Die "Wikipedia", die „nicht ganz dicht“ ist

“Whistleblower“-Portal für Informationen von Verfolgten und Dissidenten geplant

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Es ist heute schwieriger als früher, eine Information geheim zu halten, von der bereits etliche Leute wissen, da es viele Möglichkeiten gibt, sie anonym ins Internet zu bringen. Allerdings kann es Bewohnern totalitärer Staaten sehr schlecht bekommen, wenn ihr Publikationseifer dem Regime bekannt wird. Ein modifiziertes Wiki-System soll hier Abhilfe zu schaffen.

Seitdem das WWW für jeden zugänglich ist, hat die Anzahl der Falschmeldungen (Alle meine Entchen - schwimmen heut im Netz) durchaus zugenommen, ebenso wie die Aufdeckung echter Skandale oder Skandälchen. Selbst, wenn sich keins der etablierten Medien dazu bereit erklärt, eine Meldung zu veröffentlichen, kann sie jeder auf eine eigene Website stellen oder in ein geeignetes Portal stellen. Manche dieser Seiten (Dotcomtod: Revolutions) betreiben dabei eine interne Qualitätskontrolle, um ebenso wie normale journalistische Medien Falschmeldungen, die in diesem Falle ja auch einer falschen Beschuldigung gleichkommen, zu vermeiden. Andere sind weniger gewissenhaft. Klar ist, dass diese Webseiten nicht dem deutschen Recht unterstehen können, wenn sie länger als ein paar Wochen existieren wollen: Derjenige, der eine Falschmeldung lanciert, kann sich mit enormen Schadensersatzfolgen konfrontiert sehen, wenn er dafür zur Rechenschaft gezogen wird.

Noch viel größer wird jedoch der Ärger, wenn die Meldung richtig ist und gerade dies Auswirkungen nach sich zieht: Wer in totalitären Staaten das Regime kritisiert, hat keine große Freude am Leben mehr, wenn ihm dies nachgewiesen werden kann. Und ausgerechnet gegenüber den Staaten, deren Einwohner mit massiven Repressionen zu rechnen haben, wenn ihnen „regierungsfeindliche Aktivitäten“ nachgewiesen werden können, knicken westliche Provider gerne ein (Das Dilemma der Zensur in China).

Natürlich gibt es auch Websites, deren Betreiber Daten nicht an Behörden herausgeben, wenn sie danach gefragt werden. Allerdings kann es natürlich passieren, dass sie gar nicht erst gefragt werden, sondern ein Rollkommando mal eben die Webserver samt Logdateien abtransportiert und dies erst auffällt, weil die Seiten offline sind, wie bei Indymedia geschehen (Internationaler Schlag gegen Pressefreiheit). Wer dann aus einem aus den Logdateien nachverfolgbaren Umfeld die strittigen Einträge getätigt hat, wird dafür zur Rechenschaft gezogen. In demokratischen Staaten sind hierzu Lügen, Verunglimpfungen, Beleidigungen und Verleumdungen notwendig, in nicht demokratischen Staaten reicht weit weniger – die einfache Wahrheit ist sogar am allergefährlichsten.

„Whistleblower“-Portal mit integrierter Anonymisierung

Eine Gruppe von etwa zwei Dutzend Aktivisten plant nun unter dem Titel „Wikileak“ ein Wiki, das ähnlich der Wikipedia lexikalische Einträge sammelt, doch speziell zur Thematik "geheime Informationen". Es soll dort also jeder, wie bei der Wikipedia, anonym Informationen einspielen können. Damit er auch im ungünstigsten Fall, bei einer Beschlagnahme der Server, von den Behörden sicher ist, werden Anonymisierungssysteme wie TOR vorgeschaltet. Auf die Art hoffen die Aktivisten, jetzt weniger dem Mitarbeiter, der seinen Chef anschwärzen will, als den Einwohnern repressiver Staaten wie China, Russland, etlichen Staaten des Nahen Ostens und Afrikas eine Plattform zu bieten, auf der sie kritische Informationen veröffentlichen können, ohne hierfür von ihren Staat aus belangt werden zu können.

Ein Wiki statt eines Forums klingt als Basis für ein derartiges Vorhaben auf den ersten Blick sogar noch gefährlicher, da hier nicht nur Einträge hinzugefügt, sondern auch beliebig geändert werden können – wer was eingetragen hat, ist dann nur mit einem Blick in die Historie nachvollziehbar. Gerade hierin sehen jedoch die Betreiber von Wikileak den großen Vorteil: wird Unsinn, werden bösartige Gerüchte verbreitet, so können andere Wiki-User dies gleich wieder entfernen. Hier wird auf die „Intelligenz des Schwarms“ gesetzt: Die Meinung, die die Mehrheit vertritt, wird wohl die Richtige sein; wer dagegen als Einziger eine eher abstruse Meinung vertritt, wird bald überstimmt.

