Weltagrarpolitik ist Neokolonialismus

Ernährungssouveränität als Gegenkonzept

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"Was bedeutet Ernährungssouveränität? Für uns ist es das Recht, das absolute Recht, unsere Agrarfrüchte auf unserem eigenen Land zu produzieren, in unserer eigenen Region, mit ökologischen Mitteln. Von unseren Regierungen verlangen wir, dieses System der Agrarproduktion zu unterstützen, politisch und mit finanziellen Mitteln", sagt der indische Agraraktivist Peryapatna Satheesh. Er ist einer der Initiatoren des ersten internationalen Forums zur Ernährungssouveränität, das vom 23 bis zum 27.Februar in Sélingué, einem Dorf 150 Kilometer entfernt von der malischen Hauptstadt Bamako, stattgefunden hatte,

Bild: nyeleni2007.org

Mehr als 500 Vertreter von Kleinbauern- und Fischerorganisationen aus fünf Kontinenten waren in diese abgelegene Region gereist. Die Organisatoren, darunter La Via Campesina, das internationale Netzwerk der Kleinbauernorganisationen und Friends of the earth, die Dachorganisation der deutschen Umweltschutzorganisation BUND, betrachten die Ernährungssouveränität als Gegenkonzept zum globalisierten Handel und der industriellen Herstellung von Agrarprodukten. Denn die industrielle Landwirtschaft ist zu einem erheblichen Teil mit verantwortlich für die Klimaerwärmung. Sie nutzt synthetischen Kunstdünger, der nur mit hohem Energieaufwand hergestellt werden kann, und hat wegen ihrer zentralisierten Produktionsstrukturen enorme Transportwege.

Die Bewegung für Ernährungssouveränität ist hervorgegangen aus dem Widerstand gegen das neoliberale Agrarmodell und aus praktisch gelebten Alternativen. In der Erklärung "Profit für wenige oder Nahrung für alle" war der Begriff erstmals erwähnt. Sie wurde verfasst von einigen Bauernorganisationen und sozialen Bewegungen anlässlich des Welternährungsgipfels 1996. Seitdem orientieren sich viele Kleinbauernorganisationen, soziale Bewegungen, biologische Landwirtschaftsprojekte und Nichtregierungsorganisationen daran. "Wir sind willens und in der Lage, die Bevölkerung der Welt zu ernähren, aber unsere viele Generationen alten Fähigkeiten, gute, gesunde und reichhaltige Lebensmittel zu produzieren, sind bedroht und werden ausgehöhlt - durch Neoliberalismus und die kapitalistische Globalisierung", heißt es in der Abschlusserklärung von Mali. Die derzeitige Weltagrarordnung bezeichnen sie als "Neokolonialismus".

Ernährungssouveränität setzt auf Selbstbestimmung

Ernährungssouveränität meint das Recht der verschiedenen Regionen, Nationen und Völker der Welt, ihre Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik selber zu definieren, die einheimische landwirtschaftliche Produktion und den Handel zu schützen und zu regulieren. Diejenigen, die in Mali die Ernährungssouveränität verfechten, sehen ihre Märkte durch Billigimporte zerstört, erkennen, wie ihnen die Privatisierung von Ressourcen buchstäblich das Wasser abgräbt, und machen die bittere Erfahrung, dass sie zum Beispiel über internationale Patentrechtsabkommen nicht mehr ihr eigenes Saatgut verwenden dürfen und Biotechnologiekonzerne immer wieder neue Patente auf Pflanzen anmelden wollen, deren genetischer Code dann sprichwörtlich in das "Eigentum" dieser Konzerne übergeht.

Die meisten Regierungen und multilateralen Institutionen folgen seit einem Vierteljahrhundert einer einseitig auf die Interessen der Agrarindustrie orientierten Politik: Sie steigern die Produktion kurzfristig durch Technologien wie gentechnisch verändertes Saatgut, Kunstdünger und Pestizide. Diese Agrarpolitik vernichtet die Existenzgrundlage von Millionen Bauern, treibt sie in die Slums der Megacities, verödet ganze Landstriche durch Monokulturen und schädigt die Umwelt massiv. Aber diese Kosten fließen nicht in die betriebswirtschaftliche Kalkulation dieser Agrargiganten ein, sondern die Allgemeinheit zahlt.

