J’accuse ohne Beweisfoto

Französisches Gesetz gegen Happy Slapping verbietet auch Bürger-Bildjournalismus

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Der Französische Verfassungsrat hat mit der Entscheidung Nummer 2007-553 einem Gesetz zugestimmt, das es strafbar macht, von Menschen durchgeführte Gewalttaten ohne Presseausweis zu filmen

Senatoren und Mitglieder der Nationalversammlung hatten das Gesetz dem Rat zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt. Umstritten waren neben dem Verbot von Gewaltaufnahmen auch Regelungen, die Sozialarbeiter zur Weitergabe von Daten verpflichten und Änderungen zum Strafmaß bei Jugendlichen. Der Rat monierte jedoch nur unbedeutende Details.

Was als Gesetz gegen Happy Slapping angekündigt wurde, ist tatsächlich so weit gefasst, dass auch von Bürgern getätigte Beweisaufnahmen von Polizeibrutalität darunter subsumiert werden können.

Art. 222-43-2. – Est constitutif d’un acte de complicité des atteintes volontaires à l’intégrité de la personne prévues par les articles 222-1 à 222-14-1 et 222-23 à 222-31 et est puni des peines prévues par ces articles le fait d’enregistrer sciemment par quelque moyen que ce soit, sur tout support que ce soit, des images relatives à la commission de ces infractions.

« Le fait de diffuser l’enregistrement de telles images est puni de cinq ans d’emprisonnement et 75 000 € d’amende.

« Le présent article n’est pas applicable lorsque l’enregistrement ou la diffusion résulte de l’exercice normal d’une profession ayant pour objet d’informer le public ou est réalisé afin de servir de preuve en justice.

Veröffentlicht wurde die Entscheidung ausgerechnet am 3. März, dem Jahrestag der vom Amateurfilmer George Holliday aufgenommenen gewalttätigen Verhaftung von Rodney King, deren Ausstrahlung 1991 in Zusammenhang mit einem Freispruch ein Jahr später die Los Angeles Riots auslöste.

Auch in Frankreich gibt es immer wieder Fälle von Polizeibrutalität. Pascal Cohet, Sprecher der Bürgerrechtsgruppe Ligue Odebi (der Name ist ein Wortspiel mit dem französischen Ausdruck für einen Breitbandzugang), sieht George Holliday mit einem Bein im Gefängnis, würde er das, was er 1991 in Los Angeles gemacht hat, nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes in Frankreich wiederholen. Mit fünf Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe in Höhe von bis zu 75.000 € drohen ihm dabei sogar weit höhere Strafen als sie Gewalttäter zu erwarten haben. ,

Erweitertes Paperclipping

Das von Innenminister Sarkozy eingebrachte Gesetz wurde der Öffentlichkeit als Maßnahme gegen Happy Slapping verkauft. Cohet vermutet hinter der sehr breiten Formulierung keinen gesetzgeberischen Dilletantismus, sondern Absicht. Tatsächlich wäre es für den französischen Gesetzgeber durchaus möglich gewesen, den Kreis der von Strafe bedrohten Personen um Bürgerjournalisten zu verringern, ohne dabei den Happy Slappern ein allzu großes Schlupfloch zu lassen – etwa indem die Beziehung zum Gewalttäter oder andere Umstände als Kriterien in den Gesetzestext mit aufgenommen worden wären.

Wenn Cohet mit seiner Vermutung recht hat, dann wäre das Gesetz ein Beispiel für eine sich immer mehr verbreitende gesetzgeberische Praxis, die man in den USA erweitertes Paperclipping nennt: In ein unverdächtig klingendes Gesetzvorhaben, das gegenüber einer breiten Öffentlichkeit kein Misstrauen erregt, werden Formulierungen versteckt, die ganz andere Konsequenzen als die öffentlich propagierten haben.

Bemerkt werden solche Vorgänge aufgrund des Umfangs der Texte und der Tücke juristischer Formulierungen oft erst nach Erlass der Gesetze. Politiker können auf diese Weise auch nicht mehrheitsfähige Agenden durchsetzen. Heimische Beispiele hierfür sind die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, die als Richtlinie zur Terrorbekämpfung debattiert wurde, und nun als Richtlinie gegen alle mittels Telekommunikation begangenen Straftaten umgesetzt werden soll, oder der bayerische Entwurf zu einem Verbot von "Killerspielen", der auch dem Verleih von Erotikfilmen den Garaus machen würde.

Die französische Regierung plant außerdem ein Zertifizierungssystem für Websites, Bloghoster, Mobilfunkdienste und Internet-Provider einzuführen, die - wenn sie sich an bestimmte Regeln halten - als staatlich anerkannte Informationsquellen gelten. Der Journalistenverband Reporters sans frontières warnte davor, dass dieses System die Pressefreiheit gefährde und zu einem Klima führe, bei dem die „Schere im Kopf“ den Zensor ersetze, weil die Organisationen auf die Berichterstattung zu heiklen Themen verzichten könnten, wenn sie um ihre Zulassung fürchten müssen.