Contentklau in Blogs und anderswo

Was hat das Web 2.0 mit dem Mittelalter zu tun? Teil IV der Serie zum Google-Copy-Paste-Syndrom

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Copy/Paste-Praxen sind längst nicht mehr auf studentische Trittbrettfahrer und deren plumpes Strg+C/Strg+V beschränkt. In Mode ist derzeit insbesondere das Zirkulieren von mutierten Textfetzen in Blogs ohne Quellenangaben. Gemeint ist damit also nicht die (Teil-)Wiedergabe etwa dieses Artikels in einem Blog unter Angabe des Links, sondern eben genau die Unterlassung von letzterem. Texte werden immer öfter die Basis für Mutanten dieser Texte, die ihrerseits... und so weiter. Fehler schleichen sich ein, und die digitale Welt wird damit wieder ein Stück weit "analog". Es stellt sich die gleichsam erkenntnistheoretische Frage nach dem Original von neuem. Die Unterscheidung Original/Plagiat wird immer schwieriger, der Autor gerät unter Druck: "Ach, Herr Kollege, von Ihnen wurde in einem Blog abgeschrieben? Ist ja interessant. Und wo haben Sie den Text denn eigentlich her?"

Printsozialisierte Menschen mit hoher Moral unterstellen mitunter in hoffnungsloser Naivität, dass einige Texte von braven Rechercheuren eigenständig verfasst wurden. Damit wäre gemeint, dass empirisches Material aus Online- und Offline-Quellen zusammengetragen wurde, dass genau gelesen und exzerpiert, dass referenziert und zitiert wurde, mit quellenkritischem Bewusstsein obendrein. Das Ganze in eine eigene Prosa gegossen, eine spezifische "Handschrift" des Autors, mit sprachlichen Pointen hier und da – und fertig ist das genuine Stück Text, das die Signatur des Autors zu Recht tragen darf.

Dass dabei zur Erstorientierung gegoogelt und somit zunächst einmal im Netz nach Futter gesucht wird, ist wohl auch bei Web-Skeptikern mittlerweile Standard. So oder ähnlich muss auch der folgende Artikel in "spektrumdirekt" über die Geschichte und die Spielarten des Weckers zustande gekommen sein (wir unterstellen dies zumindest solange, bis Gegenbeweise vorgelegt werden.

Online erschienen ist dieses kurze Stück Prosa mit Autorennennung vor rund einem Jahr. Im Januar 2007 kam "Magistrator", nach Eigenangaben ein "Pensionär", der "früher mit Leidenschaft Beamter" war, auf die Idee, eine Geschichte über den Wecker zu schreiben und diese in einem Blog der Weltöffentlichkeit darzubieten (der eintrag wurde inzwischen entfernt und findet sich noch hier). Eine gewisse, an sein Beamtendasein erinnernde Arbeitsmethode scheint den Blogger jedenfalls auszuzeichnen: Denn er hat nahezu jeden Satz der "spektrumdirekt"-Journalistin übernommen, jedoch eifrig "nachbearbeitet". Hieß es bei der Journalistin im Original...

Nach den eher gewöhnlichen mechanischen Weckern des Mittelalters, die vor allem bei Mönchen sehr beliebt waren, sann in der Renaissance das Universalgenie Leonardo da Vinci darüber nach, wie sich seine Zeitgenossen möglichst abrupt aus dem Schlaf reißen ließen.

... so machte daraus der Hobby-Geschichtenerzähler in dem Weblog die Passage:

Bei den Mönchen des Mittelalters waren die gewöhnlichen mechanischen Wecker sehr beliebt und etliche Zeit gab es nichts Neues in diesem Bereich. Das sollte sich mit dem Universalgenie Leonardo da Vinci ändern. Er dachte intensiv darüber nach, wie seine Zeitgenossen möglichst abrupt aus dem Schlaf gerissen werden konnten.

