebe ich Ihnen Recht: Diese Form ist weitgehend obsolet geworden. Heute ist es komischer und wirkungsvoller, Werbung für Firmen zu machen, die dies gar nicht wollen. So haben wir die uns gesetzlich zustehenden Wahlwerbespots für die Partei 2005 für 25.000 Euro an einen Billigflug-Anbieter verkauft – was dessen Mutterkonzern gar nicht gut fand. Diese Schleichwerbung konnten wir dank einer rechtlichen Lücke bei ARD und ZDF platzieren. Und danach haben wir noch gegen den Willen der Firma für die Airline geworben. Eine schöne Weiterentwicklung dieser Satire-Form.

Ihre Lieblingsgegner sind die Bild-Zeitung und das Magazin Focus. Was stört Sie an diesen Blättern?

Martin Sonneborn: Diese beiden Blätter machen uns nach wie vor Konkurrenz, das stört mich natürlich. Wenn die Bild-Zeitung vorne zeigt, wie der Chefredakteur Kai Diekmann dem Papst eine „Volksbibel“ übergibt, während ein paar Seiten weiter eine „schluckgeile Oma“ ihre Dienste inseriert, ist das schwer zu übertreffen: Wenn wir das offizielle Bild nehmen und als „Foto des Monats“ so uminterpretieren, dass Diekmann dem erfreuten Papst stolz eine schweinslederne Sammlung der schärfsten Fickanzeigen übergibt, bleibt das hinter der Wirklichkeit zurück.

Beim Focus hat mich von Anfang an gestört, dass man sich als seriöse Zeitschrift verkauft. Wir haben, verkleidet als Schülergruppe, dort einen Redaktionsbesuch gemacht, bei dem uns der Chef vom Dienst darüber aufgeklärt hat, wie der Focus produziert wird. Die Anzeigenabteilung rufe an und sage: ‚Wir haben 150 Seiten Anzeigen, da brauchen wir 150 Seiten Text. Was machen wir denn dann noch rein?’ Diese sich seriös gebende Schaumschlägerei ist eine Provokation für uns als seriöses Satiremagazin. Der Focus ist echte Konkurrenz für uns.

Obwohl sie moralisch argumentieren, hat man bisweilen den Eindruck, dass es Ihnen nur um den Krawall geht. Welche Funktion haben Witze über das Attentat auf das World Trade Center oder den Selbstmord Hannelore Kohls?

Martin Sonneborn: Unsere Aktionen beziehen sich selten auf das Ereignis selbst, sondern zumeist auf seine politische oder mediale Ausschlachtung. Und so war es auch in diesen beiden Fällen. Ich verachte Harald Schmidt dafür, dass er nach dem Attentat vom 11. September einige Wochen mit seiner Sendung ausgesetzt hat. Das bedeutet nichts anderes als den Kniefall vor Sender, Werbekunden und Öffentlichkeit. Auch uns haben die Bilder der einstürzenden Hochhäuser in eine kurze Schockphase versetzt, doch die Reaktionen in Politik und Medien waren derartig bizarr, dass wir handeln mussten. Peter Struck, damaliger SPD-Fraktionsvorsitzender, sagte zum Beispiel: „Heute sind wir alle Amerikaner.“ Die Redaktion ist deshalb mit einem großen Foto des brennenden World Trade Centers auf den Frankfurter Rathausplatz gezogen und hat Leute gebeten, sich davor fotografieren zu lassen und den USA zu zeigen, dass wir Amerikaner sind. Wir haben ihnen Pappschilder in die Hand gegeben, auf denen stand „We stand behind you“, „Together we stand, together we fall“ oder „Head up, Mr. President“.

Und wie verhielt es sich im Falle Kohl?

Martin Sonneborn: Bei Hannelore Kohl zeigten wir als Startcartoon den von uns gefälschten Abschiedsbrief, in dem die Schrift aus dem Bild läuft – sie musste ja im Dunkeln schreiben. Und wenig später erschien Helmut Kohl als Single des Jahres auf dem Titel. Beides ist Ergebnis einer Empörung über CDU-Leute und -Sympathisanten, die versuchten, den Selbstmord dieser Frau zu instrumentalisieren. So griff Monsignore Erich Ramstetter noch beim Trauergottesdienst angeblich linke Medien an. Sie hätten Hannelore Kohl in den Tod getrieben.

