Ein Schritt vorwärts, zwei zurück

Welchen Zweck erfüllen Horrorfilm-Prequels wie "Hannibal Rising" oder "The Texas Chainsaw Massacre - The Beginning"?

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Neben dem Remake und der Fortsetzung (dem Sequel) scheint das Prequel - die Geschichte vor der Geschichte - ein zentrales Wiederaufnahmeverfahren des modernen Horrorfilms zu sein. Dass mit dem Erzählen der Vorgeschichten vor allem marktstrategische Interessen verbunden sind, ist dabei nur eine Seite der Medaille.

The Texas Chainsaw Massacre

Nicht zu Unrecht zählen Tobe Hoopers "The Texas Chainsaw Massacre" (USA 1974) und Jonathan Demmes "Das Schweigen der Lämmer" (USA 1990) zu den zentralen Werken in der Geschichte des Horrorfilms. Mit beiden verbindet sich ein Paradigmenwechsel: Hoopers Film macht den maskierten Serienmörder zu einem zynischen Anti-Helden und legt damit den Grundstein für den bis heute erfolgreichen Slasherfilm. Demmes Adaption des zweiten Thomas-Harris-Romans "Das Schweigen der Lämmer" wird als Initiation des postmodernistischen Horrorfilms gefeiert und rehabilitierte das Genre auf einen Schlag aus seinem Schattendasein zurück in den Mainstream. Dass derartige Erfolgserzählungen nicht lange auf Imitationen, Nachfolgewerke und andere Seitenprodukte der Filmindustrie warten mussten, erscheint selbstverständlich. Immerhin sind die Erzählungen beider Filme selbst "offen" genug, zahlreiche Anknüpfungspunkte zu bieten.

Dabei ist das Prequel als eine Form der Wiederaufnahme des Erzählfadens ebenso wie das Sequel keine Erfindung des 20. Jahrhunderts - ja nicht einmal der Filmindustrie. Wenn man möchte, ließen sich bereits Shakespeares Historiendramen "Heinrich der IV" (1995-97) und "Heinrich der V" (1600) als Prequels zu seinem Mehrteiler "Heinrich der VII" (1590-92) lesen. Die Literaturgeschichte der Neuzeit wimmelt von derartigen Beispielen, zu deren populärsten heute vielleicht J. R. R. Tolkiens 1977, also etwa sieben Jahre nach dem "Herr der Ringe" erschienenes "Silmarillion" gehört. Es scheinen vor allem fantastische Werke zu sein, die sich besonders gut in der "falschen Reihenfolge" erzählen lassen: Die zwischen 1999 und 2005 erschienenen "Star Wars"-Episoden I bis III erbrachten den Verleihern zusammen mehr Einnahmen, als die ihnen 25 Jahre vorausgegangenen Teile IV bis VI. Die Mythologien des Horrorfilm-Universums sind von diesen Fiktionen dabei nur inhaltlich unterscheidbar. Beide basieren auf demselben Prinzip - eben der grundsätzlichen Offenheit in beide fiktionshistorischen Richtungen; bei den Prequels bis hin zum Gründungsmythos.

Die Ursprünge des Hewitt-Clans

"Texas Chainsaw Massacre - The Beginning" greift weniger vor Hoopers Original, als vor dessen Remake von Marcus Nispel (USA 2003) zurück, was bereits aus der Figuren- und Darstellerliste herauszulesen ist. Seine Geschichte beginnt im Jahr 1939: In einem Großschlachthaus bekommt eine der Angestellten ein Baby - offenbar ahnungslos, dass sie überhaupt schwanger war. Der missgestaltete Säugling wird zusammen mit den Schlachtabfällen im Müll deponiert, wo ihn Luda May Hewitt findet, mit nach Hause nimmt und großzieht. Dreißig Jahre später ist aus dem Findling Thomas ebenfalls ein Metzger geworden, der nicht realisieren will, dass der Betrieb, in dem er Fleisch hackt, geschlossen werden soll. Als ihn der Chef hinauswerfen will, erschlägt er diesen kurzerhand. Sein Stiefvater Charly Hewitt erschießt kurz darauf den Polizisten Hoyt, der Thomas festnehmen will. Da aufgrund der Wirtschaftslage niemand außer der Familie Hewitt mehr in dem Ort lebt, treten die Hewitts dort die Herrschaft an: Charly übernimmt die Uniform und Identität des Polizisten und sorgt für immer neue Schlachtopfer.

