Die maßgeschneiderte Demokratie

Vorschläge für eine Reform des demokratischen Systems

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Debatte um eine Reform unseres demokratischen Systems wird seit langem hauptsächlich zwischen zwei Polen geführt: Den Vertretern einer repräsentativen Demokratie und denen einer direkten Demokratie. Beide Seiten führen gute Argumente ins Feld, für die eigene Sicht - und gegen die andere. So wird gegen eine repräsentative Demokratie unter anderem eingewandt, dass sie die Menschen bevormunde und entmündige, in vielen Entscheidungen sogar gegen ihren ausdrücklichen, artikulierten Willen handele. Dagegen wird die direkte Demokratie als utopisch abgestempelt, da es den meisten Menschen im Alltag an Zeit, Fachwissen und vor allem an Interesse fehle, zu jeder Detailfrage in unserer hochkomplexen Gesellschaft eine Position zu beziehen. Beide Seiten führen wichtige Punkte auf – ein unlösbares Patt?

Zwar gibt es einige Ansätze, diese Polarisierung aufzubrechen (z.B. Bürgerentscheide in repräsentativen Systemen), meist stellen sie jedoch „nur“ Mischformen dar, welche die obigen Einwände kaum entkräften. Daher soll es hier um einen alternativen Reformvorschlag gehen, um eine Verbindung von repräsentativer und direkter Demokratie. Ziel ist also eine Kombination beider Demokratieformen, welche nicht auf einen Kompromiss hinausläuft, sondern ihre jeweiligen Vorteile uneingeschränkt übernimmt. Darüber hinaus soll den Wählern die volle Gestaltungsfreiheit ihrer politischen Partizipation überlassen bleiben.

Dazu soll im Folgenden eine Demokratiereform skizziert werden, die auf eine Erweiterung um zwei Grundsätze hinausläuft:

  1. Wer eine Stimme zur Mitentscheidung hat, soll selbst entscheiden, ob er/sie diese Stimme a) direkt abgibt (eine Sachenfrage selbst entscheidet) b) einem Stellvertreter (Einzelperson oder Partei) überträgt c) nicht abgibt (sich enthält)
  2. Wenn mehrere Entscheidungen zu treffen sind, dann sollen die einzelnen Wähler für jede einzelne dieser Entscheidungen frei unter den drei oben genannten Partizipationsformen wählen dürfen.

Das Ziel dieser Grundsätze ist, dass jede wahlberechtigte Person die Freiheit hat, sich direkt, indirekt oder gar nicht an den politischen Entscheidungen zu beteiligen:

  1. Die Anhänger einer umfassend direkten Mitbestimmung werden jede einzelne Entscheidung selbst treffen und direkt ihre Stimme abgeben.
  2. Die „Mix-Wähler“ werden bei einzelnen (ihnen wichtig erscheinenden) Fragen oder ganzen Themengebieten selbst entscheiden wollen. Für sonstige Entscheidungen können sie fallweise Personen oder Parteien ihres Vertrauens wählen beziehungsweise sich der Stimme enthalten.
  3. Andere Wahlberechtigte werden ihre Stimme immer – aber durchaus fallweise an verschiedene - Stellvertreter oder Gruppen von Stellvertretern (Partei) überantworten, sich also für gebündelte Pakete von politischen Forderungen entscheiden, wie sie auch heute in umfangreichen Wahlprogrammen festgehalten werden.
  4. Einige Wahlberechtigte werden sich bei verschiedenen Entscheidungen enthalten oder generell „Nichtwähler“ bleiben.

Das Endergebnis der politischen Entscheidung ergibt sich somit aus der Auszählung direkter Einzelstimmen, sowie aus den indirekten (von gewählten Repräsentanten verwalteten) Einzelstimmen. Die Enthaltungen entfallen. Eine einzelne Abstimmung könnte z.B. so aussehen:

  1. 30 % wählen direkt
  2. 50 % übergeben ihre Stimme an Stellvertreter (wovon z.B. 30 % der Wahlberechtigten ihre Stimme immer an Stellvertreter geben und die anderen 20 % nur für diese spezielle Abstimmung ihre Stimme an Stellvertreter übertragen haben)
  3. 20 % der Wahlberechtigten geben gar keine Stimme ab.

Das Abstimmungsergebnis würde sich folglich aus den direkten Stimmabgaben und den Stellvertreter-Stimmen (z.B. Parteien) zusammensetzen.