Satire ist harte Arbeit

Inwieweit kalkulieren Sie die Folgen Ihrer Aktionen ein?

Martin Sonneborn: Wir versuchen, bestimmte Effekte zu erzielen; und meist treten sie auch ein. Manche Aktionen – wie die Bestechung von Fifa-Vertretern, um die WM nach Deutschland zu holen – haben ungeahnte, wundervolle Folgen. Zum Beispiel, wenn von der Bild-Zeitung aufgehetzte Leser über neun Stunden in der Titanic-Redaktion anrufen und Dinge sagen wie: ‚Man sollte Sie auswandern!’ Oder: ‚Im Rechtsstaat gehören Leute wie Sie ins KZ!’

Tun Sie manches nicht einfach spontan aus Jux, ohne groß darüber nachzudenken?

Martin Sonneborn: Grundsätzlich ist es harte Arbeit, hochwertige Satire zu produzieren. Man muss sich schon ein paar Gedanken machen, die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse kennen, Ideen ausformen, dabei Witz vermitteln und denkbare Reaktionen abschätzen. Ich denke aber, dass Satire durchaus auch aus persönlichen Befindlichkeiten entstehen kann. Politik tut dies übrigens auch. Meine Frau ist beispielsweise Armenierin, und ich war früher immer für den Beitritt der Türkei in die EU. Nach der Heirat hat sich diese Einstellung gewandelt, und ich sage: ‚Wenn unsere Partei an der Macht ist, werden die Türken nicht in die EU kommen.’

Eine Ihrer Ideen, ein Kino-Spot gegen Rechtsextremismus, wurde in Cannes mit einem silbernen Löwen ausgezeichnet. Sie selbst prahlten damit, dass an einem Tag in der Titanic-Redaktion so viel geistiges Material anfalle, dass eine Werbeagentur für einen Monat mit Einfällen versorgt sei. Warum wechseln Sie nicht die Seiten und werden reich?

Martin Sonneborn: Weil ich linken, humanistischen Idealen verpflichtet bin. Das ist, wie gesagt, eine Charakterfrage. Die meisten Leute, die bei Titanic arbeiten, hätten anderswo Karriere machen können, aber das interessiert uns nicht, solange wir finanziell unabhängig sind.

Allerdings verdienen Sie sich schon durch Beiträge für andere Medien etwas dazu.

Martin Sonneborn: Das ist für uns eher deshalb interessant, weil man über den doch begrenzten Kreis von Titanic-Lesern hinaus Leute mit Satire konfrontieren kann. Schon Robert Gernhardt hat damals in der Zeit schöne Reaktionen provoziert.

Was hat Sie als Überzeugungstäter denn nun gerade zu Spiegel-Online verschlagen? Der Spiegel soll ja recht gut zahlen ...

Martin Sonneborn: Wenn es mir jemals um Geld gegangen wäre, würde ich jetzt für den Axel Springer Verlag arbeiten. Dessen Vorstandvorsitzender Mathias Döpfner hat mich vor ein paar Wochen zum Kaffee eingeladen und ich hätte jede beliebige Summe auf ein Stück Papier schreiben können. Aber bei Spiegel online werden wir viel mehr Leute erreichen – Leute, die den Umgang mit Satire überhaupt nicht gewöhnt sind.

Satire ist Minderheitenprogramm

Welche Rolle spielt Satire überhaupt in den Medien?

Martin Sonneborn: Eine sehr kleine, wenn man sie, wie ich es für richtig halte, von Quatsch, Klamauk und Kabarett, die auch im Fernsehen gezeigt werden, abgrenzt. Echte Satire hat im Fernsehen keine Chance, weil die Verantwortlichen Rücksicht auf ihre Werbekunden und Zuschauer nehmen, die doppelbödigen Humor nicht verstehen.

Was ist der Unterschied zwischen echter Satire und dem Humor, der im Privatfernsehen vermittelt wird?

