Campen mit Obdachlosen

In Frankreich setzt eine spektakuläre Solidaritätsaktion mit Obdachlosen die Regierung unter Handlungsdruck

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Seit dem 16. Dezember sind alle wohluntergebrachten Pariser dazu eingeladen, das Leben eines Obdachlosen im Winter zu teilen. Ausgerechnet am touristisch hoch frequentierten Kanal Saint Martin, wurden von der bislang unbekannten Bürgerinitiative Les Enfants de Don Quichotte 250 knallrote Zelte aufgeschlagen, um den SDF (Personen ohne fixes Domizil), wie schon seit geraumer Zeit der viel pittoresker klingende „Clochard“ umschrieben wird, ein textiles Dach über den Kopf zu bieten. Die gut sichtbare Solidaritätsaktion wurde umgehend zum vorweihnachtlichen Dauerschlagzeilenlieferanten. Die Zelte für Obdachlose und solche, die deren tristen Alltag einmal am eigenen Leib verspüren wollen, hielten daraufhin Einzug in den Stadtzentren von Lyon, Marseille, Lille oder Toulouse. Das mediale und allgemeine Interesse ist seitdem nicht mehr abgeflaut, was offenbar auch der mitten im Vorwahlkampf befindlichen politischen Kaste nicht entgehen konnte. In seinen traditionellen Neujahrswünschen an die Fernsehnation forderte Präsident Chirac, seine Regierung dazu auf, umgehend ein „einklagbares Recht auf Unterbringung“ zu schaffen. Doch das war den Don-Quichottes noch nicht konkret genug. Das unangenehm auffällige Zelten geht also nach wie vor weiter.

Zeltlager in Paris. Foto: Les Enfants de Don Quichotte

Letzten Montag musste die Regierung de Villepin klein beigeben. Der für den „sozialen Zusammenhalt“ designierte Minister Jean-Louis Borloo präsentierte einen „verschärften Aktionsplan“ für die Obdachlosen, der im Hauruckverfahren über das Wochenende mit den Kindern Don Quichottes mühsam ausverhandelt werden musste. Der Plan des Ministers verspricht, 27.100 „dauerhafte“ Unterbringungsplätze noch im Laufe dieses Jahres zu schaffen. 3.000 dieser neuen Unterkunftsmöglichkeiten sollen Sozialwohnungen sein, die denjenigen „SDF“ zur Verfügung gestellt werden sollen, die bereit dafür sind, eine „autonome Bleibe“ zu beziehen. Denn der Weg zurück in ein „normales Leben“ scheint für Menschen, die auf der Straße gelandet sind, keine Selbstverständlichkeit zu sein. Daher sollen Personen, die in einer Notunterkunft Zuflucht suchen mussten, künftig eine "soziale Begleitung“ und „konkrete Lösungen entsprechend der persönlichen Situation“ angeboten werden.

Dies alles scheint so ziemlich dem detaillierten Forderungskatalog der militanten Bürgerinitiative zu entsprechen, in dem auf die oftmals herrschenden Missstände in den existierenden Notunterkünften hingewiesen wird. So z.B. die in manchen Strukturen arg ramponierten und zudem heillos übervölkerten Schlafsäle, in denen so etwas wie eine Intimsphäre unmöglich sei. Die oftmals rigiden Öffnungszeiten kämen hilfsbedürftigen Obdachlosen nicht gerade entgegen. Der Borloo-Aktionsplan verspricht nun 5.000 „Stabilisierungsplätze“ mit Zimmern für ein bis zwei Personen, die rund um die Uhr zugänglich sein sollen.

Das von Chirac, stolz verkündete einklagbare Recht auf Unterbringung wird am 17. Januar im Ministerrat präsentiert und soll am 22.Februar vom Parlament abgesegnet werden. Der Staat wird künftig Garant für die Einhaltung eines solchen Rechtes sein, das Ende 2008 „für Personen, die sich in äußerst schwierigen Situationen befinden“, in Kraft treten soll. Damit sind freilich die „SDF“, aber auch die sogenannten „working poor“ und „isolierte Frauen mit Kindern“ gemeint, wie Premier de Villepin erklärt. Ab Januar 2012 soll dann dieses versprochene Recht auf sämtliche Personen erweitert werden, deren Wohnsituation als miserabel bezeichnet werden kann und die sich mit heruntergekommenen und unhygienischen Behausungen zufrieden geben müssen. Ob und wie genau dieses kommende Recht dann auch tatsächlich Menschen mit Wohnproblemen helfen wird können, diese Frage bleibt zunächst unbeantwortet.

100.000 Obdachlose und die „soziale Fraktur“

Die ins mediale Rampenlicht geratenen Bewohner der knallroten Zelte haben vorerst keineswegs vor, ihre Camps aufzulassen. Das könne noch einige Wochen dauern, solange bis für jeden Einzelnen von ihnen eine konkrete Lösung gefunden wurde, wie ein Sprecher der wesentlich erfahreneren Hilfsorganisation Droit au logement (DAL) wissen ließ. Das Misstrauen der „SDF“ und der Leute vom DAL kommt nicht von ungefähr: Bereits Ende 1994 hatte sich die DAL in die damalige Präsidentschaftskampagne eingeschaltet, indem sie gemeinsam mit mehreren obdachlosen Familien ein Gebäude in Paris besetzt hatten. Der schlussendlich siegreiche Kandidat war ein gewisser Jacques Chirac, der während des Wahlkampfes versprochen hatte, die „sozialen Fraktur“ zu lösen.

