Ausnahmeerscheinung im Libanon

Mit Joseph Samaha ist eine wichtige arabische Stimme verstummt

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Joseph Samaha ist tot. Die Nachricht kam am 25. Februar. Der Chefredakteur der libanesischen Tageszeitung „Al-Akhbar“ ist unerwartet gestorben. Herzstillstand.

Als ich es las, fiel mir das Bild vom kettenrauchenden Samaha ein. Und noch etwas anderes. Im November, in Beirut. Ich war in der Redaktion der „Al-Akhbar“ und sah zum Fenster hinaus. Auf der Straße unten steuerte Samaha den Eingang an. Mir schoss nur eines in den Sinn: „Er läuft ohne Leibwächter herum?“ Es war der Tag nach der Ermordung von Industrieminister Pierre Gmayyel. Durch die Straßen zogen seine aufgewühlten Anhänger. Der Sicherheitsdienst der „Al-Akhbar“ verlangte, dass die Jalousien überall heruntergelassen werden. Man weiß ja nie, schließlich verficht die „Al-Akhbar“ die Linie der Opposition, der „Gegner“ von Gmayyels Fraktion. Es schien sicherer, die Fenster im sechsten Stock nicht hell erleuchtet zu lassen. Aber Samaha spazierte ohne Leibwächter herum. Er kümmerte sich um so etwas nicht. Nicht um seine Sicherheit. Nicht um seine Gesundheit.

Damals hatte er noch drei Monate zu leben. Drei Monate. Das liest sich so, schreibt sich so, fühlt sich aber kein bisschen „so“ an.

Joseph Samaha

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In der Nacht vom 24. auf den 25. Februar erlag Joseph Samaha einem Herzstillstand. Er war in London, bei Hazim Saghiyyah. Wer Saghiyyahs Artikel aus „Al-Hayat“ und wer Samahas Artikel kennt, mag sich über ihre Freundschaft wundern. Der neokonservative Saghiyyah und Samaha, der die Hizbollah unterstützte. Dass dies ihrer langjährigen Freundschaft nicht schadete, sagt viel aus. Über beide. Samaha war gekommen, um Saghiyyah beizustehen. Dessen Frau, die Autorin und Verlegerin May Ghassoub, war wenige Tage zuvor einer längeren Krankheit erlegen.

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Samaha ist tot. Man könnte immer nur auf diese drei Worte starren. Er war einfach eine Ausnahmeerscheinung in diesem Libanon mit seinen zahllosen windigen Figuren und Wetterhähnen. In dieser libanesischen Medienszene, deren Tenor sich nach der Höhe der saudischen Bestechungsgelder richtet.

Samaha wurde 1949 in ärmlichen Verhältnissen geboren. Ursprünglich maronitischer Christ und bald Atheist. Anfänglich Marxist, dann vor allem Nasserist. Ein Foto von Gamal Abdel Nasser stand in allen Büros, die er im Laufe seiner über 35 Jahre im Journalismus bezogen hat. In einem seiner letzten Editorials, betitelt „Saddams Hinrichtung: Wann ist das Verfahren?“, beklagte er den Niedergang der arabischen Zivilisation:

Saddam repräsentierte eine Etappe des Abbaus der arabisch nationalistischen Bewegung. Diese Bewegung versuchte nach der Aggression von 1967 aufzustehen, aber das Fehlen von Gamal Abdel Nasser schnitt den Weg hierzu ab... Linke denken, ebenso wie Liberale, dass gestern alles besser als heute war. Der vorherrschende religiöse Gedanke ist heute, im allgemeinen, eingeschränkter als gestern. Dasselbe kann man von der Kultur, der Kunst und Literatur sagen… sogar von den Argumenten für ein nationales Land. Die Distanz, die zwischen Saddam und Nasser besteht, ist dieselbe Distanz zwischen… dem jungen As-Sadr und seinem Onkel As-Sadr. Zwischen Zarqawi und Hassan Al-Banna…

Oder… zwischen den Journalisten, die das Gros im heutigen Libanon bilden und Joseph Samaha.

