Die neuen Herausforderungen der Wikipedia

Das Erfolgsprojekt des "kollaborativen Internets" könnte von einer Stärkung der anderen Projekte profitieren

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Vor einem Jahr betrachteten wir an dieser Stelle fünf Herausforderungen (vgl. Fünf Herausforderungen für die Wikipedia) für die freie Internetenzyklopädie Wikipedia. Für die Wikipedia war dies eine Zeit des Umbruchs. Gründer Jimmy Wales will die Wikimedia Foundation zu einem "Roten Kreuz des Wissens" umbauen. Kurz gesagt: die Wikipedia steht vor neuen Herausforderungen.

Im Jahr 2003 hatte Jimmy Wales die Wikimedia Foundation gegründet um das organisatorische Rückgrad für Wikipedia und weitere Projekte zu bilden. Doch wie die Wikipedia selbst begann auch die Foundation als idealistisches Experiment: Der Vorstand, das "Board Of Trustees" kam in den ersten zwei Jahren nicht allzu regelmäßig zusammen, Entscheidungen kamen eher zufällig zu Stande. Die wenigen Angestellten konnten sich nur um die wichtigsten organisatorischen Fragen kümmern.

Organisation: Das System läuft noch nicht richtig rund

Im vergangenen Jahr wurden die Weichen für einen Ausbau der Wikimedia Foundation gestellt. So stellte Wales im März den Anwalt Brad Patrick ein, um die Einstellung eines hauptamtlichen Geschäftsführers in die Wege zu leiten. Doch dazu kam es bisher nicht: Brad Patrick arbeit immer noch als Interims-Geschäftsführer, eine dauerhafte Lösung steht erst wieder im Sommer auf der Tagesordnung.

Um die Personalknappheit zu überbrücken setzt die Wikimedia Foundation auch auf die Mitarbeit von Freiwilligen. Die Wikimedia Committees arbeiten der Foundation zu, hier arbeiten unbezahlte Community-Mitglieder und die wenigen Foundation-Angestellten Hand in Hand zusammen. Doch noch läuft das System noch nicht richtig rund. Nicht alle Aufgaben kann man sinnvollerweise auf solche Kommittees verlagern. Um wirklich effektiv an den Zielen der Stiftung zu arbeiten, muss die Stiftung ihre Kapazitäten erhöhen.

Finanzen: Gelder organisieren, ohne die Community zu verstimmen

Zum Ausbau der Organisation gehören natürlich die entsprechenden Finanzmittel. Zwar hat die Wikimedia Foundation beim jüngsten Spendenaufruf die beachtliche Summe von einee Million Dollar eingenommen, rosig ist die Finanzlage der Stiftung aber nicht. Die Summe reicht nur für die notwendigsten Ausgaben, an Neuanstellungen oder Investitionen in die Zukunft ist derzeit nicht zu denken.

Um die Organisation auf eine gesunde finanzielle Grundlage zu stellen, muss die Wikimedia Foundation neue Finanzquellen erschließen. Das ist alles andere als einfach. Als die Stiftung auf jeder Wikipedia-Seite eine Dankesnotiz samt Logo eines Spenders hinterließ, sorgte das für lautstarke Proteste. Sogar beim Spender gingen Protestschreiben ein, um den Werbeeffekt der Aktion möglichst zunichte zu machen.

Die Stiftung muss also Mittel und Wege finden, um Gelder zu organisieren, ohne die Community zu verstimmen. Klassische Online-Werbung fällt daher erst einmal aus, wenig ausgenutzt wurden bisher aber die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Firmen und Institutionen. Das Problem dabei: die Stiftung kann nur wenig als Ausgleich bieten: Die Texte in der Wikipedia sind ebensowenig verkäuflich wie die Nutzerdaten der Wikipedianer, die Stiftung besitzt lediglich die Markenrechte an dem Namen.

Legitimität: Schwieriger Konsens mit einer nicht genau umrissenen Community

In den ersten Jahren war Jimmy Wales als Vorsitzender der Wikimedia Foundation die letzte Instanz in allen wichtigen Fragen der Wikipedia. Wenn seine Entscheidungen auch nicht immer unumstritten waren, konnte er jedoch das letzte Wort für sich beanspruchen. Doch im Herbst hat Wales das Amt des Vorsitzenden abgegeben und will sich mehr um andere Projekte kümmern wie seine neue Firma Wikia. Die neue Vorsitzende Florence genießt zwar hohen Respekt in der Community, tritt aber in große Fußstapfen.

Ohne die letzte Instanz werden die Widersprüche mehr zu Tage treten, die das Selbstverständnis der Wikipedia prägen. So kokettiert die Wikipedia noch heute mit einem Mischmasch der Machtstrukturen; Entscheidungen werden meist in einem ungeregelten Konsens erzielt. Wer sich gerade mit einem Problem beschäftigen will, bestimmt auch darüber. Erst wenn übergreifende Interessen eine Rolle spielen, greift die Wikimedia Foundation ein.

