Gesellschaft auf Schlafentzug

Arbeiten wir mehr, als uns gut tut?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Gestern erst gehört von einem Komponisten (E-Musik): Schlafentzug hat doch auch sein Gutes, man hat keine Kraft mehr übrig für Überflüssiges und profitiert dazu von den Eingebungen, die einem der Sekunden- und Halbschlaf zuflüstert. Eine Art von Exzess, der klarsichtig machen kann. Von einem nüchternen Mann, der mit bohèmehaften Inspirationsideen gar nichts am Hut hat und eine mittelgroße Medienfirma leitet, höre ich, dass er seit seinem Studium mit fünf Stunden Schlaf auskommt: Mehr macht träge, sagt er. In seiner Position kenne er keinen, der länger schlafe. Beim Illustrator in der Nachbarwohnung geht das Licht nie aus. Er könne es sich nicht leisten, Aufträge abzuschlagen. Nachts habe er die nötige Ungestörtheit und Konzentration, sechs Stunden Schlaf über Nacht und Tag verteilt, müssen reichen, sagt er. Das gleiche Lied singt ein freier Journalist: Der Zeitdruck habe sich enorm verstärkt. Das Einzige, wo er noch „Zeit rausschlagen“ könne, sei das Schlafpensum, jetzt nur mehr sechs Stunden pro Nacht, höchstens.

Arbeiten diejenigen, die Arbeit haben, jetzt mehr als ihnen gut tut? Es hat den Anschein, wenn das Thema Schlaf angesprochen wird. Der Kreis jener, die hier mit immer kürzeren Schlafzeiten sportlich auftrumpfen oder sich nach besseren Zeiten zurücksehnen, ist jedenfalls nach meiner Einschätzung größer geworden. Dass die Krankmeldungen in Deutschland deutlich zurückgegangen sind, wie das Bundesgesundheitsministerium im Januar und der DAK-Gesundheitsreport 2007 in der vergangenen Woche meldeten, könnte in diesem Sinne gelesen werden: Der Job ist wichtiger geworden und die Einstellung gegenüber „körperlichen Schwächen“ härter – und als solche wird der Schlaf unter Männern mit hoch im Kurs stehenden Macher – bzw. Feldherrenqualitäten (als großes Vorbild aller Kurzschläfer gilt ja Napoleon) gerne mal abgetan.

Und wenn selbst das Manager-Magazin eine Umfrage mit dem Titel: "Arbeiten bis zum Umfallen?" startet, weiß man, das Phänomen der Selbstausbeutung ist längst nicht mehr nur irgendwelchen Subkulturen und neuen Proletariaten vorbehalten, es zieht neuerdings größere Kreise. Zufall, dass vor wenigen Wochen in der Wirtschaftswoche ein interessantes Interview mit dem „Schlafmediziner“ Charles Czeisler zu lesen war?

Czeisler räumt darin auf mit verbreiteten Klischees, die zwangsläufig zu Zumutungen führen. Seinem Anschein nach werde Schlafmangel in der Arbeitswelt nicht ernst genommen, dabei würden wir in „einer Gesellschaft auf Schlafentzug“ leben:

Die Wirtschaft fordert von ihren Angestellten hohe Leistungsbereitschaft. Ich kenne Manager, die die Kerze von beiden Seiten anzünden: Morgens um sieben Uhr beginnen sie den Bürotag mit einem Arbeitsfrühstück. Abends sind sie noch zum Geschäftsessen eingeladen. Die bekommen im Schnitt vielleicht vier Stunden Nachtruhe. Wenn sie das zehn Tage lang machen und nur ein Bier trinken, wirkt das wie ein Sixpack im Ruhezustand!

Für den Wissenschaftler bergen Schlafdefizite keine kreativen Reservoirs, im Gegenteil er hält das für einen „Leistungskiller“: Wer fünf Tage lang nur vier Stunden schlafe, erreiche ein geistiges Niveau, als wäre er 24 Stunden lang wach. Studien-Probanten mit Schlafmangel würden „mehrere IQ-Punkte verlieren“. Und zudem sei bekannt, „dass das Risiko falscher Diagnosen bei jungen, übermüdeten Ärzten um 454 Prozent steigt“. Die wichtigste Erkenntnis dabei: Die meisten Wenigschläfer würden nicht einmal erkennen, dass ihre Leistungsfähigkeit durch den verkürzten Schlaf herabgesetzt wird:

Weil ihre Produktivität dadurch sinkt, arbeiten sie noch länger und bekommen so wiederum weniger Schlaf. Das ist ein gefährlicher Teufelskreis und die Antithese zu intelligentem Management.

Ein Ausweg, der Czeisler vorschwebt, wären „angemessene Schlafrichtlinien“, die er als „geschickte Geschäftsstrategie“ empfiehlt. Wie solche deutsch-amtliche Begriffe konkret und einfach in die Praxis umzusetzen wären, wußte (zumindest bis vor kurzem) noch jeder Südländer. Der griechisch-stämmige Epidemiologe Dr. Dimitrios Trichopoulos, der an der amerikanischen Harvard School of Public Health tätig ist, bestätigt nun noch einmal die gesundheitlichen Vorteile der Siesta in einer großangelegten Studie, die er vergangene Woche veröffentlichte. Sechs Jahre lang blieb die Studie 23.681 Personen in Griechenland auf der Spur und fand heraus, dass diejenigen, die mindestens 30 Minuten am Tag und drei Mal wöchentlich ein Schläfchen einlegten, um 37 Prozent weniger wahrscheinlich an einer Herzkrankheit starben. Bei denen, die nur gelegentlich eine Schlafpause einlegten, reduzierte sich dieses Risiko um immerhin 12 Prozent. Sein Rat, den er selbst nicht befolgt, weil er nach eigener Aussage seit zwanzig Jahren in den USA lebt:

If you can have a nap without disturbing your working pattern or relationship with your boss, do have it.

Und ich weiß von einem Freund, der in einem Büro mit bester Aussicht auf die Isarauen arbeitet, dass der Komponist im Sommer nachmittags immer dort zu sehen ist: Schlafend mit einem Buch als Tarnung. Im Herbst erscheint dann jeweils die neuste CD.