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Er war ein stolzer Araber. Stolz darauf, Araber zu sein. Er sprach, las und schrieb ausgezeichnet Französisch und Englisch, aber er wollte nur arabisch sprechen. Da war nichts Engstirniges dabei. Wohl aber Selbstbewusstsein. Im affigen Libanon, in dem es vielfach als „unlibanesisch“ gilt, „schukran“ statt „thänx“ zu sagen und den Kellner nicht mit „pliezzz“ heranzuwinken, tat dieses Selbstbewusstsein gut.

Er war unbestechlich. Ein lebenslanger Kämpfer für die Rechte Palästinas. Er war für eine Zweistaatenlösung. Aber er beharrte darauf, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Anerkennung von Israels Existenz und der Anerkennung von Israels Recht auf die Art von Existenz, das sich Israel nahm. Auf Kosten von Millionen von Palästinensern. Zugleich wandte er sich vehement gegen jedwede anti-semitische Neigung und widmete als einziger arabischer Journalist der „jüdischen Frage“ ein Buch, die er nicht als „europäische Angelegenheit“ abgehakt sehen wollte. Auch die Araber hätten sich ihr zu stellen. Er war hoch moralisch, hoch differenziert. Oder einfach: von Kopf bis Fuß fair.

Rassismen jeglicher Couleur hatten bei ihm keine Chance. Umso wütender stimmte ihn die Hetze, die Libanons „Regierungsmehrheit“ gegenüber der Opposition betreibt. In einem Artikel zählte er die Worte auf, mit denen die bedacht werden, die seit dem 1. Dezember in Beirut campieren. Das sind die Schiiten der Hizbollah und die Christen von Michel Aouns „Patriotischer Freiheitsbewegung“. Die Worte gelten vor allem den Schiiten. Man muss sie hier nicht wiedergeben, aber er hielt sie schwarz auf weiß fest, um die Lügen von Libanons rechter Fraktion zu entlarven.

Wir begegnen hier ‚libanonisiertem’ Klassenhass. Ein Klassenhass, der domestiziert wurde, indem er in ideologisch-konfessionelle Stigmatisierungen eingekleidet wurde, die das rassistische Unterbewusstsein einer chauvinistischen rechtsgerichteten Wahrnehmung zutiefst anziehen.

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Samaha rührte gerne an Tabus. „Du bist in einem Land, in dem die Christen morgens aufstehen und die Muslime zählen und die Muslime aufstehen und die Christen zählen“, grinste er einmal. Kein Libanese, dem ich das erzählt habe, wagte, darüber zu lachen.

Figuren wie Samir Geagea und Walid Jumbladt waren für ihn rote Tücher. Aber er veröffentlichte nicht jene Karikatur, die Jumbladt als eine an Strippen liegende, halbtote Marionette zeigt. Das sei zu schwer.

Bei dem Namen „Khaled Maschaal“ rümpfte er die Nase. Der sei… und dann kam das Nasenrümpfen. Seine Zeitung aber druckte ein langes Interview mit Maschaal, in dem der den (wohlgemerkt unilateralen) Rückzug der Israelis aus dem Gaza in 2005 als Sieg der Hamas darstellte. Das ist doch Blödsinn, fragte ich Samaha. Er zuckte die Achseln. Es war klar: Wer geopolitisch und arabisch-nationalistisch wie Samaha denkt, muss in dieser in die Enge getriebenen Region heutzutage Stellung beziehen. Entweder für die USA, Europa, Israel und die „moderaten“ sunnitischen Diktaturen. Oder für die Gegenseite. Die „Al-Akhbar“, die Zeitung, die Samaha in 2006 gemeinsam mit seinem Kollegen Ibrahim al-Amine gegründet hatte, bezog Stellung. Für die Gegenseite.

