Ein ganzes Jahrhundert denken, um weiter zu kommen

Die politische Philosophie Alain Badious, der als einer der einflussreichsten Theoretiker Frankreichs gilt

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Alain Badiou ist der am häufigsten übersetzte französische Philosoph der Gegenwart. Das „magazine littéraire“ zählt ihn neben Jacques Rancière und Étienne Balibar zu den einflussreichsten politischen Theoretikern des Landes. Zum „Weltdenker des Jahres 2005“ kürten die kanadischen Antiwerbefeldzügler adbusters Badiou, und hierzulande erscheinen seine Bücher beim als „Merve“-Nachfolger gehandelten diaphanes-Verlag. Zum Modephilosophen hat der 69-Jährige dennoch nicht das Zeug, dafür hat sein Werk zu viele hässliche Seiten.

Wo stehen wir heute? (...) Jede vernünftige Aktivität ist limitiert und limitierend, ist begrenzt durch das Schwergewicht der Realität. Was man allenfalls tun kann, ist, das Böse zu vermeiden, und der kürzeste Weg dahin besteht in der Vermeidung jeden Kontakts mit dem Realen überhaupt.

Alain Badiou

Diese Standortbestimmung nimmt Alain Badiou in seinem Buch „Das Jahrhundert“ vor. Der Erfahrungshunger ist dem Philosophen zufolge endgültig gesättigt, die Epoche nimmt bescheiden mit der Demokratie als der nach Churchill „schlechteste(n) Staatform, ausgenommen alle anderen“ vorlieb und aktualisiert nur in regelmäßigen Abständen das Böse, damit sie etwas zum Abgrenzen hat und nicht in eine Legitimationskrise gerät. Ansonsten reicht ihr eine laue Menschenrechtsphilosophie als geistiger Überbau, die das neoliberale „Business as usual“ zum Ladenschluss der Weltgeschichte nicht weiter stört.

„Wie kommen wir von hier weg?“ - diese Frage steht deshalb im Mittelpunkt von Alain Badious neuerem Werk. Der Mathematiker und Romancier, der bei Louis Althusser in die philosophische Lehre ging und 1968ff seine Praxisseminare in einer maoistischen Gruppe absolvierte, was ihn bis heute nicht reut, will die stillgestellte Zeit überwinden, koste es, was es wolle - und das ist nicht wenig.

What‘s left?

Viel intellektuelles Rüstzeug steht Badiou für diesen Aufbruch nicht mehr zur Verfügung. Auf die Geschichte vertraut er nicht mehr, an eine sozialistische Ökonomie glaubt er ebenso wenig wie an Dialektik, und das politische Subjekt ist ihm auch abhanden gekommen. „Dieses politische Subjekt hat mehrere Namen gehabt. Es hat sich citoyen genannt (...) Es hat sich Berufsrevolutionär genannt oder Kämpfer der Massensituationen. Heute befinden wir uns zweifellos in einer Zeit, da sein Name suspendiert, da der Name noch zu finden ist“, heißt es in „Über Metapolitik“. Der Weltgeist steht auf der Seite der Macht, die Ohnmächtigen betreten die politische Bühne dagegen „wie ein stets provisorischer Unfall in der Geschichte der Herrschaftsformen“, stellt Badiou seinen Kollegen Jacques Rancière zitierend fest.

Seine „What‘s left“-Bilanz fällt also ziemlich ernüchternd aus. Viel ist nicht übrig geblieben - das aber gewaltig. In „Über Metapolitik“ macht er sich das Denken des französischen Mathematikers und Philosophen Jean Cavaillès zu Eigen. Dieser führte für sein Mitwirken bei der Résistance keine moralischen, patriotischen oder sonstwie politischen Gründe an, für ihn war es schlicht eine Sache der Logik.

Ich bin Spinozist. Ich glaube, dass wir überall Notwendiges erfassen. Die Verknüpfungen der Mathematiker sind notwendig; notwendig sind sogar die Etappen der mathematischen Wissenschaft; notwendig ist auch dieser Kampf, den wir führen.

Jean Cavaillès

Tun, was getan werden muss, und was das ist, legt für Badiou konsequenterweise ein Axiom fest, das der Gleichheit.

Ja, es kann hier und jetzt eine Politik der Gleichheit geben, und es gibt sie, weil es eben nicht darum geht, sie zu realisieren, sondern, sie postulierend, hier und da durch die rigorose Praxis ihrer Konsequenzen die Bedingungen für eine Universalisierung ihres Postulats zu schaffen.