Texas Chainsaw Massacre - The Beginning

Zu denen sollen auch vier Jugendliche zählen, die auf der Durchreise zu einem Armeestützpunkt sind. Dort müssen sich Dean und sein älterer Bruder Eric zum Vietnamkriegseinsatz melden. Während Eric, der bereits einmal an der vietnamesischen Front war, dem neuen Abenteuer voller Enthusiasmus entgegen sieht, schmiedet Dean Fluchtpläne: Zusammen mit seiner mitreisenden Freundin Baily will er sich der Einberufung entziehen und nach Mexiko flüchten. Erics Freundin Chrissie, die ebenfalls mit von der Partie ist, unterstützt die beiden. In der Nähe des Hewitt-Territoriums begegnen die vier einer Motorrad-Gang. Eine der Bikerinnen nimmt die Verfolgung auf und stellt die Jugendlichen. Kurz bevor sie sie ausrauben kann, stößt Charly Hewitt dazu, erschießt die Frau und verschleppt drei der vier Jugendlichen auf sein Anwesen. Allein Chrissie, die unbemerkt geblieben ist, schlägt sich mit einem der Motorrad-Gangster bis zum Haus der Hewitts durch, um ihre Freunde zu befreien. Die sind indes den martialischen Folterungen der Familie ausgesetzt gewesen.

Die Theorie frisst ihren Gegenstand

Auffällig ist, dass "Texas Chainsaw Massacre - The Beginning" sein zentrales Versprechen, zu erzählen, wie alles begann und warum Leatherface zum kettensägenschwingenden Psychopathen wurde, nur im Ansatz erfüllt. Die Geburt des späteren Serienmörders und dessen Aufnahme bei den Hewitts wird lediglich im Prolog des Films gezeigt. Eine Ätiologie des Täters findet nur in einem Nebensatz statt. Als Mutter Tea May ihren Sohn zum Mord an einem der Entführten anstiftet, tut sie das mit den Worten: "Das ist einer von denen, die dich in der Schule immer gehänselt haben." Mehr über den Werdegang Leatherfaces erfährt man nicht. Dafür aber über die Verhältnisse, unter denen er seine Mörder-Karriere beginnt: Es herrscht eine Wirtschaftskrise in Texas. Geschuldet durch die Industrialisierung der Landwirtschaft und die Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte erodieren ganze Landstriche. Der Krieg in Vietnam leistet ein Übriges zur Demoralisierung der jungen Leute. Charly Hewitt "riecht" den Deserteur unter den Jugendlichen förmlich und sinnt - als ehemaliger Korea-Krieger - auf Selbstjustiz. Diese verübt er zwar nicht selbst, setzt aber seinen missratenen Ziehsohn als "Rächer des Systems" ein.

Hannibal Rising

Allein in dieser letzten Facette ähnelt Liebesmans Film dem Prequel "Hannibal Rising" sehr, wie sich später zeigen wird. Der Serienmörder wird politisch instrumentalisiert und damit zu einer Metapher: Das Monster der Moderne ist im doppelten Wortsinn von genetivus subjectivus und objectivus zu verstehen: Eines, das die Moderne hervorgebracht hat und das ihre eigene Monströsität damit versinnbildlicht. Erstaunlich an "Texas Chainsaw Massacre - The Beginning" ist nun, dass der Film äußerst selbstbewusst mit dieser Annahme umgeht. Es waren ja neben den gendertheoretischen die ideologiekritischen Analysen, die die Debatte um Hoopers Film seit den 1970er Jahren bestimmt haben. Die Ergebnisse dieses Diskurses nimmt Liebesman in seinen Film auf und scheint ihre Richtigkeit damit zu bestätigen: Ja, Leatherface ist das Ergebnis einer verfehlten US-Innen- und Außenpolitik der Präsidenten Johnson und Nixon und gleichsam das Produkt der Entartung des amerikanischen Traums, wie er mit dem Erscheinen der Hippie-Bewegung von zeitgenössischen konservativen Kreisen beschworen wurde. Liebesmans Film ist damit sowohl in seinem Plot als auch in seiner Figurenkonstellation und vor allem in seinem Horror eher eine historische Interpretation als ein Spielfilm.

