"Ursachen und Wirkungen werden vertauscht"

Dr. Spieler zu Killerspielen

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Die Mehrheit der Deutschen ist für ein "Killerspiel"-Verbot, wie das Institut für Demoskopie, Allensbach in einem Umfrageergebnis jüngst belegt haben will. Doch was sind eigentlich Killerspiele? Ab welchem Grad ist die Darstellung von Gewalt jugendgefährdend? Wie unterscheidet sich die Wirkung von Gewalttaten in Film & Fernsehen von der in Computerspielen? Womit kann man dem Problem jugendgefährdender Games in einer globalisierten Welt begegnen? Der Geschäftsführer der USK (Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle), Dr. Klaus Spieler, hat Antworten.

Die USK ist 1994 als Anlaufstelle für Eltern und Pädagogen in Berlin entstanden. Das freiwillige Projekt des VUD (Verband der Unterhaltungssoftware Deutschland) veranstaltete Beratungsaktionen in Kaufhäusern und orientierte sich eng am FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) -Verfahren, um es für interaktive Unterhaltungssoftware zu adaptieren.

USK-Logos

Die Landesregierung, bzw. der Berliner Senat, sowie der Handel, damals besonders starke Kaufhäuser wie Karstadt, unterstützten die Organisation: 2003 nahm Karstadt nur noch USK-geprüfte Titel ins Sortiment auf. Das führte zu einer Novelle im Jugendschutzgesetz, die die Verbindlichkeit einer Alterskennzeichnung für Spiele in Deutschland vorschrieb.

Die USK hat derzeit sechs Mitarbeiter, die als Logistik von zwei professionellen Jugendmedienschutzgutachtern pro Bundesland und vielen ehrenamtlichen Testern fungiert. Achtmal im Jahr sind die Gutachter verpflichtet an Schulungen teilzunehmen, die der Abstimmung von Kriterien der Bundesprüfstelle, zum Erfahrungsaustausch, zur Information über Trends in der Spieleentwicklung etc. dienen. Fünfköpfige Prüfgremien um einen ständigen Vertreter der Landesbehörden werden von der USK in die Lage versetzt, gutachterliche Entscheidungen zu treffen.

Geprüft werden spielfähige Beta-Versionen. Der Hersteller dieser nahezu verkaufsfertigen Programme muss sich verpflichten, etwaige Änderungen erneut zum Test vorzulegen. Das nach festen Regeln der Alterskennzeichen (ohne Altersbeschränkung, ab 6, ab 12, ab 16 Jahren, keine Jugendfreigabe) erstellte Prüfergebnis des Gremiums wird als Bündel aus Beta, schriftlicher Spielbeschreibung, Dokumentation des Tests sowie der letztlich erschienenen Endversion archiviert. Zur Indizierung, also dem Verbot der Weiterverbreitung eines Mediums, ist nur die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, BPjM berechtigt.

Ab welchem Grad muss Gewalt verboten werden?

Dr. Klaus Spieler: Gewalt muss immer im Kontext bewertet werden. Sind Gewaltdarstellungen nur beeinträchtigend, wird zwischen 16 (Jahre) und keine Jugendfreigabe unterschieden. In Ausnahmefällen, in denen das Fantastische, Märchenhafte erkennbar ist, also z.B. bei Star Wars, kann das Kennzeichen 12 (Jahre) sein. Jugendgefährdende Darstellung von Gewalt kriegt keine Alterskennzeichnung, weil sie möglicherweise indiziert werden könnte. Also: Jugendgefährdende Medien sind zu indizieren.

Woraus sind die Kriterien der Alterseinstufung entstanden?

Dr. Klaus Spieler: Langjährige Diskussionen der Jugendschützer - sicher auch mit Wirkungsforschern, Psychologen und Pädagogen - haben dies herausgestellt. Da es keine exakten Ergebnisse von Wirkungsforschungen gibt, geht es beim Jugendschutz nicht nur um wissenschaftlich belegte Dinge. Der Jugendschutz hat das Recht auf Wirkungsvermutungen hin zu entscheiden: Wenn das Gremium mehrheitlich vermutet, gilt ein Spiel als jugendgefährdend.