Alain Badiou in „Über Metapolitik“

Seine Philosophie changiert zwischen einer nüchternen Mikropolitik „ohne alles“ und dem Festhalten an den großen Erzählungen der Wahrheit, der Rationalität und der Erklärbarkeit der Welt. Dabei tendiert sie im Zweifel aber zu den starken Zeichen. Hatte Badiou in den Hochzeiten der Studentenbewegung mit seiner Truppe noch Seminare des nomadisch-hedonistischen Star-Philosophen Gilles Deleuze heimgesucht und sich als Wunschmaschinenstürmer betätigt, so versucht er heute, dessen „small is beautiful“ zu relativieren und den Meisterdenker in seinem Buch „Deleuze - das Geschrei des Seins“ zu einem systematisch-asketischen „Metaphysiker des Einen“ zu machen.

Badious selbstgestrickte, von Marx losgelöste linke Philosophie mag hiesige Theoretiker, welche die ödipalen Bande zum Übervater nicht zu kappen wagen, ob ihrer Kühnheit ziemlich verblüffen. Im Nachbarland verfügt sie aber nicht über ein Alleinstellungsmerkmal. Wo Habermas & Co. vornehmlich im großen Ganzen befangene Staatsdenker sind, gibt es in Frankreich von Jean-Paul Sartre und Louis Althusser über Michel Foucault und Jacques Derrida bis hin zu Jean Baudrillard, Gilles Deleuze und Jacques Rancière eine neu begründete Tradition von oppositionellem Denken, welche die alte in den Hintergrund hat treten lassen.

Das Jahrhundert denken

In seinem gerade in der Bundesrepublik erschienenen Buch „Das Jahrhundert“ nimmt sich Badiou der Mammut-Aufgabe an, das ganze 20. Jahrhundert zu denken, ohne die Conclusio zu ziehen, der momentane Stand der Dinge wäre die einzig wahre Lehre aus der Geschichte. Sein „Jahrhundertschritt“ durchmisst einen Parcours, der von der Oktoberrevolution, dem Stalinismus und Maoismus über Brecht, Freud, den Surrealismus und die Mathematik bis zur fragilen Lyrik eines Paul Celan oder Ossip Mandelstams reicht. Dabei erhebt sich der Philosoph nicht über seinen Gegenstand, sondern untersucht, „wie sich das Jahrhundert selbst gedacht hat“.

Entgegen der landläufigen Meinung hat es Badiou zufolge weniger die Idee als vielmehr die Tat umgetrieben; es zeigte eine Obsession für das Reale. Die Zeit konnte das Jahrhundert bei dieser Leidenschaft allerdings nicht mehr an seiner Seite wähnen, wie es noch das vorhergehende vermochte: Die Zukunftsgewissheit hat sich nicht über die Jahrhundertschwelle gerettet. Aber trotz der pessimistischen Grundstimmung wendeten sich die Jahrhundert-Aktivisten nicht von der Welt ab. Sie entwickelten einen „aktiven Nihilismus“ und wollten Geschichte erzwingen. Wo der Traditionsfaden gerissen war, musste die historische Verknüpfung mit Gewalt wiederhergestellt werden. Unter Rückgriff auf den von Deleuze geprägten Begriff „disjunktive Synthese“ beschreibt Alain Badiou die politische Praxis des von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Studentenbewegung dauernden „kleinen Jahrhunderts“.

Aber Exzesse beförderte nicht nur dieser Voluntarismus. „Das Jahrhundert wird das der Eindeutigkeit gewesen sein“, schreibt der Denker. Und die Sehnsucht nach Reinheit zog zwangsläufig Säuberungen nach sich, umso mehr, als das Jahrhundert gar nicht genau wusste, wohin es seine Obsession für das Reale tragen sollte. Es vermeinte nur zu wissen, was nicht realitätstauglich war und hoffte, sich seinem Ziel über den Ausschluss negativer Bestimmungen anzunähern - mit blutigen Folgen. Dies blieb nicht allein auf den Stalinismus oder Maoismus beschränkt. Badiou sieht den Purismus auch bei dem sich jeder malerischen Geste enthaltenden „Weißen Quadrat auf weißem Grund“ Malewitschs, bei der eine Theorie des reinen Denkens begründen wollenden Mathematik, der Tabula-Rasa-Haltung des Surrealismus, der Stille in der Musik Weberns und den Autodafés der Situationistischen Internationale am Werk.

