Open Source im Regenwald

Digitale Alphabetisierung in Venezuela

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Richtig eng für die venezolanische Regierung unter Präsident Hugo Chávez wurde es bislang nur einmal. 2002 versuchten Putschisten - angeführt von konservativer Unternehmerschaft - versuchten, das Land unter ihre Kontrolle zu bekommen (Das Ende der Ära Chávez). Zwar vereitelten die zu "ihrem Präsidenten" haltende Bevölkerung sowie das dem Putschaufruf nicht folgende Militär den Umsturzversuch in jenen Apriltagen (Chávez wieder an der Macht), dennoch gaben die alten Eliten des Landes keine Ruhe. Zum Ende des Jahres machten sie erneut einen Anlauf zum Umsturz, einer ihrer stärksten Hebel war, den nationalen Geldhahn zuzudrehen. Die Chávez-Gegner brachten durch Aussperrungen und Sabotageakte die Ölförderung des Landes zum Erliegen. Ihr Kalkül: Wenn die Öl- und damit Geldquellen des Landes versiegen, kommt die Wirtschaft zum Erliegen und dann wird niemand Chávez eine Träne hinterherweinen.

Wandbild für Misión Sucre, mit der der Eintritt in Universitäten erleichtert werden soll.

Besonders wirkungsvoll war es, dass die am Umsturzversuch beteiligte Führungsriege des Erdölkonzerns PDVSA die elektronischen Bohrlochsteuerungen herunterfahren ließ. Nachdem auch dieser Umsturzversuch erfolglos beendet war, ließ sich die Ölförderung nicht wieder in gewohnter Weise starten. Software und teilweise auch Hardware der unter US-Mitwirkung arbeitenden PDVSA-Tochter- und Informatikfirma Intesa waren zerstört worden. 3800 Bohrlöcher waren nicht mehr steuerbar und gingen unwiederbringlich verloren. Hierdurch sowie durch weitere Sabotageakte wie die Zerstörung der Software im Rechnungswesen entstand bei PDVSA ein Schaden von fünf bis sieben Milliarden Dollar.

"Derart machtlos vor den Ölquellen und in den Büros zu stehen war eine traumatische Erfahrung", sagt Eduardo Samán, Direktor im venezolanischen Industrie- und Handelsministerium. Er ist heute für die Umsetzung der in der Folgezeit getroffenen informationstechnologischen Weichenstellungen zuständig. Er berichtet, dass es genau diese Erfahrungen waren, die der Regierung vor Augen führten, wie abhängig sie in Schlüsselbereichen von funktionierender IT-Infrastruktur ist. Im Decreto 3390 wurde deshalb die Migración a Software Libre beschlossen: Open-Source-Software soll zukünftig die aus den USA gekauften Lösungen ersetzen, Ingenieure aus dem eigenen Land sollen die erforderlichen Applikationen entwickeln, auch die Firmware der eingesetzten Hardware kommt auf den Prüfstand.

Ein ehrgeiziges Projekt, das derzeit umgesetzt wird. Dass in Samáns Abteilungen bereits heute der Linux-Pinguin vom Desktop lächelt, ist selbstverständlich nur der Anfang: Für die gesamte staatliche Verwaltung gibt es mittlerweile einen verbindlichen Migrationsplan, Nutzung aber auch Weiterentwicklung von Linux und Open Office sind ein Baustein im Projekt "endogene Entwicklung". Gemeint ist damit ein gesellschaftlicher Wandel, der von der Lebensmittelproduktion bis hin zum IT-Bereich eigenständige Entwicklungen statt Abhängigkeit von Importen anstrebt. Im Verbund mit anderen südamerikanischen Staaten wird ein reger wirtschaftlicher und technologischer Austausch aufgebaut als Alternative zur bisherigen Ausrichtung "High-Tech gegen Rohöl".