Wie alles begann

Auch die Erzählung von Hannibal Lecters Leben setzt in den Wirren des Zweiten Weltkriegs ein, jedoch auf der anderen Seite des Planeten: Die in Litauen lebende Aristokraten-Familie Lecter wird durch das Vorrücken von deutschen und sowjetischen Einheiten aus ihrem Anwesen vertrieben und sucht Zuflucht in ihrem Jagdhaus. Doch dort währt die Ruhe nur kurz. Ein Luftangriff tötet die Erwachsenen und lässt den zehnjährigen Hannibal mit seiner kleinen Schwester Mischa allein zurück. Die Kinder verbarrikadieren sich im Haus, das bald von einer marodierenden litauischen Söldner-Truppe aufgesucht wird. Die Männer werden als Plünderer gesucht und verschanzen sich im Jagdhaus. Als die Nahrung ausgegangen ist, entschließt der Anführer, Mischa zu töten und zu verspeisen. Kurz darauf wird die Hütte von einer Fliegerbombe getroffen. Die meisten Plünderer und auch Hannibal fliehen. Der Junge wird von Soldaten aufgegriffen und in ein Waisenheim gebracht, das in der ehemaligen Residenz seiner Eltern eingerichtet wurde.

Das Schweigen der Lämmer

Dort lebt Hannibal, bis aus ihm ein junger Mann geworden ist. Seit dem Tod Mischas spricht er kein Wort. Wegen seiner Herkunft und seiner Verschwiegenheit ist er fortwährenden Demütigungen ausgesetzt. Schließlich flieht Hannibal aus dem Heim und reist quer durch Europa zu seinem Onkel nach Paris, dessen Adresse er einem alten Brief seiner Mutter entnommen hat. Der Onkel ist jedoch auch gestorben und hat eine japanischstämmige Witwe hinterlassen. Sie nimmt sich Hannibals an, bildet ihn aus und wird seine Begleiterin und spätere Geliebte. Hannibal, der als jüngster Student ins Medizinstudium zugelassen wird, beginnt auf Rache zu sinnen: Die Männer, die seine Schwester ermordet haben, sollen sterben. Den ersten spürt er in Litauen auf, foltert ihn, um an den Aufenthaltsort der anderen zu gelangen, tötet ihn und verspeist ihn teilweise. Die meisten der übrigen Ex-Söldner leben in Paris, wo Hannibal sie findet und ebenfalls tötet. Die Polizei, besonders Inspektor Popil ist dem Treiben Hannibals gegenüber machtlos, weil er sich immer wieder aus der Affäre ziehen kann. Schließlich täuscht Hannibal seinen Tod vor und flieht nach Kanada, wo sich der letzte von Mischas Mördern aufhält.

Das Monster von Nürnberg

Bereits in der zweiten Harris-Adaption "Das Schweigen der Lämmer" (der Roman "Roter Drache" wurde 1986 unter dem Titel "Manhunter" adaptiert - Lecters Rolle blieb hier jedoch marginal) wird aus dem inhaftierten Serienmörder Hannibal Lecter ein nicht nur negativ besetzter Filmcharakter. Vielmehr inszeniert Demme ihn als Vaterfigur und Helfer der ermittelnden FBI-Schülerin Clarice Starling. Mit seiner Hilfe fängt Starling nicht nur den Serienmörder "Buffalo Bill", sondern überwindet auch ein Kindheitstrauma. Dass sich beide Figuren (2001 in Ridley Scotts Film "Hannibal") wieder begegnen, scheint fast selbstverständlich. Der dritte Hanibal-Film kreist ausschließlich um die Figur des Kannibalen, inszeniert ihn als überlegenen, in seinem eigenen moralischen Kosmos agierenden Helden, den weder die Polizei, noch ein ebenso wahnsinniger Widersacher, noch Clarice Starling aufzuhalten vermögen. In "Roter Drache" (USA 2002, Brett Ratner) wird schließlich nicht nur die mangelhafte Zeichnung und die Namensschreibweise Lecter von 1986 durch ein Remake korrigiert; "Roter Drache" verhält sich zu "Das Schweigen der Lämmer" und "Hannibal" ebenfalls als Prequel und füllt Leerstellen in deren Narration.

