Das Wissen der Zukunft

Das kopal-Projekt und der Kampf der Archivare gegen den Bitrot

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In den kommenden Jahren wird der Verfall digitaler Informationen ein immer dringenderes Problem werden. Das Veralten von Hardware, Betriebssystemen und Dateiformaten sowie "die kalte Löschung" durch den physikalischen Verfall elektromagnetischer Speichermedien stellt Archivare vor ungeheure Probleme.

An sich sind die so alt wie die Idee eines Archivs selbst, aber man braucht nicht zum Niedergang der Bibliothek von Alexandria zurückzugehen, um Referenzpunkte für die gegenwärtige Situation zu finden. Zwei Beispiele aus jüngerer Zeit sind dem Thema viel näher. Jeder kennt die berüchtigten "Nitrofilme", die mit fortschreitendem Alter nicht nur zerfallen , sondern auch zur Selbstentzündung neigen.

Die komplizierte Lagerung und Restauration solcher Filme ist ein gutes Beispiel für die Mühen, die veraltende Speichermedien der Nachwelt aufbürden können. Weniger spektakulär, aber in seinen Folgen noch weit durchschlagender als selbstentzündliche Medien ist die Blindheit der Zeitgenossen für den Wert bestimmter Informationen und eine damit einhergehende Schlamperei, gegen die selbst die widerstandsfähigsten Medien nichts aufzubieten haben.

Seit dem Sommer letzten Jahres ist bekannt, dass die Originalaufnahmen der ersten Mondlandung "zur Zeit" nicht mehr auffindbar sind. Probleme wie diese will das kopal-Projekt der Deutschen-Nationalbibliothek, an dem auch die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, die Gesellschaft für wissenschaftliche Datenverarbeitung Göttingen (GWDG) und IBM beteiligt sind, gar nicht erst aufkommen lassen.

Überforderte Archivare

Dass die Hütte brennt, hat man bei den Archivaren und Bibliothekaren längst erkannt; kopal gehört wie verschiedene andere Initiativen zu den ersten Lösungsansätzen. In einem abgestuften Prozess soll sichergestellt werden, dass

  1. eine sinnvolle Auswahl der zu archivierenden Medien getroffen wird
  2. durch kontrolliertes Umkopieren und Updaten auf neue Formate und Speichermedien diese ausgewählten Daten erhalten werden
  3. sie in stetig anwachsenden und stetig zu pflegenden und zu überwachenden digitalen Archiven auch wieder aufgefunden werden.

Keine leichte Aufgabe. Dass ein fortlaufender Update-, Kopier-, und Pflegeprozess für immer weiter anwachsende digitale Archive nicht nur eine Kostenbombe sein könnte, sondern die Entscheidungs- und die Organisationsfähigkeit der betroffenen Archivare und Bibliothekare möglicherweise schlicht überfordern würde, dürfte allen Beteiligten klar sein.

Es ist einfach, von einer "sinnvollen" Auswahl der zu erhaltenden Inhalte zu sprechen, aber wer soll eigentlich auswählen, was erhalten wird? Haben wir in Zukunft mit Gremien nach Art der Rundfunkräte zu rechnen, von denen entschieden wird, was ins Töpfchen und was ins Kröpfchen kommt? Oder - noch schlimmer - werden solche Entscheidungen ganz und gar hinter verschlossenen Türen und nach dem Gutdünken mehr oder weniger kompetenter Funktionäre und Funktionärinnen der Archivierung gefällt werden?

Ein anderes gravierendes Problem betrifft den Prozess der Archivierung selbst. Das kopal-Projekt setzt massiv auf teilweise automatisch aus den bestehenden Dateien extrahierte Metadaten, die gewissermaßen die digitale Visitenkarte der Dateien selbst darstellen. Diese Metadaten sollen in einem Paket gemeinsam mit den zu erhaltenen Primärdaten in einem "universalen" Datenformat abgespeichert werden. Aber dieses "universale" Datenformat wird sich in einer immer schneller ändernden informationellen Umgebung genauso behaupten müssen wie die Formate der Primärdateien selbst.