Jenseits von Gut und Böse

Diese Ausweitung des Phänomens hat allerdings die Nebenwirkung, die genuin politische Gewalt zu relativieren. Überdies spricht Badious Ansatz, das Jahrhundert zu einem Akteur zu machen, dessen Handlungen eine Intelligibilität zu, die nach dem hegelianischen Segen von „Das Wirkliche ist vernünftig“ heischt. Der Philosoph stellt dann auch unmissverständlich klar, sich nicht „jener weichlichen und moralischen Kritik“ anzuschließen, „die heute gewöhnlich an der absoluten Politik oder am ‚Totalitarismus‘ geübt wird“.

Die Emanzipationsbewegungen können nach Badiou keine Haftung für das Neue übernehmen, das jenseits von gut und böse steht, eben weil es neu ist, und deshalb billigen sie, was die alte Welt als das Schlimmste erachtet. Der Denker lehnt es ab, dieses „Schlimmste“ von historischen Prozessen abzuspalten, wie es die Thermidorianer der Französischen Revolution und der Studentenbewegung taten, um es zu einem willfährigen Objekt für eine restaurative Menschenrechtsphilosophie zu machen. „Tugendterror“ - das ist für Badiou nicht so einfach auseinanderzubringen, ohne mit dem Terror auch die Tugend aufzugeben.

„Badiou will das Jahrhundert in seinen Fehlen und Exzessen verteidigen“, konstatierte deshalb die taz. Aber auf ein philosophisches „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“ lässt sich sein Denken nicht reduzieren. Die Frage, warum die Aufbrüche des Jahrhunderts in einem Kult des Staates und bürokratischer Unterwerfung endeten, stellt sich auch Alain Badiou. Der Philosoph glaubt, gerade weil er den „Traum von einer Sache“ nicht aufgeben will, zu einer befriedigenden Antwort befähigt zu sein. Er erklärt die Exzesse mit einem geradezu mythischen Glauben an die Masse und ihre Souveränität, die sich bei politischen Ereignissen direkt, ohne institutionelle Vermittlung, realisiert, was die Grenze zwischen Demokratie und Zwangsherrschaft verwischt und zu Brüderlichkeitsterror führen kann. Der marxistische Terminus „Diktatur des Proletariats“ bringt für Badiou diese Doppeldeutigkeit zum Ausdruck. Die der souveränen Masse adäquate Staatsform wäre der herrschaftsfreie Raum des Kommunismus; auf dem Verwaltungswege ist ihre Ursprünglichkeit nicht wieder einzuholen. Der Staat kann die Massenbewegung nicht re-präsentieren. Versucht er es dennoch, entsteht in seinem Inneren eine Leere, die Stalin & Co. qua „disjunktiver Synthese“ ohne Rücksicht auf Verluste gestopft haben.

Für seine Theorie und Praxis zieht Badiou daraus Konsequenzen. „Die Gemeinschaft oder das Kollektiv ist das Unbenennbare der Politik“, schreibt er und verabschiedet sich auch noch von anderen großen Worten. Statt auf die „massive Geschichte“ setzt er mit der von ihm mitgegründeten Organisation politique auf beschränktes Handeln. Die Gruppe ist keine Partei und hat kein Programm, greift aber kontinuierlich, etwa auf Seiten streikender Arbeiter oder der „Sans Papiers“, in politische Auseinandersetzungen ein. Axiome wie „Alle, die hier sind, sind von hier“ oder „Alle Elemente sind als eines zu zählen“, das sich gegen die Ethnisierung der Politik richtet, leiten dabei ihre Interventionen. Sie bestechen durch ihre Einfachheit, die gleichwohl eine Badiou-typische, Mathematik und Philosophie vereinende, ist.

Badiou und der Holocaust

Alain Badiou hat also durchaus Lehren aus der linken Vergangenheit gezogen. Aus einem anderen Grund vermag der Jahrhundert-Denker nicht recht zu überzeugen. Wenn er von der Obsession des Jahrhunderts schreibt, Endgültiges erreichen zu wollen, oder von der verbreiteten Ansicht, das Streben nach Übermenschlichem habe nur Unmenschliches hervorgebracht, ein trotziges „Aber man musste vom Unmenschlichen ausgehen“ entgegensetzt, dann kommt ihm nicht in den Sinn, der Leser könnte dabei auch an den Faschismus denken. Badiou denkt nämlich niemals an den Faschismus, was in einem Buch, das sich anschickt, eine Philosophie des 20. Jahrhunderts zu liefern, eine nicht eben kleine Unterlassungssünde darstellt.

