Suizid-Serie bei Renault

Gewerkschaften fordern Untersuchung der Arbeitsbedingungen. Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen auf

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Die Angestellten des Technocentre von Renault bei Paris stehen unter Schock. Sie erfuhren am Dienstag, dass sich einer ihrer Kollegen, ein 38-jähriger Ingenieur, am Freitag in seiner Wohnung erhängt hat. Er arbeitete an dem neuen Modell Laguna, das im nächsten Jahr auf den Markt kommen soll. Dies ist bereits der dritte Angestellte des Technocentres, der sich innerhalb der letzten vier Monate umgebracht hat, und sogar der fünfte in zweieinhalb Jahren. Die Staatsanwaltschaft von Versailles hat nun strafrechtliche Ermittlungen aufgenommen. Gegenstand der Untersuchungen sind dabei nicht die direkten Todesumstände des Angestellten, sondern seine Arbeitsbedingungen:

In einem Abschiedsbrief an seine Familie schreibt der Angestellte, er sei „nicht mehr fähig, diese Arbeit zu machen“, sie sei „zu schwer auszuhalten“, zitiert die Zeitung Le Parisien in ihrer Ausgabe vom 20. Februar aus dem Brief. Der seit 14 Jahren bei Renault arbeitende Ingenieur habe darin auch den Namen des Renault-Chefs Carlos Ghosn erwähnt. Obwohl seine Kollegen bemerkt hatten, dass der Ingenieur den Arbeitsbelastungen nicht mehr zu folgen wusste, rechneten sie aber nicht mit einer solchen Geste. Laut seiner Ehefrau „nahm er seine Unterlagen mit nach Hause und stand nachts auf, um zu arbeiten“, schreibt Le Parisien.

Dritter Suizid eines Technocentre-Mitarbeiters in vier Monaten

Erst am 30. Januar gab es einen Schweigemarsch von 600 bis 800 Technocentre-Angestellten für zwei Kollegen, die sich im Oktober und Januar während der Arbeit direkt auf dem Gelände der Firma umgebracht hatten. Das Technocentre von Renault ist ein 30 km westlich von Paris gelegenes Forschungs- und Entwicklungszentrum, in dem 12.500 Angestellte arbeiten. In dem 150 Hektar umfassenden Industriekomplex wird seit 1998 der größte Teil der neuen Modelle konzipiert, gezeichnet und entwickelt. Jean Hotebourg (http://) von der Gewerkschaft CGT (Confédération Générale du Travail) fordert nun, dass „diese Suizide genauso wie Arbeitsunfälle behandelt werden“.

Die beiden ersten Suizide fanden direkt im Technocentre statt: Ein 39-jähriger Informatiker stürzte sich am 20. Oktober letzten Jahres vor den Augen zahlreicher seiner Kollegen um 10 Uhr morgens von einer Fußgängerbrücke der fünften Etage in die Tiefe. Als nächstes ertränkte sich am 22. Januar 2007 ein 44 Jahre alter Angestellter in einem Teich in der Nähe des Gebäudes. Er hatte an der technischen Dokumentation des neuen Twingo gearbeitet. Er habe „demonstrativ das Ergebnis seines Gesprächs mit den Chefs auf dem Bildschirm seines Computers gelassen“, verdeutlichte Hotebourg.

Die CGT ist sich in einer Erklärung vom 26. Januar sicher, dass es sich bei diesen Fällen aber nur um die Spitze des Eisbergs handelt. „Weinkrämpfe, Schlafstörungen, Depressionen, Einnahme von Beruhigungsmitteln“ seien andere, weniger spektakuläre Folgen des zunehmenden Drucks. Seit dem Tod des dritten Technocentre-Mitarbeiters wurde die CGT von zwei Ehefrauen kontaktiert, deren Männer unter ähnlichen Belastungen litten wie die Kollegen, die sich umbrachten: Sie kehrten erst nach 22 Uhr von der Arbeit zurück, hätten den Eindruck, unter dem Leistungsdruck zusammenzubrechen. Eine der Frauen habe unter Tränen berichtet, dass sie sich nicht getraut habe, ihrem Mann davon zu erzählen, dass sie die Gewerkschaft informiert habe, berichtete CGT-Gewerkschafter Vincent Neveu..