Die Stiftung steht dabei vor einem Dilemma: Sie muss aktiv arbeiten, um ein Auseinanderdriften der Wikimedia-Projekte in über 200 Sprachen zu vermeiden. Auf der anderen Seite kann sie nicht zu viel intervenieren, ohne für alle Inhalte auch rechtlich verantwortlich gemacht zu werden.

Auch die Verankerung in der Community ist nicht klar geregelt. Im vergangenen Jahr hat die Wikimedia eine Wahl angestrengt, um einen Community-Vertreter in den Foundation-Vorstand zu wählen. Die Wahlergebnisse zur letzten Wahl zeigen ein gemischtes Bild. Der Wahlgewinner Erik Möller konnte 987 Stimmen auf sich vereinen.

Angesichts der Größe des Projekts und des Wahlmodus ist das natürlich eine enttäuschende Quote, Wikipedia-Gründer Jimmy Wales verweist jedoch immer wieder darauf, dass der harte Kern der Wikipedianer nur einige Tausend Nutzer umfasst. Nur wenige der ungezählten Wikipedia-Nutzer hat tatsächlich Zeit und Lust, sich aktiv für die Arbeit zu engagieren. Im Zuge der neusten Vergrößerung des Vorstandes verzichtete die Stiftung dann auch auf eine Abstimmung der Community.

Der jüngste Streit um die Spendenkampagne hat gezeigt, dass es schwer ist, mit einer nicht genau umrissenen Community einen Konsens auszuhandeln: Jeder kann als Community-Vertreter auftreten. Nur eins ist sicher: für jede Idee und Initiative finden sich Zweifler und Gegenspieler. Die Foundation steht vor der Herausforderung die Community gleichzeitig repräsentieren und führen zu müssen. Voraussetzung dafür sind bessere Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Community und Stiftung.

Verbesserung der Arbeitsabläufe

Kern des Erfolgs der Wikipedia ist das einfache Mitarbeiten: In einem Wiki kann jeder fast jede Seite bearbeiten. Aber mit wachsender Größe ist auch die Wikipedia immer komplexer geworden. Zwar wird die Software Mediawiki ständig weiterentwickelt, doch die Arbeit im Wiki ist immer komplexer geworden. Wer mehr als nur Tippfehler korrigieren will, muss sich mit der komplexen Syntax der Software vertraut machen, Autoren müssen lernen mit kryptischen Links und Vorlagen zu arbeiten.

Die Arbeit in der Wiki-Umgebung setzt auf viel Handarbeit. So muss jeder Nutzer seine Diskussionsbeiträge korrekt einsortieren und einrücken. Selbst wenn sich alle Beteiligten an die Konventionen halten, werden Wikipedia-Diskussionen in kurzer Zeit unlesbar.

Erste Ansätze zu einer wesentlichen Verbesserungen sind schon seit Monaten auf dem Weg: So hat der Konzern Google die Entwicklung eines alternativen Diskussions-Systems namens LiquidThreads gesponsort. Wann das Vorhaben und weitere geplante Verbesserungen umgesetzt werden soll, ist noch völlig unklar.

Ausgleich der Projekte

Die Wikipedia ist das Erfolgsprojekt des „kollaborativen Internets“ und auch der Wikimedia Foundation. Sie beansprucht die meiste Aufmerksamkeit und die meisten Ressourcen der Wikimedia-Foundation. Schwesterprojekte wie Wikinews, Wikiquote oder Wiktionary fristen eher ein Schattendasein. Sie haben in der Öffentlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit und auch die Anzahl der Mitstreiter ist gering.

Zuweilen führt das zu unschönen Effekten: denn ohne eine kritische Masse von Mitarbeitern funktioniert die Qualitätskontrolle der Wikipedia nicht; Vandalismen und Urheberrechtverstöße werden nicht zuverlässig aussortiert. So musste die Wikimedia Foundation im März die Notbremse ziehen und die französische Ausgabe der Zitatsammlung Wikiquote löschen und neu starten - zu viele Urheberrechtsverletzungen hatten sich angesammelt.

Darunter leiden nicht nur die Schwesterprojekte, auch die Wikipedia könnte von einer Stärkung der anderen Projekte profitieren. So beeindruckt die Wikipedia zwar immer wieder durch ihre Aktualität: Todesnachrichten oder weltpolitische Ereignisse werden in Minutenschnelle in die entsprechenden Artikel aufgenommen. Diese Aktualität ist aber auch ein Mangel: Denn oft werden Artikel unter dem Eindruck aktueller Ereignisse editiert und dann liegen gelassen.

Widerstreitende Berichte werden erst in langen Editwars auf die tatsächlichen Fakten reduziert. Die kollaborative Nachrichtenplattform Wikinews wird dadurch kannibalisiert: So umfasst der Wikipedia-Eintrag zum aktuellen Sturmtief über Deutschland drei Seiten, die Wikinews-Meldung jedoch nur drei Zeilen. Würde man die aktuellen Ereignisse jedoch zuerst in Wikinews integrieren, um die gesicherten Informationen dann in der Wikipedia zu verarbeiten, könnten beide Projekte profitieren.