Wo liegt der Unterschied zwischen den Kriterien der USK (Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle) und der FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft)?

Dr. Klaus Spieler: Es ist ein Unterschied, ob man sich etwas ansieht oder aktiv ausübt. Nehmen sie als Beispiel die virtuelle Welt von "Second Life". Man steuert eine Figur, für deren ethisches Verhalten man verantwortlich ist. Wenn ich in dieser Second Life-Welt "leben" will, muss ich ehrlich sein, Verabredungen einhalten und darf nicht als Rowdie auftreten.

Wie im wahren Leben: In dem Ausmaß, in dem man größere Handlungsfähigkeit hat, ist man auch ethisch stärker verantwortlich. Der Mensch, der einen Film guckt, sieht, was ihm der Regisseur zeigt, während der spielende Mensch Darstellungen, die in der Software stecken, selber hervorbringt. Deshalb finde ich die Diskussion über die ethische Verantwortung im Ego-Shooter nicht abwegig.

Wir müssen eine Beziehung zwischen dem, der spielt, und dem Spiel beurteilen

Interaktivität ist also der wichtige Unterschied zum passiven Filmkonsum?

Dr. Klaus Spieler: Das merkt man besonders bei der Problematik von "offenen Spielen". Bei "GTA San Andreas" müssen sie nicht alle möglichen Gräueltaten begehen, um zum Ziel zu kommen. Aber sie können es! Wir als Prüfer haben keinen linearen Ablauf, der wie im Film angeschaut und am Ende beurteilt wird, sondern wir müssen im Prinzip eine Beziehung zwischen dem, der spielt und dem Spiel beurteilen. Also: Man muss z.B. sehen, ob der Spieler den Ablauf erzeugt oder ob es ein Automatismus ist.

GTA San Andreas: Cool, cooler, GTA: "Grand Theft Auto: San Andreas" ist ein "offenes Spiel". Dem Spieler liegt eine riesige Großstadt zu Füßen, die er frei von vorgegebenen Wegen bereisen kann. Neben der Reihenfolge an Aufgaben, die zu lösen sind, bestimmt er u. a. auch die Härte seiner Vorgehensweise.

Warum kommt es nach Verbrechen von Jugendlichen ohne große Umschweife zu Verbotsforderungen von Computerspielen?

Dr. Klaus Spieler: Solche Taten werden eigentlich immer im Zeitgeist inszeniert. In Goethes Zeit hatte man auch eine Verbotsdiskussion. Damals war man der Meinung, Goethes Buch "Die Leiden des jungen Werthers" stifte junge Männer zum Selbstmord an. Der Zusammenhang ist, dass die Delinquenten aus dem Zeitgeist entsprechende Elemente entnehmen, z.B. auch dass sie bei der Tat etwas Bestimmtes aus dem Bereich Film oder Musik anziehen.

Doch ich denke, dass eine monokausale Erklärung nicht möglich ist. Derjenige, der einen Zusammenhang zwischen dem Spiel Counter Strike und der Tatsache, dass jemand Amok läuft herstellt, müsste eigentlich viel zu viele verdächtigen, die nicht auf die Idee kommen. Wer Erklärungen sucht, muss auf andere soziale und sonstige Faktoren zurückgreifen. Die Öffentlichkeit nimmt aber die Erklärungen, die am plausibelsten sind. Deswegen redet man bei Killerspielen von Counter Strike, obwohl das eigentlich kein gutes Beispiel ist. Der Titel ist jedoch Metapher geworden.

Gewaltdarstellung und ihre breite Schilderung werden dann zur Straftat, wenn sie junge Menschen dazu verführen, Spaß daran zu haben anderen Leid zuzufügen

Was sind denn richtige Killerspiele, abgesehen von kriegerisch inszenierten Versteckspiel-Varianten wie Paintball?

