Giftiges Mem

Virale Clips und böses Blut zwischen Schiiten und Sunniten

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Wenn es um die öffentliche Meinung in der arabischen Welt geht, wird als Oberbegriff meist die Metapher von der „arabischen Straße“ gebraucht. Dass unter dieser traditionellen Großkategorie allerhand neue Entwicklungen verborgen sind, darauf macht seit längerer Zeit der amerikanische Politikprofessor und Spezialist für den Nahen Osten, Marc Lynch (vgl. USA vs. Demokratie "Arab Style"), in zahlreichen Veröffentlichungen aufmerksam.

Anders als viele seiner auschließlich für die Fachwelt arbeitenden Kollegen spart Lynch (Leitthema: Wandel der öffentlichen Sphären in der arabischen Welt durch neue Medien) seine Ideen nicht für ein spezielles Publikum auf. Fast täglich schickt er via Blog Arbeitshypothesen über al-Qaida-Strategien, die sich im letzten Viodeo zeigen, über blinde Flecken der amerikanischen Public Diplomacy im „Middle East“ oder eben über neue Trends in arabisch-sprachigen Öffentlichkeiten in den virtuellen Publikumsraum. Seine neueste Arbeitshypothese betrifft ein Phänomen, das in anderen Zusammenhängen schon seit längerem diskutiert wird, virale Clips:

Was ich am faszinierendsten an ihnen finde, ist, dass sie unter dem Radar der Massenmedien kursieren und, wie ich glaube, von wachsender Bedeutung für die Formierung von öffentlichen Einstellungen sind. Wenn sie in Foren gepostet werden oder via SMS verbreitet werden, kommen sie von Kommunikationspartnern, denen relativ vertraut wird, was ihnen vielleicht mehr Glaubwürdigkeit verleiht als dem, was von Massenmedien versendet wird.

“Araji clip as produced by Ansar al-Sunnah only a few minutes long...speech with clips of heroic 'mujahedin' executing blindfolded Shia in revenge for Saddam's execution. Lovely.“ Marc Lynch

Lynch ist nicht der einzige unter den amerikanischen Middle-East-Spezialisten, die aktuell ihre Aufmerksamkeit auf den Shiite-Sunni "split" richten. Während aber anderswo die gegenwärtig neu belebte Polarisierung zwischen den beiden großen muslimischen Gruppierungen auf historische Hintergründe hin abgeklopft und bewertet wird, interessiert sich Lynch für die Rolle der kleinen Filmchen bei der Verbreitung eines Mems, das für böses Blut sorgt, das "Shia conversion meme".

Im Kern dieses Mems stehen Geschichten, wonach eine große Anzahl von Sunniten zum Schiitentum konvertieren und dass natürlich der große Dunkelmeister der Region, Iran, dahinter steckt. „Die Perser“ würden allenthalben sunnitische Araber zur Konversion anstacheln – Teil eines größeren „Plots“, um den Einfluss Irans zu erweitern. Zwar existiere, so Lynch, eigentlich kein Beweis dafür, dass dies tatsächlich irgendwo tatsächlich passiere, aber dafür könne man in Dschihadi-Foren Filme finden, die mit Bildern untermalen, was Worte als Gerücht in die Welt setzen.

Ob es sich nun um eine Brandrede von Hazim al-'Aradschi, einem Sadristen, der Schiiten zum Töten und Foltern von Sunniten aufruft - ein Videoclip, der via SMS, Email und Foren verbreitet wird – oder um eine Versammlung von (mutmaßlichen) Schiiten handelt, die den irakischen Ayatollah Sistani als wahren Muslim preisen und den saudischen König denunzieren, das Charakteristikum dieser Video Clips bestehe darin, dass sie den geneigten Betrachtern immer den „worst possible spin“ erlaubten.

Feststehe, dass das Mem giftig sei und ernst genommen werde. Als Beleg dafür verweist Lynch auf den Auszug einer kürzlich gehaltenen Rede des Hisbollah-Führers Nasrallah, wo dieser deutlich auf die Gerüchte eingeht:

For example, it is said that Iran or the Shi'i Islamic movements throughout the Arab and Islamic world have a plan to turn Sunnis into Shi'is. It is also said that there are plans, studies centres, programmes, and huge sums of money geared towards this end. When you say this to any Sunni leader, Sunni scholar, Sunni movement, or young Sunni man, they will mobilize themselves against it. This is their natural right. This issue is now presented strongly and some news media are working on it. Some Arab leaders and senior men of religion spoke about this issue. Depicting this as a basic and major issue on which others are working will lead the nation to sedition whose end will not be known.

Some key figures in Lebanon - and they know themselves - said in private meetings that 7 million Sunnis in Syria converted to Shiism. What sort of talk is this? Yes, and they build on this assumption, which leads to other consequences. They say a battle should be waged against converting people to Shiism, but none has plans to spread Shiism..

Nicht klar ist, woher dieses "Shia conversion“-Mem stammt, wer es in Umlauf setzt, ob die Kanäle von oben nach unten (also von Regierungstellen und ihren Proxies) gefüttert werden oder ob es von unten aus dem Nährboden länger bestehender, verwurzelter Animositäten zwischen Sunniten und Schiiten erwachsen. Darauf weiß auch Lynch keine Antwort.