Wirklich die Wahrheit repräsentieren kann natürlich auch dieses System nicht – ähnlich der Wikipedia dürften kritische Themen schnell so stark attackiert werden, dass eingegriffen werden muss: die Beiträge werden vandalisiert und schlichtweg unlesbar, wenn keine Schreibsperre aktiviert wird. Andererseits kann mit Schreibsperren nicht garantiert werden, dass nun eine halbwegs neutrale Version fixiert ist – es könnte durchaus auch entweder ein ungerechtfertigter Vorwurf oder umgekehrt eine bereits von der entsprechenden Regierung glattgestrichene Version sein.

Problem: Missbrauchs- und Sabotagegefahr

Es ist auch nicht auszuschließen, dass das System für private Schlammschlachten, Stalking, groben Unfug, Werbung, Pornographie und ähnliche Dinge missbraucht wird, wie Steven Aftergood von der Federation of American Scientists zum Thema im New Scientist zu bedenken gibt – ebenso wie es nur schwer vor einer Unmenge automatisch fabrizierter Pseudodokumente zu schützen sein dürfte, die das System überfluten und die wirklich wichtigen Informationen darin untergehen lassen. Immerhin würde eine „eingebaute“ Anonymisierung die Nutzung des Dienstes auch für internettechnisch weniger begabte oder informierte Menschen sicherstellen – gerade in repressiven Staaten werden ja die Bürger weniger über das Internet wissen, weil sie sich offiziell gar nicht so detailliert damit beschäftigen können.

Andererseits: Wenn die Betreiber des Servers anonym bleiben, wie soll man wissen, dass man gerade ihnen vertrauen kann und nicht ein Geheimdienst dahinter steckt? Und wie kann das System vor einer Beschlagnahme geschützt werden, bei der ja auch externe Anonymisierer vorher identifiziert und dann mit beschlagnahmt werden könnten? Zumal Anonymisierungsdienste auch ohne derartige Eingriffe vor Ort nicht hundertprozentig davor sicher sind, dass der Urheber eines Eintrags doch ausfindig gemacht werden kann. Ben Laurie, ein Londoner Computersicherheitsexperte, sagte dazu ebenfalls im New Scientist: "Ich würde mein Leben oder auch nur meine Freiheit nicht einem Dienst wie Tor anvertrauen".

Ganz abgesehen davon, dass allein schon der Zugriff auf den Dienst aus allen für seine Nutzung infrage kommenden Staaten gesperrt oder – noch schlimmer – überwacht werden dürfte. Der Aufruf eines E-Mail-Dienstes dürfte einem überwachenden Staat immer noch weit weniger verdächtig vorkommen als der Aufruf einer derartigen Website.

Zuviel Wirbel bereits vor dem Start

Von daher ist es taktisch ziemlich unklug, ein solches Portal explizit zur Publizierung regimekritischer Äußerungen aufzubauen. Die Tatsache, dass der Dienst, der frühestens im Februar offiziell starten soll, bereits jetzt – ohne Einträge – online ist und dessen Existenz durch angeblich nur einen einzigen Blogeintrag selbst vorzeitig „leckte“ und bekannt wurde, ist taktisch äußerst unklug. Sinnvoller wäre es gewesen, den Dienst erst betriebsbereit zu bekommen und erst dann online zu schalten. Ungünstigstenfalls könnte Wikileak nun so enden wie der Start des ersten „Radio Nordsee“ in den 60er-Jahren, einem Piratensender: "Dank" großspuriger Ankündigungen in der Presse wurde das ganze Projekt durch ein schleunigst erlassenes neues Gesetz gestoppt und illegal gemacht, bevor das Sendeschiff fertig gebaut war und den Hamburger Hafen verlassen konnte.

Wenn allerdings angekündigt wird, dass bereits 1,1 Millionen regimekritische Dokumente vorlägen, sodass man die englische Wikipedia schon bald in der schieren Menge von Inhalten übertrumpfen könne, so muss man eigentlich eher befürchten, dass es sich um ein Projekt von Hochstaplern handelt: Zwei Dutzend noch so engagierte Aktivisten dürften nicht imstande sein, eine derartige Menge Material, so es denn überhaupt existiert, übersichtlich einzupflegen und dabei offensichtlichen Unsinn auszusortieren. Andernfalls wären diese Leute Genies und könnten beispielsweise auch die Aufarbeitung der verbliebenen Stasi-Akten in wenigen Tagen anstelle von Jahren vollbringen.