Laut offizieller Statistik zählt das Land 12 Jahre später 86.500 „SDF“. Die Hilfsorganisationen schätzen die Zahl der Obdachlosen eher um die 100.000. Zudem sind laut der kirchlichen Stiftung Abbé Pierre 3 Millionen Franzosen schlecht untergebracht: 809.000 haben bei der Familie oder Freunden Zuflucht gefunden, 1,1 Millionen leben in Unterkünften ohne WC oder Badezimmer, wie z.B. in Kellern oder Garagen, und 1,03 Millionen müssen sich den spärlichen Wohnraum mit zu vielen Personen teilen. 1,3 Millionen Haushalte warten auf eine Sozialwohnung, in Frankreich HLM („habitation à loyer modéré“ - Wohnung mit moderater Miete), genannt.

Die hochaktive DAL hat letzten Donnerstag in Paris gemeinsam mit zwei anderen Bürgerinitiativen in einem leerstehenden, besetzten Gebäude ein Ministerium der Wohnkrise eröffnet. Das seit 31. Dezember besetzte 6-stöckige Bürogebäude beherbergt zudem einige 10 Familien mit Kindern, die ein Wohnproblem hatten. Die Polizei hat bislang nichts unternommen. Das fiktive Ministerium wider die Wohnmisere will u.a. Betroffenen einen juristischen Beistand anbieten und hat sämtliche Präsidentschaftskandidaten dazu eingeladen, ihre Pläne zugunsten der „schlecht Untergebrachten“ und Obdachlosen zu präsentieren. Ein Angebot, das angesichts der zur Zeit herrschenden hohen medialen Aufmerksamkeit für die Unterbringungsprobleme von Millionen von Franzosen höchstwahrscheinlich in der einen oder anderen Form angenommen werden wird. Die drei links außen stehenden Kandidaten Olivier Besancenot, Marie-George Buffet und Arlette Laguiller sowie die Grüne Dominique Voynet haben ihr Kommen bereits angekündigt.

Solidarität made in France

Ob dieser herrschende politische, bürgerliche und mediale Aktivismus von den roten Zelten der „Kinder Don Quichottes“ ausgelöst wurde, sei dahingestellt. Als letzten Winter die Hilfsorganisation Médecins du Monde 300 Zelte an in Kartons schlafende Obdachlose verteilte, hatte das jedenfalls bei weitem nicht ein derartiges mediales Echo ausgelöst. Den Unterschied könnte der persönliche Involvierungsgrad der Gründer der „Don Quichottes“, die 3 Brüder Legrand, ausgemacht haben. Einerseits schliefen sie selbst in den Zelten am Kanal Saint Martin, andererseits waren mitfühlende „Wohluntergebrachte“ dazu aufgerufen, in einem der über ganz Frankreich verteilten Camps eine Nacht mit den SDF zu verbringen.

Womit die uns fast allen eigene übliche Reaktionsweise auf Obdachlose gestört war: Man sieht sie zwar in unseren Städten scheinbar ziellos umherirren, zieht es aber vor, sie nicht bewusst wahrzunehmen. Teils wahrscheinlich aus schlechtem Gewissen heraus und dem Bewusstsein der eigenen Hilflosigkeit oder vielleicht auch wegen einer unausgesprochenen Angst, dass man einmal selbst auf der Straße landen könnte. Was laut neuesten Umfragen immerhin 48 % der Franzosen zu befürchten scheinen. Oder wie es letzten Winter eine für die „SDF“ zuständige Mitarbeiterin von „Médecins du Monde“ formulierte: „Die Präsenz von Leuten, die auf der Strasse leben, banalisiert sich zunehmend. Auf Dauer gewöhnt man sich an den Anblick von Personen, die draußen schlafen müssen. Diese Zelte sind wie Notsignale, die darauf abzielen, unsere Aufmerksamkeit zu erregen und uns zum Reagieren zu bewegen“. Mangelndes PR-Talent kann man den Brüdern Legrand mit ihren strategisch platzierten roten Zelten jedenfalls nicht unterstellen. Doch kann man ihnen das zum Vorwurf machen?

Es ist nicht zum ersten Mal, dass in Frankreich eine bürgerliche Solidarisierungsbewegung Schwung in angeblich hoffnungslose Angelegenheiten bringt. So geschehen letzten Sommer, als Hunderte von Schülereltern, Lehrern und Erziehern „zivilen Ungehorsam“ gegen bevorstehende Kinderabschiebungen androhten (Widerstand gegen Kinderabschiebungen). Notfalls wollte man die Kinder „illegaler“ Zuwanderer bei sich zu Hause vor der Polizei verstecken. Innenminister Sarkozy musste ob des öffentlichen Rummels 6.924 Ausländer legalisieren. Allerdings befinden sich nach wie vor Zehntausende Personen, teils mit Kindern, ohne Aufenthaltsgenehmigung auf französischem Territorium. Alles lässt sich allein mit Zivilcourage leider nicht lösen.