Zwei Regelungen sollen für die Wahlen gelten:

  1. Jede(r) Einzelne kann seine bevorzugten Wahlmöglichkeiten bis auf weiteres festlegen und zu jedem beliebigen Zeitpunkt widerrufen. Wählt beispielsweise jemand bisher immer direkt, kann er jederzeit für bestimmte Entscheidungen bestimmte Repräsentanten beauftragen. Genauso ist es jederzeit möglich, seinen jeweiligen Repräsentanten die Stimme zu entziehen, um sie anderen Repräsentanten zu geben oder die anstehende(n) Sachfrage(n) selbst zu entscheiden.
  2. Neben der endgültigen Entscheidung über die Gesetzesvorschläge sollten die beiden Grundsätze auch für die Mitgestaltung der Gesetzesvorschläge gelten, um jeder Person die Möglichkeit zu geben daran selbst zu partizipieren oder einen Repräsentanten zu betrauen.

Einige weitere wichtige Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung:

  1. Breiter (passiver und aktiver) Zugang zu relevanten Informationen und Bildung als gesellschaftlich garantiertes, einklagbares Grundrecht jeder/s Einzelnen
  2. Weiterentwicklung bereits bewährter Mechanismen, wie - umfassender Schutz der Grundrechte - konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips (damit bleiben z.B. regionale Belange unter regionaler Kontrolle, was zu einer Entlastung und Entmachtung zentraler Entscheidungsstrukturen führt) - Transparenz- und Informationspflicht staatlicher Institutionen - verschiedene Mehrheits-Definitionen (wie 1/2, 2/3, 3/4) je nach Fragestellung für einfache Gesetze bis hin zur Verfassungsänderung - klar definierte Handlungsspielräume für gewählte Repräsentanten, falls direkte Partizipation technisch und praktisch (noch) nicht möglich ist (z.B. Delegierte für Verhandlungen, konkrete Ansprechpersonen nach Außen)
  3. Diskussion über die Einführung neuer Maßnahmen, wie - ein gewisses Stimmenminimum als Voraussetzung für endgültige Abstimmungsvorschläge (um einer Überlastung der Abläufe vorzubeugen und um zu garantieren, dass zuerst über jene Vorschläge abgestimmt wird, welche die Wahlberechtigten als am dringendsten und wichtigsten erachten) - eine transparente Neuordnung der Finanzierung von Repräsentanten und Parteien - die Installation einer „zeitlichen Verzögerung“ mit dämpfender bzw. stabilisierender Wirkung im (nun dynamischeren) politischen Entscheidungsprozess („Nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird“) - gewählte Gremien um die alltägliche Verwaltung zu koordinieren (z.B. Ministerien). Die Wahlberechtigten entscheiden auch, welche Sachfragen zur Abstimmung gelangen und welche der Verwaltung übertragen werden sollen.
  4. Eventuell: Schrittweiser Übergang in den ersten Jahre dieser Reform, wie z.B. eine - temporäre Übernahme einer „absoluten“ Verfassung - zeitweilige Ausklammerung bestimmter Themen

Technische Umsetzung und Risiken

Heutige Kommunikations-Möglichkeiten und -Infrastruktur machen die oben skizzierten Ideen auf allen Entscheidungsebenen weltweit realisierbar. Selbstverständlich empfiehlt es sich, besonders gesicherte, dezentrale Strukturen zu wählen. Jedoch werden mit einer (mindestens teilweise) elektronischen Wahl trotz aller Sicherheitsvorkehrungen neue Manipulationsmöglichkeiten eröffnet, was problematisch ist und bleibt.

Deshalb appellieren wir, aufgrund heutiger technischer Sicherheitsbedenken nicht die Idee an sich zu verwerfen, sondern noch intensiver als bisher an einer Reduzierung der Missbrauchsanfälligkeit zu arbeiten. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass weder die herkömmliche manuelle, noch die elektronische Wahl einen totalen Schutz vor Wahlfälschungen bieten können. Ähnlich wie z.B. beim Online-Banking sollte deshalb eine Risiko-Nutzen-Abwägung getroffen werden, welche durch die Entwicklung entsprechender Sicherheitsstandards vielleicht schon in naher Zukunft zugunsten einer elektronisch unterstützten Wahl ausfallen könnte.

Zusammenfassung

Entgegen dem Anschein, der oft durch die öffentliche Debatte erweckt wird, schließen sich direkte und repräsentative Demokratie nicht zwangsläufig aus. Warum also nicht ihre viel diskutierten Schwächen umgehen und ihre jeweiligen Stärken in einem System kombinieren?

Anstelle des gegenwärtigen „One-size-fits-all-Zwangs“ ermöglicht die „maßgeschneiderte“ Demokratie eine für jedes Individuum frei gestaltbare politische Partizipation. Die genannten Forderungen, Rahmenbedingungen und Gegenargumente (siehe Anhang) können hier nur kurz skizziert werden. Sie haben auch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Die zugrunde liegenden Ideen sind jedoch systematisch durchdacht und äußerst viel versprechend, weshalb sie in einem kritischen und produktiven Austausch gemeinsam weiterentwickelt werden sollten.

Anregungen und Kritik sind willkommen! E-Mail: Massgeschneiderte.Demokratie (at) googlemail.com

Anhang: Entkräftigung häufiger Gegenargumente