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Angesichts der westlichen Kolonialpolitik schwankte er zwischen Hass, Verachtung, Sarkasmus und – Müdigkeit. Bei Bushs Rede vom 10. Januar zur neuen Irak-Strategie, in deren Vorfeld soviel über den Baker-Hamilton-Bericht gerätselt worden war, platzte ihm der Kragen:

Wir haben (auf diese Ansprache) gewartet und wurden (für unsere Geduld) bestraft mit einer Rede, die wahrlich eine Prüfung für unsere Nerven und unser Temperament darstellt.

Infolge nahm er jedes von Bushs Worten auseinander: „Er sagte: wir werden weiterhin Al-Qaida jagen und besondere Aufmerksamkeit der Al-Anbar-Provinz schenken. Er meinte: der Krieg ist endlos. Während wir auf 4000 neue Soldaten für Al-Anbar warten, jagen wir Al-Qaida in Somalia!“

Manchmal obsiegte auch sein Witz. Bushs Anstrengungen, den US-Senat zum Einsatz von alternativen Foltermethoden bei Verhören zu bewegen, kommentierte Samaha so: „Man muss diesen alternativen Methoden nicht zustimmen. Bushs bloßer Anblick ist Folter genug.“

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Mit einem, nur mit einem seiner Editorials haderte ich. In „Der Papst des Neuen Krieges?“ kommentierte er die unsägliche Rede von Papst Benedikt XVI., in der dieser (und darüber bestand auch für mich kein Zweifel) in voller Absicht den Islam diffamiert hat. Samaha fragte in seiner Kolumne damals, ob dies ein weiterer Hinweis für einen Weltkrieg sei, der gegen die Region geführt werden solle.

Wieso Weltkrieg? „Weltkrieg“, „Krieg der Zivilisationen“, „Kampf der Kulturen“ und was es noch an Schlagwörtern gibt – das alles ist doch irrationaler Quatsch, dem nicht das Wort geredet werden darf. Wo bleibt denn der viel beschworene Zivilisations-Clash zwischen dem Hariri-Clan und Jacques Chirac? Samaha hörte sich meine Empörung in aller Gemütsruhe an und antwortete: Nein, Europa ist nicht fanatisch, Bush hingegen schon. Der kultiviert die Ideologie, dass sich die Welt in einem global zu führenden Krieg gegen den muslimischen Terror befindet. Daher handelt es sich eben doch um einen Kulturenkampf. Er sagte es leise und beobachtete nur, wie ich nachdenklich unschlüssig auf den Boden stierte.

Später las ich noch andere seiner Editorials und mir wurde klar, dass er auch Europa bis über beide Ohren in diesen Kulturenkampf verstrickt sah. So schrieb er zur Ankunft der europäischen Truppen im Südlibanon:

Wissen die europäischen Eliten um die kritische Natur und die Sensibilität der Situation? Wir sagen, das Einfachste, das passieren kann, ist, dass diese Truppen als ein nachträglicher, zusammengeschusterter ‚Kreuzzug’, geschickt von ‚König George’, kommen, um den ‚faschistischen Islam’ zu bekämpfen. Das ist nicht nur die einfachste Möglichkeit, sondern bereits die Wahrnehmung in den arabischen und islamischen Medien. In diesem Fall sind wir mit einer gefährlichen Eskalation in der Phase des ‚Clash of Civilizations’ konfrontiert, der als mythische Hypothese begann, um dann tagaus tagein an Glaubwürdigkeit zu gewinnen…

Das Verschulden sah er hauptsächlich in der Arroganz der Bush-Regierung und ihrer bedingungslosen Rückendeckung für Israel. Aber nicht nur: Paris trage Mitschuld und „die Ersetzung Gerhard Schröders durch Angela Merkel ergab eine klare Verschiebung hin zur US-Politik.“ Wie sehr sich Europa Bushs Philosophie angeschlossen habe, sehe man auch in Palästina. Nicht die dortige Besatzung, sondern „der Terrorismus“ sei auch für Europa das Problem. Also sei Europa bereit, das palästinensische Volk verhungern zu lassen, um es für seine demokratische Wahl der Hamas zu bestrafen.