Hannibal Rising

Der etwa zeitgleich in die Produktion gegangene Roman und Film "Hannibal Rising" schließt die "Erinnerungslücke" der Trilogie nun vollends - wenn auch hier die "frühen Jahre" wie bei " Texas Chainsaw Massacre - The Beginning" ausgespart bleiben. Hannibal wird im Gegensatz zu Leatherface jedoch gar nicht mehr als Bedrohung oder gar Bösewicht erfahrbar. Vielmehr baut der Film eine Rache-Bilanz auf, die sein Tun rechtfertigt und zementiert diese noch damit, dass Hannibal dort eingreift, wo die Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg versagten: Wenigstens eines seiner Opfer konnte der Verurteilung dort durch einen Mord entkommen - Hannibal jedoch entkommt er nicht. In einem kurzen Dialog mit dem ihn verfolgenden Inspektor Popil wird klar, dass eigentlich beide auf derselben Seite agieren: Auch Popil ist Opfer des Krieges und verfolgt nun untergetauchte Kriegsverbrecher. Dass er Hannibal nicht dingfest machen kann, erscheint vor diesem Licht mehr als nur zufällig.

Die Banalität hinter dem Bösen

Die Instrumentalisierung des Serienmörders in den Kontext von Kriegsverbrechen und Nazismus ist dabei keineswegs neu, sondern seit den 1940er Jahren Bestandteil von Filmen wie "Monsieur Verdoux" (USA 1947, Charles Chaplin), "Arsenic and Old Lace" (USA 1944, Frank Capra) oder Robert Siodmaks "Nachts, wenn der Teufel kam" (D 1953). Neu ist jedoch, dass der Serienmörder hier seiner ursprünglichen "Funktion", nämlich "Monster der Moderne" zu sein, vollständig entledigt wird. Hannibal Lecter büßt damit all jenes Potenzial ein, das die Romane und Filme ihm zuvor noch angedichtet haben. Der "Mythos", der erst dadurch entsteht, dass man eben nicht weiß, "was zuvor geschah", wird einer fatalen Zwangsläufigkeit geopfert und mündet in eben jenen Zynismus, bei dem eine pathologische Tötungsart wie der Serienmord zur reinen Funktion stilisiert wird.

Texas Chainsaw Massacre - The Beginning

Ihren Grund und ihre Begehrtheit haben diese Erklärungswut und die in ihrem Gefolge entstehenden Prequels in der Rationalisierungssuche des Rezipienten. Die Serienmörderfilme sind ja bereits an sich schon ein Produkt der kulturellen Verstehenserzeugung: Der Vernunft-Skandal, den ein Verbrechen wie der Serienmord mit sich bringt, wird durch seine Einbettung in Erzählungen und durch die Konstruktionen von Wenn-dann-Beziehungen geglättet. Was bislang innerhalb einer Narration geschah, geht durch die Prequels nun über diese hinaus. Dies zeigt, dass sich der Filmtäter mehr und mehr von seiner realen Vorlage gelöst hat und nun seine eigenen Begründungszusammenhänge einfordert. Die Geschichten-Industrie hat sich auf diese Weise nicht nur einen besonders günstigen Fundus an Motiven und Erzählungen geschaffen (indem sie immer nur wieder auf ihre eigenen Produkte zu referieren braucht), ihr gelingt es auch, das einstmalige Sorgenkind (und Finanzrisiko) Horrorfilm nach und nach goutierbarer zu machen, indem immer mehr vom Monströsen abgelenkt und zum Heldenhaften hingesteuert wird.

Der Splatter von "The Texas Chainsaw Massacre" widersetzt sich dieser Konformisierungswelle bislang noch, wie sich am wohl eindeutigsten Indikator für Subversion - der Filmzensur - ablesen lässt. Die deutsche Fassung ist selbst zu einem veritablen Metzelopfer geworden: Der Verleih hat sie mehrfach bei der FSK eingereicht, jedoch das begehrte Emblem ("keine Jugendfreigabe") nicht bekommen und den Film übel zusammengeschnitten. Dies ist keinesfalls ein nationales Phänomen. Schon für die "R Rated"-Fassung in den USA hatte Liebesmans Film einige Szenen lassen müssen. Dass ein solches Schicksal den Lecter-Filmen bislang erspart geblieben ist, muss in dieser Hinsicht wohl eher als schlechtes Zeichen gewertet werden: An einem Film wie "Hannibal Rising" ist nichts zu kürzen. Er ist in allen Facetten so glatt und angepasst an den Massengeschmack, dass er dem erwachsenen Publikum (auch wenn seine Prüfung mit "ab 16" beantragt wurde) als ungekürztes Lehrstück wird dienen können.