Martin Sonneborn: Satire muss aggressiv sein. Damit sind schon achtzig Prozent der Fernseh-Klamauk-Köpfe aus dem Rennen. Sie muss komisch sein, womit dann weitere neunzehn Prozent herausfallen; und sie muss eine Kunstform sein, eine ästhetische Umformung von Realität. Das fehlt mir außer bei Harald Schmidt in seinen guten Zeiten und wenigen englischen Serien, die nachts laufen, sonst überall. Satire ist Minderheitenprogramm, wir verkaufen 60.000 Hefte, in einem Land mit 60 Millionen potenziellen Lesern.

Sie selbst haben angeblich keinen Fernseher, wie können Sie ohne eigentlich arbeiten?

Martin Sonneborn: Das geht schon, ich lese Zeitungen oder informiere mich im Internet. Zudem hat meine Frau einen ganz kleinen, alten Fernseher, den ich hier nicht erwähnen werde, weil ich keine GEZ-Gebühren dafür zahle.

Sie leiden einerseits an der medialen Welt, andererseits spielen Sie das Spiel mit. Was sind Sie nun: ein Parasit der Mediengesellschaft oder ein Moralist?

Martin Sonneborn: Sowohl als auch. Ja, wir sind mit Titanic parasitär an dieser Mediengesellschaft beteiligt, und wir sind die letzte moralische Instanz.

Ist es moralisch, den sprichwörtlichen kleinen Mann am Telefon zu verarschen, wie es Ihre Spezialität ist?

Martin Sonneborn: Eine etwas polemische Frage, auf die ich gern antworte. Im Unterschied zu Stefan Raab oder vergleichbaren Leuten haben wir meines Wissens nie etwas gemacht, was nicht satirischen Charakter hatte. Satirischer Charakter bedeutet in diesem Zusammenhang, dass man, auch wenn man sprichwörtlich kleine Leute angeht, gewisse Inhalte in deren Köpfen exemplarisch dingfest macht. Schließlich sind es auch kleine Leute, die in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern Schwarze verprügeln. Wir befragen aber nicht wie unseriöse Fernsehreporter eine 89-jährige Frau auf der Straße, die wegen ihrer Schwerhörigkeit nichts versteht und eine unsinnige Antwort gibt, was das entsprechende Fernsehpublikum zum Johlen bringt. Und vergessen Sie nicht: Wir hatten auch Bundeskanzler, Außenminister, Teamchefs und Ulrich Wickert am Apparat.

Wenn Sie für Ihre Aktionen die nötige Publicity herstellen wollen, müssen Sie sich den Gesetzmäßigkeiten der Medien unterwerfen. Ist das nicht ärgerlich?

Martin Sonneborn: Ich empfinde es eher als belustigend, dass man seine Satire, die ja oft als Medienkritik daher kommt, wiederum über die Medien publik macht, indem man diese instrumentalisiert. Und das Spiel auf der Klaviatur beherrschen wir mittlerweile recht gut.

Sie sind seit 1995 bei der Titanic und haben Ihre Medienauftritte stets öffentlichkeitswirksam inszeniert. Was ist der Preis, den Sie dafür zahlen?

Martin Sonneborn: Dass sich unser Heft etwas besser verkauft, ich bisweilen auf der Straße erkannt werde, man mich im Zug anspricht oder mal nach einem Autogramm fragt. Insgesamt ein Preis, den ich nicht zu hoch finde.

Sind Sie mittlerweile auch privat auf mediale Beachtung angewiesen?

Martin Sonneborn: Überhaupt nicht. Es ist mir peinlich, wenn mir Leute Witze erzählen oder ein Autogramm wollen. Außerdem: Jede Darstellung in den Medien, jedes Interview ist eine Stresssituation. Sie bedeutet genaue Vorbereitung, sie bedeutet Überwindung von Lampenfieber – also ganz einfach Arbeit. Dabei bin ich ursprünglich doch dafür, ein kontemplatives Dasein zu führen. In Kneipen sitzen, Zeitung lesen, Kaffee trinken und ab und an schreiben, um die Muße zu unterbrechen. Das ist mein Ideal.

Für die Berliner Zeitung sind Sie ein „Virtuose an Telefon und Faxgerät“, Die Welt bezeichnet Sie als „Partisan der Parodie“, die Süddeutsche Zeitung als „Rampensau“, die ihr wildes Spiel mit den Medienleuten treibt. Wie sehen Sie sich selbst?

