Vor dem Tsunami

Die geplatzte Spekulationsblase auf dem US-Immobilienmarkt belastet die amerikanische Konjunktur und war eine der Ursachen für die jüngsten Turbulenzen auf den Weltfinanzmärkten

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Seit dem „Schwarzen Dienstag“, dem 27. Februar, sind die wichtigsten internationalen Aktienindizes auf Tauchfahrt gegangen, eine Kurserholung findet – wenn überhaupt – nur schleichend statt. Die massiven Kursverluste auf den Weltfinanzmärkten wurden in der hiesigen Presse oftmals als eine bloße „Kurskorrektur“ hingestellt, der keine fundamentalen ökonomischen Fehlentwicklungen zugrunde liegen. Zumindest im Fall der USA ist dies nicht der Fall, die wichtigste Ökonomie der Welt wird durch das Platzen der seit Jahren angewachsenen Spekulationsblase auf dem US-Immobilienmarkt zusehends gebremst, eine Rezession scheint inzwischen durchaus wahrscheinlich.

Dieser an Dynamik gewinnende Abschwung des US-Immobilienmarktes vernichtet inzwischen Millionen von Lebensentwürfen amerikanischer Bürger. Laut neusten Statistiken mussten 2006 gegen 1,2 Millionen mit Hypotheken belasteter Privatimmobilien Zwangsvollstreckungen betrieben werden. Gegenüber 2005 ist ein Anstieg der gesamten Zwangsvollstreckungen in den USA um 42 Prozent festzustellen. Anfang 2007 ist die Anzahl derjenigen Hauseigentümer, die die mit dem Immobilienerwerb einhergehenden Verbindlichkeiten nicht mehr schultern können, nochmals sprunghaft angestiegen: Im Januar kamen 19 Prozent mehr Häuser in Zwangsvollstreckung als im Vormonat, so dass inzwischen über ein Prozent aller Hypotheken in den USA geplatzt sind.

„Einige Menschen benutzen die Phrase Tsunami; es wird einen Tsunami an Zwangsvollstreckungen geben“, so der Bestsellerautor und Immolilienspekulant Dave Jenks gegenüber der Nachrichtenagentur MarketWatch. Laut Jenks solle man jetzt in den Markt „einsteigen“ und die aus den Zwangsversteigerungen resultierenden Schnäppchen zwecks weiterer Spekulation aufkaufen. Inzwischen spezialisierte sich in den USA eine ganze Industrie auf die Spekulation mit den geplatzten Träumen vom Eigenheim. Neu entstandene „Berufsgruppen“ befassen sich mit nichts anderem, als dem Auf- und Weiterverkauf verschuldeter Privatimmobilien, die eigens hierfür eingerichteten Internetdienste wie Foreclosure.com, verzeichnen traumhafte Zuwachsraten.

Welche Verheerungen solch ein spekulativer Tsunami hinterlässt, beschrieben Reporter des Fernsehsenders NBC in einem Bericht aus Jacksonville, Florida. In dieser begehrten Baugegend erreichten Zwangsvollstreckungen ein historisches Hoch. Laut Michael Figgins, Direktor des Rechtshilfebüros der Stadt, gebe es in seiner Region 20 bis 30 Zwangsvollstreckungen wöchentlich. „Vor ungefähr 60 Tagen haben wir unsere Beratungskapazität erreicht“, erklärte Figgins. Inzwischen seien tausende Hauseigentümer in seinem Bezirk von Zwangsvollstreckungen bedroht, ohne dass ihnen rechtliche Hilfe zur Verfügung stünde.