Noch mehr Daten

Ganz abgesehen davon, dass die "Universalität" schon innerhalb Europas schnell an ihre Grenzen stoßen könnte. Immerhin verweist man mit Stolz darauf, dass die niederländische Nationalbibliothek bereits DIAS-Core benutzt,eine Archivierungslösung von IBM, auf der auch kopal beruht. Optimistisch geht man davon aus, dass diese Standards sich in Zukunft noch weiter verbreiten.

Wie man es aber auch dreht und wendet - die womöglich automatische Generierung von Metadaten zur Pflege und Katalogisierung von Primärdaten schafft unweigerlich eins: mehr Daten. Nichts ist wichtiger für die existierenden und die kommenden digitalen Archive als Kataloge und Signaturen, die langfristig gelesen und verstanden werden können, aber wenn diese Kataloge und Signaturen genau wie die Archive selbst in digitaler Form vorliegen, sind sie auch genauso von digitalem Verfall bedroht. Man hofft, dass für all diese Probleme eine langfristige Lösung gefunden wird, und vielleicht kann das kopal-Projekt zu einer solchen Lösung substanziell beitragen. Möglicherweise wird aber am Ende eines schmerzhaften Prozesses auch die Erkenntnis stehen, dass nichts besser ist als Papier.

Warum ist all das so furchtbar wichtig? Warum muss man den ganzen Kladderadatsch oder auch nur ausgewählte „wirklich wertvolle“ Teile eigentlich aufheben? Achselzuckende Gleichgültigkeit hilft leider nicht weiter. Das gruseligste Buch in meinem Bücherschrank ist nicht einer der üblichen Horrorschocker. Es trägt den Titel "Warnungen an die ferne Zukunft - Atommüll als Kommunikationsproblem" (herausgegeben von Roland Posner, Raben Verlag, 1990) und beschäftigt sich mit der Frage, wie das Gefahrenpotenzial von Nuklearabfall über eine extrem lange Zeit kommuniziert werden könnte.

Rettung durch eine "kopal-Priesterschaft"?

Die vorgeschlagenen Lösungen sind alle erbärmlich, die beste Idee formuliert noch Thomas A. Sebeok von der Indiana University in seinem Paper "Die Büchse der Pandora und ihre Sicherung: Ein Relaissystem in der Obhut einer Atompriesterschaft". Der Titel sagt alles, Sebeok schlägt die Sicherung des Wissens über Atommüll und seine Lagerung durch eine Kunstreligion vor, weil Religionen die sozialen Institutionen sind, die bisher Bedeutung am dauerhaftesten tradiert haben.

Daraus folgt, dass keine absolut sichere Methode der Kommunikation über 10.000 Jahre vorgestellt werden kann. Unsere Nachrichten müssen, um ihren Zweck zu erfüllen, immer wieder neu kodiert werden - und das in relativ kurzen Abständen. Deshalb wird mit Nachdruck ein Relaissystem mit eingebauten Verstärkungsmechanismen empfohlen. Es sollte eine Atompriesterschaft ernannt werden, d.h. eine Kommission, die relativ unabhängig von künftigen politischen Entwicklungen ist, die ihre Mitglieder selbst auswählt und die alle Mittel ausnutzt und einsetzt, einschließlich der Mittel, die einen folkloristischen Charakter haben.

Man könnte das auch einfacher ausdrücken: "Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründ ich einen Arbeitskreis." In diesem Fall einen, der zehntausend Jahre lang halten soll. Sowohl die Lächerlichkeit dieser Idee, als auch ihre Analogie zu den Problemen der digitalen Archivare liegen auf der Hand. Schwer vorstellbar, dass eine "kopal-Priesterschaft" das Wissen von heute in digitaler Form für mehrere hundert Jahre retten kann. Was das Jahr 12000 angeht, sollten wir vielleicht im Namen unserer Nachkommen auf ein Wunder hoffen. Etwas anderes bleibt uns sowieso nicht übrig.