In dem Blog-Eintrag werden weder die "spektrumdirekt"-Quelle noch der Name der Autorin des Erstbeitrags erwähnt. Einerlei, ob wir das nun "Plagiat" oder "Paraphrase" oder einfach nur "doofes Umschreiben" eines Amateurs nennen, die Frage ist doch die: Worauf verweisen diese Praxen, die offenbar derzeit gehäuft auftreten? Wird nunmehr im Internet sichtbar, was auch im Print-Zeitalter bereits Usus war, nur früher viel seltener entdeckt wurde? War das "Kleben-Bleiben" am Original immer schon Methode? Oder hat sich diese besondere Arbeitsweise erst im Netz-Zeitalter oder gar erst mit dem Web 2.0 durchgesetzt? War Copy/Paste auch schon in den mittelalterlichen Klöstern gängige Praxis, wie es Frank Hartmann gleichsetzt? Und ist es das Web 2.0, das uns – mit oder ohne Copy/Paste-Analogie – nun wieder ins Mittelalter zurückfallen lässt? Der amerikanische Blog-Kritiker Andrew Keen schreibt jedenfalls in seinem Blog (!):

Web 2.0 is pushing us back into the Dark Ages.

Wie der vorweihnachtliche Aufruf in die Fastenzeit passte

Und wenn wir schon bei Mittelalter und bei Klöstern sind: Auch Theologen paraphrasieren eifrig und gerne. Der Diözesanbischof im oberösterreichischen Linz hat sich etwa Mitte Januar 2007 in einem Hirtenbrief an das gläubige Volk gewandt. Vor Beginn der Fastenzeit verlieh er seiner Sorge um den priesterlichen Nachwuchs Ausdruck. Der Text zeigt erstaunliche Übereinstimmungen mit dem Bischofswort zur Adventszeit 2004 des Bischofs von Basel (der in dem Linzer Hirtenbrief mit keinem Wort erwähnt wird).

Aufgedeckt hat dieses kuriose Plagiat die Online-Redaktion des ORF Oberösterreich. Die katholische Kirche des Nachbarlands erweist sich hier als mindestens so progressiv wie contentklauende Blogger: Es gehört schon viel Mut dazu, aus einem vorweihnachtlichen Bischofswort einen fastenzeitlichen Aufruf zu basteln. Doch recht schwierig war das Unterfangen in der Praxis nicht, wie der folgende Textvergleich zeigt:

Der Schweizer Bischof sinnierte anno 2004:

Ohne diesen adventlichen Glauben an Christus wäre die Kirche nichts anderes als ein kurioser Verein.

Der Adventsbezug dürfte dem österreichischen Bischof in Anbetracht der Fastenzeit nicht gemundet haben, also wurde daraus 2007 der Satz:

Ohne diesen Glauben an Christus wäre die Kirche nichts anderes als ein kurioser Verein.

Ein blinder Fleck oder: Wenn zum Thema Plagiat plagiiert wird

Plagiiert, paraphrasiert, weg gestrichen und eingefügt wird nicht nur in Blogs und in online nachzulesenden Hirtenbriefen. Plagiiert wird neuerdings sogar in Online-Arbeiten zum Thema Plagiat. Eine Wiener Studentengruppe hat eine Hausarbeit zum Thema "Das schriftliche Plagiat" ins Netz gestellt. (Nebenbemerkung: Eine einzige Online-Textfetzen-Collage. Waren solche Arbeiten nicht früher einmal zusammenhängende Prosa?)

Nur dumm, dass schon der allererste Satz im historischen Abriss selbst ein Plagiat ist. Die Autorinnen "schrieben" unzitiert folgenden Satz und stellten diesen vor ein längeres Zitat:

Die Geschichte des Plagiats reicht sehr weit zurück.

Dieser Satz findet sich jedoch auch vor genau jener Textpassage, die im Anschluss "zitiert" wird. Dort heißt es:

Wie im Kapitel 1 erwähnt, reicht die Geschichte des Plagiats sehr weit zurück.