Spekulative Massenparty

Der seit Jahren boomende Immobilienmarkt erfuhr schon 2006 eine deutliche Abkühlung, die nun auch auf andere Wirtschaftssektoren der weltweit größten Ökonomie ausstrahlt. Die Preisrallye auf dem amerikanischen Immobilienmarkt war in der Tat atemberaubend. Zwischen 2000 und 2005 wuchsen die Immobilienpreise im Landesdurchschnitt um 50 Prozent, wobei zu berücksichtigen ist, dass der Markt zweigeteilt ist: In der Provinz steht billiges Bauland praktisch unbegrenzt zur Verfügung, die Preise werden hier von den Baukosten diktiert. Der Boom konzentrierte sich hingegen auf die US-Metropolen und die Küstenregionen des Landes, wo die Preise in den fünf Jahren um durchschnittlich 100 Prozent siegen.

Vielen amerikanischen Häuslebauern ging es aber nicht um die eigenen vier Wände, sondern um spekulative Profite. Schon Ende Juli 2006 gab das kalifornische Ministerium für Immobilienwesen bekannt, dass es im Sonnenstaat inzwischen über 500.000 offiziell angemeldete Makler gebe. Somit kommt ein Immobilienhändler auf 55 erwachsene Kalifornier. Der Volkssport Immobilienspekulation war das Lieblingsthema auf Partys in New York oder Los Angeles. Als Flipper werden die Mitglieder der US-Mittelschicht bezeichnet, die ihr Erspartes in Häuser oder Wohnungen investieren, und diese nach oberflächlicher Modernisierung wieder mit Gewinn verkaufen – gleich mehrere Reality Shows haben sich diesem gesellschaftlichen Phänomen gewidmet.

...und der Kater danach

Die Anzeichen einer ausgewachsenen Krise machten sich schon in der zweiten Hälfte 2006 bemerkbar, als die amerikanische Nationale Vereinigung der Makler (NAR) im September bekannt geben musste, daß zum ersten Mal seit elf Jahren der durchschnittliche Verkaufspreis für Häuser im Jahresvergleich gefallen sei. Seitdem gehen die Preise für Immobilien in den USA beständig zurück. Im Januar musste die NAR melden, dass der Durchschnittspreis für private Immobilien gegenüber dem Vorjahreszeitrum um weitere 3,1 Prozent auf 210.000 US-Dollar absackte. Zudem gibt es laut NAR in den USA an die vier Millionen unverkaufter Häuser – der höchste Stand seit April 1993. Schließlich ging die Anzahl der verkauften Häuser im Januar gegenüber dem Vormonat um weitere 16,6 Prozent auf nur noch 937.000 stark zurück.

Nun sind Hunderttausende von „Flippern“ auf ihren Spekulationsobjekten sitzen geblieben – und mit ihnen auch der Finanzsektor. Das US-Finanzkapital hat enorm an der spekulativen Blasenbildung auf dem Immobiliensektor verdient und den Boom angeheizt. Inzwischen machen mit dem Immobilienmarkt verbundene Hypotheken, Darlehen und Konsumentenkredite knapp 33 Prozent der gesamten Aktiva des US-Finanzsektors aus – alles in allem 9,3 Billionen Dollar. Zu Vergleich: das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der BRD beläuft sich im Jahr 2005 auf etwa 2,5 Billionen US-Dollar (gemessen in Kaufkraftparität). Laut den statistischen Aufzeichnungen derUS-Notenbank gab noch nie in der Geschichte der Vereinigten Staaten eine derartige Konzentration der Finanzbranche auf den Immobilienmarkt. Darin liegt die Gefahr für das gesamte Bank- und Kreditwesen der USA. Denn je tiefer die Immobilienpreise fallen, desto größer wird die Zahl der "faulen", also nicht mehr rückzahlbaren Hypothekenkredite und Darlehen. Das wird die Bilanzen verschlechtern und kann die Existenz mancher Geldinstitute gefährden.