Dr. Klaus Spieler: Alle Spiele, in denen man auf andere schießt, wobei man den Begriff Killerspiele eigentlich nicht braucht. Wir haben genug Begrifflichkeiten, im Strafrecht wie im Jugendschutz, die den Sachverhalt, der gemeint ist, präziser bezeichnen. Paragraph 131 schützt ja nicht vor Darstellungen von Gewalt, sondern er schützt ein Verfassungsgut, nämlich die Menschenwürde. Das heißt Gewaltdarstellung und ihre breite Schilderung werden dann zur Straftat, wenn sie junge Menschen dazu verführen, Spaß daran zu haben anderen Leid zuzufügen.

Das ist eine wichtige Abgrenzung, die man mit dem Begriff Killerspiel nicht hinkriegt. Damit könnte man auch die Schießscheibe auf dem Polizeischießstand meinen, wo auch schon mal ein Foto angeklebt wird.

Was will man denn dann schützen?

Dr. Klaus Spieler: Ich möchte nicht, dass jüngere und vielleicht auch ältere Leute ein Spiel spielen, in dem sie jemandem Schmerz zufügen und sehen, wie er die Schmerzen empfindet. Also ihm in den Bauch schießen und er krümmt sich, dann noch ins Knie und er schreit - da wäre ein Verbot völlig richtig, weil eine Grenze überschritten wird. Mit dem Begriff Killerspiel verharmlose ich das Thema eher, als dass ich es benenne.

Agatha Christie hat sich in ihren Romanen z.B. neben den tausendundeins verschiedenen Arten jemandem das Leben zu nehmen, noch die tausend und zweite ausgedacht. Diese Kriminalgeschichten werden auch in Schulen aufgeführt. Niemand käme auf die Idee, dass der Schüler, der den Mörder spielt und die Schülerin, die die Ermordete spielt, real etwas mit Mord zu tun hätten oder Killer wären. Damit etwas ein Spiel wird, bei dem man sich über Verbote unterhält, muss eine bestimmte, nämlich negative ethische Qualität hinzukommen.

Wir haben ein Kontrolldefizit

Es ist nachgewiesen, dass mehr als Dreiviertel der deutschen Bevölkerung keine Computerspiele spielt. Dennoch sind statistisch mehr als 60% für ein Verbot von Killerspielen. Wird derzeit nicht von politischer Seite Stimmung gegen etwas Fremdes gemacht, bzw. gegen etwas, das die Leute gar nicht kennen?

Dr. Klaus Spieler: Das ist auch gleich die eigentliche Erklärung; wir haben ein Kontrolldefizit. Damit das nicht ironisch auffasst wird: Als Vater und Mutter ist ein Kontrolldefizit etwas sehr Unangenehmes. Man stelle sich vor, das Lesen wäre gerade erfunden worden. Kinder könnten lesen, Erwachsene nicht. Wie gucken dann die Eltern auf das Kind, das liest und was machen sie, wenn ab und zu ein Guru kommt und ihnen ein paar obszöne Stellen vorliest? - Sie reagieren entsetzt.

Im Moment haben wir diesen Zustand - ähnlich wie bei Handy und Internet -, dass Erwachsene ihr Kontrolldefizit sehen und sich Sorgen machen: Wie überzeugen wir uns davon, dass das den Kindern nicht schadet? Für die Gesellschaft ist es ein schwieriger Vorgang zu begreifen, dass es mit Verboten nicht geht - sie selbst muss sich Mühe geben! Doch wenn der Arzt einen vor die Wahl stellt, das Leben zu ändern oder jeden Tag eine Pille zu schlucken, dann schluckt man lieber die Pille - einmal entscheiden und alles ist gut.

Warum gibt es nur unzureichende wissenschaftliche Untersuchung auf dem Gebiet der Wirkung von Computerspielen?

Dr. Klaus Spieler: Wegen methodologischer Schwierigkeiten. Derzeitige Studien messen kurzfristige Wirkungen. Das Problem ist, dass kurzfristige Wirkungen meistens gewollt sind. Deshalb geht man in einen Krimi oder einen Liebesfilm - nicht um Verbrecher, noch um Don Juan zu werden, sondern um sich über einen kurzfristigen Zeitpunkt eine bestimmte Wirkung zu verschaffen.

Das Problem der Wirkungsforschung ist, dass sie für Jugendschutz zu wenig hergibt

Wie grenzt man kurzfristige Wirkungen von längerfristigen ab?