Martin Sonneborn: Sie wissen wahrscheinlich, wie Überschriften entstehen. Ein Redakteur, der einen Text bestellt hat, pickt sich Reizwörter heraus.

Sie gehen nicht auf die Frage ein.

Martin Sonneborn: Nein. Ich möchte meine Rolle auch nicht interpretieren. Das erschiene mir anmaßend oder schlicht dumm. Das ist Aufgabe derer, die sich ein Bild von mir machen wollen. Ich spiele außerhalb meines Privatlebens meine berufliche Rolle, so auch in diesem Interview.

Sie treten uns als freundlicher, zuweilen sogar naiver Mensch entgegen. Ist diese Soll-Ich-Ihnen-die-Einkaufstüten-abnehmen-Masche Ihre Waffe im Kampf gegen das Einfältige und Verlogene?

Martin Sonneborn: Ich bin generell von ausgesuchter Höflichkeit. Ich halte das für sehr wichtig im Umgang mit Menschen. Dass dies in dieser Weise interpretiert wird, spricht gegen die Gesellschaft, in der wir leben. Ich kann übrigens aber auch aufbrausend, unhöflich und durchtrieben sein.

In einem Buch über das Wissen nordamerikanischer Naturvölker von Kenneth Meadows steht auf der Seite Ihres Geburtsdatums Folgendes: „Sie sind ein Biber. Entschlossen, eigensinnig, findig und methodisch. Biber sind zudem sachlich, willensstark, aber auch hemmungslos, besitzergreifend und unflexibel. Wichtig sind eine harmonische Umgebung und ein festes, sicheres Wertesystem, da sie eher konservativ sind.“

Martin Sonneborn: Selten bin ich sachlich – und viel zu sprunghaft, um methodisch zu arbeiten. Davon abgesehen, kann ich mich mit dieser Diagnose soweit identifizieren, wie sehr viele Menschen auch.

Welcher Aspekt fehlt Ihnen?

Martin Sonneborn: Wenn ich einen guten Witz machen oder eine komische Geschichte erleben kann, nehme ich große Entbehrungen in Kauf. Um die dummen Gesichter der CDU-Politiker bei der von uns arrangierten Schwarzgeld-Affäre zu sehen, setze ich mich in ein Auto, fahre nach Luzern, auch auf den Verdacht hin, dass dort nie jemand von der CDU ankommt, und verharre vier Stunden lang vor einer Bank – hinter einer Zeitung mit zwei Gucklöchern.

Martin Sonneborn kommt 1965 in Göttingen zur Welt. Er besucht eine katholische Privatschule in Osnabrück und beginnt nach dem Abitur eine Ausbildung zum Versicherungsvertreter, die er abbricht. Stattdessen studiert er Germanistik, Publizistik und Politikwissenschaften in Münster, Wien und Berlin und gerät über jahrelanges Lesen und seine Magisterarbeit Titanic und die Wirkungsmöglichkeiten von Satire allmählich in den Dunstkreis des Magazins. 1995 wird er dort Redakteur, 2000 Chefredakteur. Die Ära Sonneborn ist geprägt von medienwirksam inszenierter Aktionskunst, wie die fingierte Bestechung für die Vergabe der Fußball-WM 2006 an Deutschland. Den Chefsessel räumt er 2005 für Thomas Gsella und wird Mitverleger bei Titanic. Aktuell leitet Sonneborn von Berlin aus das Satireressort bei Spiegel Online.

Dieses Gespräch ist ein für „Telepolis“ bearbeiteter Vorabdruck aus: Jens Bergmann/Bernhard Pörksen (Hrsg.): Medienmenschen. Wie man Wirklichkeit inszeniert. Gespräche mit Joschka Fischer, Michel Friedman, Gregory Gysi, Regina Halmich, André Heller, Peter Sloterdijk, Ursula von der Leyen, Roger Willemsen u. v. a. Münster: Solibro-Verlag; 352 Seiten; 19,80 Euro; ISBN: 978-3-932927-32-4. Erscheinungstermin: Januar 2007

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