Die Armut, die sie selbst produziert hat, will die westliche Agrarindustrie mit dem Konzept der Ernährungssicherheit abfedern. D.h. sie wollen ihre hochsubventionierten Agrarprodukte in die verarmten Regionen der Welt exportieren. Aber ihr Konzept wirkt weder gegen den Hunger in der Welt, noch hilft sie den Kleinbauern. Im Gegenteil: Seit 1996 ist nach Angaben der Welternährungsorganisation die Zahl der Hungernden weiter gestiegen, obwohl weltweit mehr Lebensmittel als nötig produziert werden. Internationale Institutionen wie die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und die Welthandelsorganisation zwingen die Länder des Südens, ihre Märkte für diese Agrarprodukte zu öffnen und tragen damit zu einem rapiden Preisverfall bei. Die Bauern dort können gegen diese hoch subventionierten Preise nicht konkurrieren und geben ihre Landwirtschaft auf. Die weltweit mehr als eine Milliarde Kleinbauern profitiert vom Agrarexport am wenigsten, bestätigt auch die Welternährungsorganisation FAO.

Für den Kleinbauern stellt sich heutzutage die Krise folgendermaßen dar: Alle Inputs - angefangen vom Saatgut - müssen ausgelagert werden. Wenn man eine bestimmte Sorte aussäen will, muss der Bauer das Saatgut auf dem Markt einkaufen. Und dieses Saatgut kann nicht ohne einen bestimmten Kunstdünger wachsen. Benutzt er einmal den Kunstdünger, tauchen viele Schädlinge auf, also muss er Pestizide einkaufen. So ist sein ganzes Wissen über traditionelle Produktionsweisen ausgelagert worden. Und diese Auslagerung ist die Grundlage der ganzen Krise.

Peryapatna Satheesh, indischer Agraraktivist
Bild: nyeleni2007.org

2006 haben weltweit erstmals mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land gelebt. Das sind mehr als drei Milliarden. Könnte eine Landwirtschaft, die ohne die sogenannten Errungenschaften der Technik, also Pestizide, Kunstdünger und Gentechnik, alle diese Menschen ernähren? "Die Flucht vieler Landbewohner in die Städte hat der bäuerlichen Landwirtschaft geschadet und Millionen von sozial benachteiligten Menschen hervorgebracht", gesteht der Inder Peryapatna Satheesh. Aber es gehe darum, diese Entwicklung wieder umzukehren; die Menschen aus den Slums würden ein gutes und existenzsicherndes Leben auf dem Land dem Vegetieren in den Elendsquartieren vorziehen.

"Außerdem", so fügt er hinzu, "gibt es mehr und mehr Belege, auch aus unserer eigenen Erfahrung, dass die Ernteerträge der traditionellen Landwirtschaft, die ohne Kunstdünger, Pestizide und Gentechnik auskommt, bis zu 40 Prozent über denen der sogenannten modernen Landwirtschaft liegen kann". Das bestätigt auch eine langjährige wissenschaftliche Untersuchung der Sussex Universität in Brighton, die bereits 2003 zum Ergebnis kam, dass mit nachhaltiger Landwirtschaft die Ernährungsprobleme des Südens gelöst werden könnten. Häufige Fruchtfolgen, wie in der traditionellen Landwirtschaft, könnten höhere Ernteerträge einfahren als die Monokulturen, die in der industriellen Landwirtschaft vorherrschend sind.

Die Ernährungssouveränität hätte viele Vorteile: Sie würde die Qualität der Lebensmittel erhöhen und außerdem den CO2-Ausstoß und damit die Klimaerwärmung verringern. Denn die traditionelle Landwirtschaft benötigt viel weniger Energie, bringt keinen klimaschädlichen Kunstdünger aus und die regionale Produktion würde die Transportkosten mit LKWs, Schiffen und Flugzeugen erheblich senken.

Es ist kein Zufall, dass das erste Weltforum zur Ernährungssouveränität in Mali stattfand. Denn Mali ist das erste Land, dessen Regierung auf Druck von nationalen Bauernorganisationen die Ernährungssouveränität in ihr Programm aufgenommen hat. Ob sie tatsächlich die Interessen ihrer Bevölkerung, die zu 80 Prozent von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft lebt, schützen kann, steht in den Sternen. Denn die EU-Kommission drängt auf neue, so genannte Wirtschaftliche Partnerschaftsabkommen (EPAs) mit 77 Entwicklungsländern. Mali ist eines davon. Das Abkommen würde weitere Privatisierungen im öffentlichen Sektor einleiten, z.B. bei der Wasser- und Stromversorgung, und außerdem die Importzölle weiter absenken - auch auf mit Steuermitteln subventionierte Agrarprodukte aus der EU. Das würde die Ausgangsbedingungen erheblich erschweren, solch zukunftsweisende Konzepte wie das der Ernährungssouveränität umzusetzen. 180 NGOs haben eineStopEPA-Kampagne gestartet und am 1. Februar einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel, die derzeit den EU-Ratsvorsitz innehat, geschrieben.

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