Dr. Klaus Spieler: Ein besserer Zugang wäre zu fragen: Gibt es die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Typen lieber in einen Krimi gehen und andere lieber in einen Liebesfilm? Ein Forschungsprojekt der FU Berlin hat festgestellt, dass sich Menschen mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur für bestimmte Spiele entscheiden.

Wenn ich aber wie Professor Pfeiffer (prominenter Kriminologieexperte, der, gemeinsam mit Bayerns Innenminister Günther Beckstein, die USK harsch kritisiert; Anm. d. Autors) mir Leute vornehme, die einen bestimmten sozialen und kulturellen Hintergrund haben, dann stelle ich fest, dass diese andere Spiele spielen als bürgerliche Existenzen. Die Unsauberkeit besteht darin, dass ich hier relativ flott Ursachen und Wirkungen vertausche. Das, was Herr Pfeiffer Medienverwahrlosung nennt, vollzieht sich in einem Kontext von Familienverwahrlosung. Also: Das Kind spielt den ganzen Tag in seinem Spielzimmer was es will; die Eltern kümmern sich nicht drum, weil sie lieber einen trinken.

Jetzt ist die große Frage: Was ist das Huhn und was ist das Ei? Meiner Meinung ist es viel wahrscheinlicher zu sagen, die Familienverwahrlosung ist die Ursache für Medienverwahrlosung - umgekehrt halte ich es für schwieriger. Das Problem der Wirkungsforschung ist, dass sie für Jugendschutz zu wenig hergibt. Deshalb haben wir dieses gesetzlich anerkannte System in Deutschland, das der Gesellschaft im Fall des Jugendschutzes das Recht auf Vermutungen zuspricht. Wenn sie z.B. Vater eines Kindes sind, haben sie das Recht zu sagen: Es ist mir egal, ob ich beweisen kann, dass ich Recht habe; ich möchte es nicht! Und die Gesellschaft hat im Jugendschutzbereich das Recht, sich ähnlich zu verhalten. Es ist ein Verständigungsvorgang, den wir im Moment erleben.

Das deutsche System der Alterseinstufung zählt bereits seit Jahren zu den strengsten weltweit. Übers Internet werden Killerspiele international vertrieben - auch nach Deutschland. Wie sollte unsere Gesellschaft dem Problem eines möglichen Zusammenhangs gewalttätiger Spiele und realer Gewalttaten gestörter Jugendlicher am besten begegnen?

Dr. Klaus Spieler: Wir müssen eine kulturelle Kontrolle erreichen. Das heißt mit dem Medium Computerspiel so umzugehen lernen, wie man heute mit den älteren Medien umgehen kann. Ein Buch z.B. können die Eltern selbst in die Hand nehmen und den Kindern raten - nicht verbieten! - ein anderes Buch zu lesen. Das ist ein Teil von dem, was ich mit kultureller Kontrolle meine. Die Gesellschaft hat ihre Arten Geschmacklosigkeiten festzustellen und zu ahnden.

Sie kann Formen entwickeln, in denen sie sich öffentlich nicht nur über die ethische, sondern über die gesamte Qualität von Computerspielen verständigt. Das Problem ist doch, dass wir hier über eine Subkultur reden. Und die Kulturvermittler halten sich dieses Thema vom Halse. Wie sollen da Qualitätsmaßstäbe entstehen?!

Ist der Beginn einer europaweiten Diskussion ein Schritt zu neuen Maßstäben?

Man muss sich nicht die Illusion machen, dass man Jugendschutz in Europa in irgendeiner Form standardisieren kann. Das hat etwas mit Nationalkultur tun und mit dem, was die jeweilige Kultur für Schützenswert hält. Die einen schützen Kinder von Skatspielen, die anderen vor Kriegsverherrlichung und die dritten vor Sex und schmutzigen Worten - und die Unterschiede sind ziemlich breit, da braucht man bloß mal PEGI mit der USK vergleichen. So wie ich die EU verstanden habe, will sie dass Jugendschutz in allen Ländern ernst genommen wird, aber in jedem Land nach seinen Regeln.