Die in der Studentenarbeit an diesen Satz anschließenden Absätze wurden unter doppelte Anführungszeichen gesetzt und mit "Vgl." zitiert (was im Übrigen alleine schon den wissenschaftlichen Zitierregeln widerspricht). Doch die Absätze sind nichts anderes als ein 1:1-Copy/Paste von derselben Quelle.

Freilich ist dieser Fall nur eine Fußnote studentischen Plagiierens. Aber ein Plagiat in einer Arbeit über das Plagiat zeigt auf, wie sehr hier Unrechtsbewusstsein und/oder Zitierkompetenzen abhanden gekommen sind. Und auch, wie sehr durch all diese Praxen unser Hirn von Tiefgang in der Recherche und einer reflektierend-kritischen Befassung mit dem Gegenstand entlastet werden kann. Man fragt sich: Wofür werden eigentlich Kapazitäten in der Großhirnrinde frei?

Contentklau und freie Lizenzen – ein dringender Dialogbedarf

Im Netz gibt es mittlerweile viele Initiativen, die Contentklau zum Thema machen: Die in letzterem Fallbeispiel betroffene Medieninformatikerin Debora Weber-Wulff hat einen Copy, Shake, and Paste"-Blog eingerichtet, in dem – ein Orchideenblog im Netz? – vermutlich alles selbst geschrieben wurde. Andere Blogs wie etwa Plagiarismus und Urheberschutz oder Websites wie Contenklau greifen das Thema auf, indem sie Fälle publik machen oder Ratschläge bei entdeckten Plagiaten geben.

Auch der Autor dieses Beitrags war übrigens schon einmal vom 1:1-Contentklau im Netz betroffen. Ein Text über die mediale Konstruktion von Wirklichkeit (Original) wurde von einem gewissen "Fred" auf diese Website gestellt. Die einzige Änderung im lieblos gecopypasteten Gesamttext ist die Einfügung von "Borderline Journalism" in den Titel und die erste Textzeile. Und auch hier fällt auf (wie in allen oben angeführten Beispielen): Der Autor des Originals wurde mit keinem Wort erwähnt (also bewusst weg gestrichen), ihm wurde auch nicht gedankt, und kein Link verweist zum Original. Auch auf eine etwaige spezielle Lizenz als Bedingung für die Wiederveröffentlichung im Netz (wie etwa im Fall der Antiplagiats-Website von Debora Weber-Wulff) wird in solchen Fällen fast nie Rücksicht genommen.

Missverstehen der freien Informationskultur

Unter Umständen ist es ein relativ weit verbreitetes Missverständnis, dass freie Lizenzen das freie Flottieren von Textbausteinen und das Berauben des Erstautors wie auch die Unterschlagung der Quelle legitimieren, ja sogar herausfordern. Rätselhaft ist in diesem Zusammenhang das beängstigende Ignorieren des Plagiats- und Contentklau-Problems in zahlreichen Debatten zur freien Informationskultur im Netz (siehe etwa jüngst die Publikation Freie Netze. Freies Wissen). Eine neue Ära der Netzkritik wäre hier dringend erforderlich.

Sollten die Vorstellungen von Autorschaft, Original und Plagiat denn endgültig ausgedient haben, dann müsste dies offen gelegt werden. Denn die Abschaffung dieser Konzepte hätte revolutionäre Auswirkungen auf die gesamte Text- und Wissenskultur – von Fragen der Entlohnung der "Textarbeiter" (und der zunehmenden Prekarisierung der Content-Produzenten!) bis hin zur Qualitätssicherung in der Wissenschaft.

Von Stefan Weber ist in der Telepolis-Reihe das Buch Das Google-Copy-Paste-Syndrom. Wie Netzplagiate Ausbildung und Wissen gefährden erschienen.