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Bis dahin hatte ich die Entwicklungen nur aus einer Perspektive gesehen: Europas amtierende Politriege agiert zwischen Feigheit, Konzeptlosigkeit und eigener (mitunter höchstpersönlicher) Interessensverfechtung und erachtet daher den Schulterschluss mit „König George“ für ratsam. Letzteren muss die Welt zwar noch bis Januar 2009 ertragen – und wer weiß, was er bis dahin noch in Brand setzt –, doch dann kämen wohl die Demokraten an die Macht, die zwar keine grundsätzlich andere politische Gangart einschlagen, dafür aber einen respektvolleren, menschenwürdigeren Ton gegenüber den Muslimen, ihrer Kultur und Geschichte, anschlagen würden. Gelöst würde damit nichts, aber einiges vielleicht beruhigt. In der Zwischenzeit gelte es, die spezifischen Interessen zu beleuchten und nicht – bloß nicht – Irrationalitäten wie „Zivilisationskampf“ wiederzukäuen, die Menschen wie Bush, Cheney, Abrahams & Co. noch mehr Feld freischaufeln könnten.

Durch seine Kolumnen aber machte mir Samaha die arabische Lesart klar. Und die sieht ganz anders aus. Sie wurzelt im täglich Gelebtem. In dem, was die Menschen im Mittleren Osten hören und sehen, sobald sie den Fernseher einschalten, eine Zeitung aufschlagen oder – vor die Haustür treten. „50 Tote in Kabul“, „150 Tote in Bagdad“, „Europäisches Spionagenetz überwacht Hizbollah“, „USA richten Planungsgruppe für Angriff gegen Iran ein“. Und dazwischen der kleine nonchalante Fußtritt von Condoleezza Rice: Es gäbe keine Garantie dafür, dass es in George W. Bushs Amtszeit einen palästinensischen Staat geben würde.

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In unserem Gespräch damals schnitt Samaha nichts von alledem an. Er hielt sich zurück. Vielleicht weil er sah, wie sehr mich das Thema aufwühlt und weil er mich nicht in meinem „Europastolz“ verletzen wollte (was er nicht getan hätte). Vielleicht dachte er aber auch: Du darfst nicht nur von einer Seite lesen, aber darauf musst du von alleine kommen…

Ich habe damit angefangen, Joseph Samaha. Mithilfe deiner Kolumnen.

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Nun gibt es keine Samaha-Kolumnen mehr. Nie mehr. Was wird aus seiner Zeitung werden? Er hatte so viel vor. Er wollte die „Al-Akhbar“ als ein so vielschichtiges, so offenes Medium etablieren, dass ihr das größte aller Wagnisse gelingen würde: eines Tages auch einmal Nichtpolitisches auf der Titelseite zu bringen. Welche Zeitung auf der Welt schafft das ohne Leserverluste? Zumal in einer vom politischen Tagesgeschehen so ausgezehrten Region? Aber es war sein Traum. „Jetzt, wo das Fernsehen alles live kommentiert, kann man doch mal etwas anderes machen“, antwortete er und zog dabei die Schultern hoch wie ein kleiner Junge, der sich diebisch auf etwas freut.

Ich hätte es so gerne gesehen.

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Wen sollen wir jetzt lesen?

Wen soll ich jetzt fragen?

Arbeitsstationen von Joseph Samaha

1973-1977 Chefredakteur der Zeitschrift „Al-Hurriya“
1977-1980 Chefredakteur der Zeitung „Al-Watan“
1980-1983 Chefredakteur der bedeutenden linksnationalistischen Zeitung „As-Safir“
1983-1992 Chefredakteur der Yassir Arafat-nahen Zeitung „Al Yaum al-Sabe’h“ (in Paris)
1992-1996 Korrespondent in der panarabischen Zeitung „Al-Hayat“ (in Paris)
1996-1999 Stellvertretender Chefredakteur von „As-Safir“
1999-2001 Direktor des Beiruter Büros von „Al-Hayat“
2001-2005 Chefredakteur der Zeitung „As-Safir“
2006 Gründung von „Al-Akhbar“, deren Chefredakteur er war