Eines der vielen Infocentros, mit denen die Menschen computerkundig gemacht werden sollen

Um aber im südamerikanischen Wirtschaftsverbund ALBA seine angestrebte Rolle spielen zu können, fehlt es Venezuela derzeit noch an Fachkräften. Da passt es, dass die Regierung unter Chávez eine ganze Reihe von Initiativen zur Förderung breiter Bevölkerungskreise gestartet hat: In den zurückliegenden Jahren lernten zunächst 1,5 Millionen Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Alphabetisierungskampagne "Misión Robinsón" lesen und schreiben, die UNESCO hat Venezuela mittlerweile zum "Analphabetismusfreien Territorium" erklärt. Im Rahmen der „Misión Sucre“ stehen staatliche Universitäten nun für alle offen, ohne die ehemals für Viele unerschwinglichen Studiengebühren. Und angehende IT-Fachleute besuchen seit einem Jahr die „Misión Sciencia“. Ziel dieser Kampagnen ist es, in weitem Rahmen die Kompetenz der Bevölkerung zu steigern, Engagement zu fördern, Initiative zu entwickeln. Im ganzen Land entstehen deshalb derzeit mittlerweile rund 7000 über die „Misión Vuelvan Caras“ geförderte Kooperativen: kleine Busunternehmen, Schuh-Manufakturen, Computer-Läden.

Gewiss: Vieles steckt noch in den Kinderschuhen, manch abenteuerliches Konzept erweist sich schon nach einem Jahr als wirtschaftlich nicht tragbar und der günstige Mikrokredit ist in den Sand gesetzt. Auch erfüllen viele Kooperativen nicht das, was als Minimalanforderung gilt. Und Kompetenz im IT-Bereich lässt sich nicht in ein paar Monaten "produzieren". Aber die Ziele sind grundlegend und ehrgeizig, mehr als ein Anfang ist gemacht.

Ein solcher Anfang ist der Aufbau von Software-Akademien für Schulung und Training, die wiederum eng verzahnt sind mit Entwicklungseinrichtungen wie Cenditel in der Uni-Stadt Merida, das im November letzten Jahres die Arbeit aufnahm. Dass Präsident Chávez zur Eröffnung persönlich anreiste, unterstreicht die Wichtigkeit, die die Regierung dem Thema beimisst. "Wissen ist so universell wie das Sonnenlicht, es kann nicht privatisiert werden"m rief Chávez den versammelten Open Source-Entwicklern zu.

Medienpädagoge Anibal Reinoso

Einen anderen, persönlichen Anfang im Umgang mit Computern machen derzeit Viele in einem der rund 1000 Infocentros im Lande. Verborgen in unscheinbaren Gebäuden auch in den Armenvierteln der Großstädte sowie selbst in winzigen Regenwald-Dörfern finden sich klimatisierte Räume mit modernen Computern, mit Internetzugang, Peripheriegeräten und kompetenter Anleitung. Einer dieser anleitenden Medienpädagogen ist Anibal Reinoso. Auch er hätte vor einigen Jahren noch nicht gedacht, dass er einst an dieser Stelle der Gesellschaft seinen Platz finden würde.

In seinem Stadtteil, in Catia im westlichen Caracas, leben diejenigen gesellschaftlichen Schichten, denen vor einigen Jahren noch jeglicher Zugang zu Bildung verwehrt blieb. Heute sitzen sie im Computerraum und lernen in einem mehrtägigen Kurs die Linux-Distribution Kubuntu kennen, recherchieren im Internet und gestehen: Der Anfang dieser - wie es offiziell heißt - "technologischen Alphabetisierung" war nicht leicht, die Welt der Computer sehr ungewohnt. Warum er hier arbeitet? Reinoso sieht sich als "Sozialarbeiter im Dienste des Volkes", sagt er spontan. Und: Er arbeitet gern mit Linux. Wegen der Zuverlässigkeit, meint er. Und: "Weil ich selbst Hand anlegen kann wenn mir etwas nicht passt."

