Web 2.0 fördert den Narzissmus

Nach einer Studie von US-Psychologen sind die Studenten im Jahr 2006 die narzisstischste Generation seit 25 Jahren

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Angeblich, so wollen Psychologen herausgefunden haben, werden die jungen Menschen immer narzisstischer. Eine Analyse von 16.000 College-Studenten, die zwischen 1982 und 2006 in den USA die Fragen des psychologischen Tests Narcissistic Personality Inventory beantwortet haben, hat ergeben, dass diese noch nie so narzisstisch waren wie jetzt. In dem Test müssen die Studenten angeben, wie sie Aussagen ("Wenn ich die Welt regieren könnte, wäre sie ein besserer Ort" oder "Ich stehe gerne im Zentrum der Aufmerksamkeit") bewerten. Angeblich liegen die Narzissmuswerte von zwei Dritteln der Studenten 2006 über dem Wert der Studenten aus dem Jahr 1982. Jean Twenge, Psychologieprofessorin an der San Diego State University und Leiterin der Studie, hat schon ein Buch über die Generation Ich geschrieben und sieht sich bestätigt: "Die jungen, nach 1982 geborenen Menschen sind die narzisstischste Generation der jüngsten Geschichte und weit entfernt von einer sozialen Orientierung."

Die Ich-Generation kommt also nach dem Befund der Psychologen allmählich auf die Bühne der Gesellschaft. Sie ist eine Ausgeburt der Mediengesellschaft, die der Aufmerksamkeitsökonomie unterliegt. Wer sich nicht als oder in "Big Brother" möglichst auffällig und attraktiv darstellen kann, wer nicht irgendwie Prominenz erwerben kann, ist ein Loser und kann dann bestenfalls zum Fan werden, wenn er nicht zum Amokläufer oder Selbstmordattentäter wird, der sich – das Durchschnittliche und Graue vor Augen - das Leben nimmt, um in einem für ihn ultimativen Spektakel wenigstens noch einmal, falls die Inszenierung gelingt, die Sperren der Aufmerksamkeit zu durchbrechen. Narzissten können, falls der Erfolg sich nicht einstellt, todeswütig werden. Der Druck ist groß, denn ebenso wie die Aufmerksamkeit der Einzelnen und der Medien knapp ist, ist auch die Prominenz knapp, auch wenn sie sich zu vermehren scheint. Prominent ist das, was nicht die Regel, die Massen, das Normale, das Gewöhnliche, das Allgemeine ist. Prominenz ist mithin selten, sticht heraus, auch wenn es nur aufflackert wie ein Feuerwerk oder birst wie eine Bombe. Das Grausame an der Aufmerksamkeitsgesellschaft ist, dass der Erfolg stets möglich ist und chancengleich vor der Hand liegt, aber doch nur selten ist. Eine Lotterie, die die überwiegende Mehrzahl der Menschen zu Verlierern macht.

Irgendwie ist etwas schiefgelaufen. Die Kinder wurden zu viel gelobt, alles, was sie machten, wurde für gut befunden und gefeiert. Der Generation, die nicht nur kritteln wollte, wird nun der Prozess gemacht. Aber auch den Propheten des "Think Positive". Wer nur an sich selbst glaubt und dass alles schon gut werden wird, wenn man nur will, erliegt einer Täuschung. Das allmählich zu realisieren, war bitter notwendig. Aber es wird von den Psychologen zu einem Generationenproblem degradiert, das letztlich wieder als Folge der 68er Generation interpretiert wird – so, als ob diejenigen, die aufbrechen wollten, nun Schuld an allem sind, was schiefläuft. Das Motto: Nur wer brav im System bleibt, macht alles richtig, da das Falsche ja von den Abweichlern stammt. Die Generation Y, die jetzt erwachsen wird und studiert, habe, so heißt es, ein aufgeblähtes Ich und müsse gewahr sein, dass dadurch persönliche und soziale Probleme auf sie warten. Die Erwartungen sind groß, das emotionale Interesse am Anderen gering, man hält Frustration auch nicht aus. Wenn die Erwartungen nicht eingelöst werden, können die narzisstisch Gekränkten ausschlagen. Aber zum Terrorismus wollen die Psychologen dann doch nicht kommen.

Nett ist, dass die Ergebnisse der Studie, die noch gar nicht veröffentlicht wurde, bereits in den Medien zirkulieren. Der Grund für die Ungedulf dürfte vor allem Twenge geschuldet sein, deren Buch gerade als Paperback erscheint, wofür ein wenig Aufmerksamkeit erzeugt werden soll. Narzissmus ist durchaus in der Aufmerksamkeitsökonomie Geschäft, also Einkommen und daher keineswegs nur eitle Beschäftigung. Aber diese auch in der Wissenschaft gängigen Strategien der Aufmerksamkeitsgewinnung interessieren die Psychologen als Thema natürlich nicht. Dafür werden Unterrichtseinheiten der Grundschulen zur Verangtwortung herangezogen, bei denen Kinder vor 20 Jahren singen sollten: "I am special, I am special. Look at me." Die Folge sind Websites wie MySpace oder YouTube, die "eine Selbstdarstellung zulassen, die weit über das hinausgehen, was in den traditionellen Medien möglich war". Vielleicht sollte man sagen, die eine solche Selbstdarstellung demokratisiert haben, die bislang nur wenigen möglich war. Verklärt werden sie über die Ideologie des Web 2.0 allerdings als soziale Netzwerke. Twenge meint jedenfalls – wahrscheinlich ganz richtig - , dass die Web 2.0-Angebote im Gegenteil des Narzissmus oder die Suche nach Aufmerksamkeit stärken:

Die gegenwärtige Technik fördert die Zunahme des Narzissmus. Wie der Name schon sagt, MySpace verstärkt die Suche nach Aufmerksamkeit, wie das auch YouTube macht.

Die Kritikerin, die über den Narzissmus aufklärt, muss auf jeden Fall nicht traurig sein. Ihre wissenschaftliche Behandlung des Narzissmus hat auch aufmerksamkeitsökonomisch funktioniert, so dass sich fragen ließe, ob nicht nur MySpace und Co. als Plattformen der Selbstdarstellung dienen.