Es beschleicht einen unwillkürlich der Verdacht, der Philosoph habe bei seiner Kärrner-Arbeit, den Weg zur Zukunft wieder freizuschaufeln, um diesen schweren Brocken absichtlich einen großen Bogen gemacht. Beim Weiterlesen bestätigt sich diese Vermutung. Im Nachwort wirft Badiou bestimmten Kollegen vor, „aus der Vernichtung der Juden durch die Nazis das einzige und heilige Ereignis des 20. Jahrhunderts zu machen“, weshalb er in seinem Buch daraus ein Nicht-Ereignis macht. In „Über Metapolitik“ spricht er „vom ewigen Schatten von Auschwitz“, und man spürt seine Ungeduld, ihn abschütteln zu wollen.

Das ist ein starkes Stück, das jedoch noch stärker wird. In seiner 2005 erschienenen Schrift „Circonstances 3, Portées du mot ‚Juif‘“ (Träger des Wortes „Jude“) empfiehlt er die Amnesie auch als Mittel, den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern zu beenden.

Wenn man das Problem des unendlichen Krieges im Nahen Osten lösen will, muss man - und ich weiß, dass das schwierig ist - den Holocaust vergessen.

Seiner Meinung nach hat der Holocaust aus dem Wort „Jude“ einen „heiligen Signifikanten“ gemacht und ihre Träger sakrosankt. Von diesem „Mehrwert für das Prädikat ‚Jude‘“, der aus den NS-Verbrechen resultiere, profitiert der Staat Israel Badiou zufolge, indem er einen Genozid an den Palästinensern verübt, sich als Kolonialmacht gebärdet und selbst antisemitisch wird. Allen Ernstes empfiehlt er den Juden, denen der Nationalsozialismus das Mensch-Sein abgesprochen hat, sich fortan nur noch als ganz normale Menschen zu fühlen und ihre schrecklichen Erfahrungen zu vergessen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass Badiou bei seinem Versuch, die Juden zum Universalismus zu bekehren, ausgerechnet den vom Judentum zum Christentum übergetretenen Paulus als Vorbild hinstellt. Hier stößt das gegen eine Identitätspolitik gerichtete „Alle Elemente sind als eines zu zählen“ eindeutig an Grenzen.

Entsprechend groß war die Empörung in Teilen der französischen Öffentlichkeit. „Alain Badiou und die Juden: eine untragbare Gewalt“ überschrieb „L‘Arche“ einen langen Artikel. Die bekannte Zeitschrift „Le Temps modernes“, dessen Herausgeber Claude Lanzmann Badiou in „Circonstances 3“ wegen seines Filmes „Shoah“ kritisiert hatte, sprach von einem „negationistischen Delirium“. Der Autor Eric Marty mag Alain Badiou seinen Respekt jedoch nicht ganz versagen und gibt seinem Groll mit einer Wendung Ausdruck, die André Gide ursprünglich für Théophile Gautier ersann: „Er nimmt einen bedeutenden Platz ein - leider wird er ihm nur schlecht gerecht“.

Der Mut der Verzweiflung

Einen bedeutenden Platz im gegenwärtigen Denken nimmt Alain Badiou aus vielerlei Gründen ein. Er hat nicht davor zurückgescheut, ein ganzes Jahrhundert zu denken. Zudem versucht er, der Menschenrechtsphilosophie, die den Status quo als geringstes Übel absegnet, und Theorien, die außer dem kommunikativen gar kein Handeln mehr kennen, etwas entgegenzusetzen. Darüber hinaus arbeitet der Franzose an einer Fortschreibung eines linken Projektes, das mit den Denk-Traditionen frei umgeht und sich der eruptiven Gewalt von politischen Bewegungen bewusst ist, wenn es auch nicht immer alle nötigen Konsequenzen daraus zieht.

Schlecht füllt er diesen Platz aus, weil er mit seinem philosophischen Voluntarismus noch viel zu sehr Kind des 20. Jahrhunderts ist, um etwas vom Emanzipationsbestreben in die jetzige Zeit herüberzuretten. Badiou hat den Mut der Verzweiflung, und er muss sich für sein Unterfangen sogar poetologische Unterstützung bei trotz aller Enttäuschungen abenteuerlustig bleibenden Texten von André Breton und Saint-John Perse holen. Dass er es nicht zusätzlich auch noch mit dem Holocaust belasten will, lässt allerdings an der intellektuellen Redlichkeit Badious zweifeln. Ohne Frage stellt die Judenvernichtung eine große Herausforderung für ein Denken dar, das sich weiterhin dem Fortschritt verpflichtet fühlt, aber sie ist zu meistern, ohne den Glauben an die (linke) Geschichte zu verlieren.