Neue Überwachungsmethoden

Für die Gewerkschaft waren die „Ausquetschversuche“ der Chefetage im jüngsten Fall nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hinzu kämen neue Überwachungsmethoden der Mitarbeiter in Gegenwart ihrer Kollegen. Laut den in der Libération zitierten Gewerkschaften CGT und SUD hat Renault ein neues Managementsystem in Betrieb genommen, das es erlaubt, individuelle Leistungseinschätzungen der Mitarbeiter vorzunehmen. So werde z.B. mit einer „Leistungserhebung“ gemessen, welchen Anteil bestimmte Mitarbeiter an der Erfüllung des Plan-Solls haben.

„Bei Renault verbessert man nicht die Arbeitsbedingungen, man urteilt die Mitarbeiter ab“, so die CGT. Zudem sei die Anzahl der Ingenieure auf 4000 aufgestockt worden. Da die leitenden Posten aber nicht im gleichen Maße wachsen, gibt es immer weniger Aufstiegsmöglichkeiten und somit einen immer härteren Wettbewerb unter den Mitarbeitern. Ältere, erfahrenere Kollegen fallen aus dem Raster, weil sie sich in Einzelgesprächen schlechter verkauften. Da sie oft nur schwer gekündigt werden könnten, werde der Druck stark erhöht, in der Hoffnung, dass sie dann selbst kündigten.

Renault weist Verantwortung von sich

Die Suizide ließen ein gemeinsames Profil erkennen, erklärt Vincent Neveu: In allen Fällen handele es sich um „Ingenieure oder Techniker, die sich bei ihrer Arbeit sehr engagieren und ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung“ gehabt hätten. Außerdem hätten die drei Opfer gemeinsam, dass sie im Hauptkomplex La Ruche des Technocentre an der Konzeption neuer Renault-Modelle arbeiteten. Die Gewerkschaften CGT und SUD forderten deshalb am Dienstag eine unabhängige Untersuchung der „sozialen Konsequenzen der Arbeitsorganisation“ in dem Unternehmen. Die Direktion lehnt dies bisher ab.

Der dritte Suizid eines Angestellten des Technocentre innerhalb von vier Monaten „stellt uns vor viele Fragen und verweist jeden auf seinen Teil der Verantwortung“, erklärte die Unternehmensleitung am Dienstag ausweichend. Diese Dramen spielten sich außerdem in einem „Bereich des Unternehmens ab, in dem nicht die schwierigsten Arbeitsbedingungen herrschen“. Es könnten deshalb „derzeit keine Verbindungen zwischen den Arbeitsbedingungen“ und diesen Vorfällen gezogen werden, meint die Unternehmensleitung. Nur wegen dreier Suizide dürfe nicht mit Kanonenkugeln auf die gesamte Sozialpolitik von Renault geschossen werden. Ein Suizid sei immer Ergebnis einer komplexen persönlichen Situation, deshalb sei es falsch, voreilige Schlüsse zu ziehen.

„Cost killer“ Carlos Ghosn und der „Contrat 2009“

In der Tat scheinen die Zeiten aber endgültig vorbei, in denen Renault als gelungenes soziales Modell galt. Mit den sich häufenden Suiziden gerät nun die Politik des – auch „cost killer“ genannten - Renault-Chefs Carlos Ghosn immer stärker in den Mittelpunkt der Kritik. Viele Angestellte berichteten von einer „angstbesetzten“ Atmosphäre in dem Unternehmen, seitdem der vormalige Nissan-Chef 2005 den Vorsitz von Renault übernommen habe.

Im Februar 2006 hatte Ghosn in einem Dreijahresplan angekündigt, bis 2009 26 neue Modelle präsentieren zu wollen, darunter 13 völlige Neuheiten. Weitere Zielvorgaben waren die Ausweitung der Profitmargen von 3,2 auf 6 % und ein Anstieg der Verkäufe von 2,5 auf 4 Millionen Fahrzeuge. Verschiedene Gewerkschaften berichteten seitdem immer wieder, dass sich die Arbeitsbedingungen mit diesem „Contrat 2009“ extrem verschlechtert haben. Die Kostenreduzierungen bedeuten wachsende Belastungen für die Mitarbeiter, Müdigkeit und Stress nehmen zu.

Anfang Februar erklärte Ghosn, Renault habe trotz leichtem Umsatzrückgang sein operatives Ziel im Rahmen des Vertrags 2009 erreicht. Ziel sei es, die derzeitige Gewinnmarge von 2,5 Prozent bis 2009 auf 6 Prozent zu steigern.