Neben dem Finanzsektor und dem Spekulantenheer wird selbstverständlich auch die Baubranche durch die Talfahrt des Immobilienmarktes in Mitleidenschaft gezogen. Alle wichtigen Baufirmen des Landes mussten Profit- und Umsatzeinbußen hinnehmen und Tausende von Mitarbeitern entlassen. Überdies führt die nachlassende Bautätigkeit zu einem generellen Absinken der Nachfrage in vielen anderen Branchen. Doch es ist gerade die Struktur vieler aufgenommener Hypotheken und sonstiger Kredite, die eine Gefahr für die gesamte US-Konjunktur darstellt: Der private Konsum macht 70 Prozent des US-BIP von derzeit 12,4 Billionen US-Dollar aus. Viele US-Bürger haben ihre Hypotheken auf ihre bis dahin stets im Wert steigenden Immobilien aufgenommen und damit – trotz zuletzt leicht fallender Löhne – den Konsum mitfinanziert.

Die Aufnahme von Konsumkrediten ist in den USA ebenfalls weit verbreitet – wie auch eine gegen Null tendierende Sparquote. Statt das geliehene Geld in die Modernisierung ihrer Häuser zu stecken, wurden also oftmals eher prestigeträchtige Konsumartikel erworben. Hierin liegt eine der wichtigsten Ursachen für die bislang stets steigende, nahezu unersättliche „private Nachfrage“ des amerikanischen Binnenmarkts, der als ein globaler „Konjunkturmotor“ Warenströme aus der ganzen Welt wie ein Schwamm aufsog und den USA ein riesiges Außenhandelsdefizit von inzwischen 763,6 Milliarden US-Dollar bescherte.

Rezession am Horizont

Die Party scheint sich jetzt ihrem Ende zu nähern. Als eine „Rezession auf Katzenpfoten“ bezeichnete die New York Times (NYT) inzwischen die Eintrübung der US-Konjunktur. In zwei der letzten drei Monate sei die amerikanische Industrieproduktion rückläufig gewesen, so das Blatt, doch bis zum 27. Februar scheine dies keiner bemerkt zu haben. Sonst wären die vom US-Handelsministerium an diesem Tag veröffentlichten Zahlen nicht mit solch einem Entsetzen von den Märkten aufgenommen worden. Demnach sind im Januar die Aufträge für langfristige Güter, wie Autos, Maschinen oder Computer, um ganze acht Prozent gegenüber dem Vormonat gesunken. Der NYT-Autor David Leonard benennt klar die Konstellation, die zu einer Rezession in den kommenden Monaten in den USA führen könnte:

Diesmal resultiert der Rückgang der Industrieproduktion aus einer Reihe von größeren Problemen. Zum einen ist da natürlich der Preissturz auf dem Immobilienmarkt, der einen Abfall der Bautätigkeit und der Nachfrage nach Türen, Fenstern, ect. nach sich zog, die die Fabriken in den letzten Jahren brummen ließen. In den letzten Wochen griffen die Probleme auf dem Immobilienmarkt auf den Finanzsektor über. Große Darlehensgeber ... begleichen den Preis dafür, dass sie während des Immobilienbooms Menschen Kredite gewährten, die sich die Häuser eigentlich nicht leisten konnten.

Die in der Presse oftmals als „Kurskorrektur“ betitelten Verluste haben also tatsächlich im Fall der USA eine reelle Grundlage – man könnte sogar sagen, am 27. Februar brach in der Wallstreet die Realität ein. Der Spekulationsblase im Immobiliensektor scheint somit das Schicksal ihrer Vorgängerin, der berühmten DotCom-Blase, zu ereilen. Diese Spekulation mit Hightech- und Internetaktien an den Weltbörsen brach 2000 zusammen, viele der damals millionenschweren „Internet-Startups“ sind heute längst vergessen. Doch ein ähnlicher Zusammenbruch des Immobileinmarktes wie der Hightech-Aktien hätte ungleich schlimmere Folgen, da die Bauwirtschaft auf viele andere Sektoren durch ihre Nachfrage stimulierend wirkt und somit im Falle eines Crashs auch viel mehr Arbeitsplätze und Existenzen zerstört wären. Schließlich ist es mehr als fraglich, ob die gerade in Fahrt kommende europäische Konjunktur nicht auch in den Sog einer Rezession in den USA geraten würde.