Bei den Kursteilnehmer/-innen steigt mit zunehmender Routine die Neugier und so manche werden wohl als potenzielle Kundinnen und Kunden den Kurs verlassen: Im März diesen Jahres nämlich sollen in Venezuela die ersten "Volkswagen-Computer" ausgeliefert werden, in einem chinesisch-venezolanischen Joint-Venture hergestellte Computer zu ungewöhnlich niedrigen Preisen, produziert bei Venezolana de Industria Tecnológica (VIT) in Paraguaná, unweit der größten Erdölraffinerie der Welt. Zunächst gehen die Rechner allerdings an die öffentlichen Infocentros und an kostenlose Internet-Cafes in Bibliotheken.

Auch dies ein Baustein im Regierungsprojekt "endogene Entwicklung". Aber auch einer auf dem Weg hin zur angestrebten "digitalen Alphabetisierung" der Bevölkerung. Auf den Rechnern wird eine Art "Kubuntu-Metadistribution" installiert sein, mit spezieller Open Source-Software je nach Anwendungsbereich, für Firmen mit einer Alternative zu SAP oder auch mit speziell entwickelten Applikationen für die Landwirtschaft. José Aguilar, Leiter von Cenditel in Merida betont, wie wichtig es neben der Software-Entwicklung selbst ist, gerade auch in ländlichen Gebieten bei mittelständischen Unternehmen präsent zu sein.

Draußen auf dem Parkplatz bewundern wir den "mobilen Schulungsraum", ein moderner Bus mit Linux-Computern, der in den 23 Landkreisen der Umgebung eingesetzt wird. Bleibt abzuwarten, ob die Zielvorgaben nicht zu ambitioniert sind, ob Venezuela mit den eigenen, schnell aus dem Boden gestampften Computern und Entwicklungen nicht hinterherhinkt in einer derart weit entwickelten und spezialisierten Technologie.

Derzeit wird auf den Computern des venezolanischen Bildungsministeriums Linux aufgespielt, gleichzeitig beginnt die Migration in den venezolanischen Schulen. Das dürfte den Gründer der Free Software Foundation Richard Stallman freuen, der dies bereits im Sommer 2005 beim Besuch des ersten venezolanischen Open-Source-Kongresses gefordert hatte.

Eduardo Samán

Fragt sich nur, warum sich trotz dieses intensiven Open-Source-Engagements beim Gang durch Venezuelas Städte ein ganz anderes Bild ergibt: Zwischen frischem Maracujasaft und Modeschmuck wird an Straßenständen alle nur erdenkliche Software zum Schnäppchenpreis angeboten, aktuelle Windows-Versionen zum Preis einer Pizza. Warum also Linux? Bei dieser Frage läuft Eduardo Samán zur Hochform auf und man spürt sofort, dass hier kein "politisches Leichtgewicht" die Open Source-Sache in Venezuela vorantreibt: Er geißelt die Ideologie, die er in proprietärer Software sieht (Geistiges Eigentum ist ein neokoloniales Herrschaftsinstrument), hält die Freiheiten der Free Software Foundation hoch, spricht sich vehement gegen Softwarepatente aus. Es wird zukünftig offiziell angebotene Linux-Installations-Parties geben, Linux soll es - wie heute Windows - ebenfalls quasi gratis an jeder Straßenecke geben. Das sei Venezuelas Strategie im Umgang mit nicht-autorisierten Kopien anderer Betriebssysteme.

Doch Samán ist kein Sozialdemokrat, er geht aufs Ganze: Freie Software ist für ihn keineswegs automatisch der Inbegriff für eine bessere Welt, SuSE und Novell (zwinkert er uns zu) sind doch ganz normale kapitalistische Firmen, die nur Microsofts Monopol brechen wollen. Was ihre Entwicklung angeht, müsse "Freie Software auch frei von Ausbeutung sein". Er spricht von „sozialistischer Software“ und schlägt vor, diesen Gedanken als eine weitere einzufordernde Freiheit zu betrachten. Man darf wohl weiterhin gespannt auf Venezuela blicken - und beobachten, wie die Produktionsbedingungen für Open Source-Software dort demnächst aussehen.