Verkrampfte Perfektionisten

Ist die deutsche Familienkultur zu sehr auf das Kind fixiert?

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Und es gibt sie doch: interessante Blickwinkel zur Debatte darüber, weshalb die Deutschen weniger Kinder zur Welt bringen als andere europäische Staatsbürger, allen voran die französischen. Nach der Auffassung eines deutschen Soziologen ist die demografische Ausnahmestellung Frankreichs nur an der Oberfläche mit der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung der Eltern, etwa mit Krippenplätzen, von denen in jüngster Zeit viel die Rede ist, zu erklären. Das institutionelle Instrumentarium sei lediglich Ausdruck eines größeren Zusammenhangs. Der Schlüssel für die demografische Entwicklung, so der Soziologe Trutz von Trotha, sei woanders zu finden: in der „Familienkultur“ nämlich. Und die sei in Frankreich anders als hierzulande „weniger kindzentriert“.

„In Frankreich wird weniger Aufhebens um Kinder gemacht. Sie gehören selbstverständlicher dazu. Und es dreht sich nicht alles um sie.“ Möglich, dass Trotha in seiner Diagnose auf solche Erfahrungen abhebt, wie sie ein Freund, der in Montpellier lebt, in einem Gespräch vor kurzem geäußert hat, in dem er sich über deutsche Eltern auslies, deren geistige Interessen seit der Geburt der Kinder nur mehr um den Nachwuchs kreisen würden.

Um die Akzentverschiebung in der Familie der Gegenwart deutlich zu machen, stellt ihr Trotha nochmal ihren historischen Vorläufer gegenüber: Das „Ganze Haus“ der vor-und frühzeitlichen Welt, wo „Haus, Hof, die Abfolge der Generationen, die Dauerhaftigkeit des väterlichen Namens, die Sicherung des Lebensunterhalts und der Schutz der Familie und manches Verwandten im Mittelpunkt des Lebens der Familie“ standen. Die bürgerliche und besonders die nachbürgerliche Familie hätten mit diesen Verhältnissen Schluss gemacht, die Familie sei kindzentriert geworden – in Deutschland sogar „in einer historisch einzigartigen Radikalität“.

Die Romantik spiele hier eine gewisse Rolle, was sich dann auch an den gegenwärtigen Erscheinungsbildern der kindzentrierten Familie ablesen lasse. Hervorgehoben wird von Trotha hier die „historisch einzigartige Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehung“; als weitere Phänomene nennt er „die Verringerung der Kinderzahl auf das Geschwisterpaar, die Entstehung einer eigenständigen Kinderwelt, die Verschulung der Familie, mit der in wachsendem Maße die Eltern als Hilfslehrer der Schullehrerinnen und -lehrer begriffen werden, oder die Veränderung der elterlichen Erziehungspraktiken“.

Der interessante Punkt, den Trotha mit seiner kurzen historischen Entwicklungsskizze ansteuert, ist folgender: Die Kindzentrierung und der pädagogische Perfektionsanspruch, der sich quasi als siamesischer Zwilling zu ihr gesellt, führe zur Überforderung aller Familienmitglieder, des Kindes, der Mutter, in der jüngsten Zeit auch des Vaters - und: sie sei demographisch dadurch „am folgenreichsten“ geworden, „dass sie in ihrem Schoß eine gegenläufige Entwicklung geboren hat, die Kinddezentrierung, für welche die kinderlosen ausbildungs- und mobilitätsbewussten Akademiker - mit den Journalistinnen und Journalisten an erster Stelle - beispielhaft sind.“

In Frankreich habe man diese beiden Extreme vermieden und ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen den Polen totale Konzentration auf das Kind (Kindzentrierung) und völlige Ignoranz von Kindern („Komm uns doch besuchen, aber möglichst ohne Schrazen“) gefunden, so die Behauptung Trothas, der Familie und Verwandschaft in Frankreich anders verankert sieht. Seine These begründet er zum einen mit den weitaus höheren Zahlen von erwerbstätigen Müttern und zum anderen mit Studien und Beobachtungen, die einen Mentalitätsunterschied zwischen deutschen und französischen Müttern sichtbar machen.

So habe etwa eine Studie (aus dem Jahr 2003), welche u.a. „die Stile des Gebärens und die Gesprächsthemen“ von französischen und deutschen Müttern, die ihr erstes Kind geboren hatten, ergeben, dass die französischen Mütter weniger kindzentriert waren. Dem fügt Trotha noch Unterschiede in der unterschiedlichen Bewertung des Stillens an, in der unterschiedlichen Orientierung auf Schlafbedürfnisse des Kindes, die von französischen Müttern seiner Beobachtung nach dezidierter auf eigene Interessen abgestimmt werden und ähnliches mehr:

Typisch für deutsche Frauen ist gleichfalls die Angst, symbolträchtige Augenblicke wie den ersten Schritt oder das erste Wort des Kindes zu verpassen. Auch ist rationales Abwägen zwischen den Bedürfnissen der Mutter und des Kindes in Frankreich eher möglich. Rationales Abwägen ist in der deutschen Familienkultur eine Sache, bevor die Kinder geboren sind - mit der Folge, dass die Kinder erst gar nicht oder in fortgeschrittenerem Alter geboren werden.

Demgegenüber werden in Frankreich wieder mehr Kinder von jungen Paaren zwischen 25 und 35 in die Welt gesetzt, so der Nouvel Observateur, der vor einer Woche das französische Baby-Wunder in einem Extradossier feierte: Im letzten Jahr wurden dort 800.000 Babys geboren, darüber hinaus ist die magische Marke der Demografen geschafft: 2,1 Kinder pro Frau, der Nachwuchs gesichert: „Le renouvellement des générations est assuré.“ Auch hier wird gerne der Vergleich mit Deutschland bemüht: Während in Frankreich eine von zehn Frauen ohne Kinder bleibe, sind es im Nachbarland 25 Prozent. Und Soziologen wie Arnaud Régnier-Loilier bestätigen Annahmen von Trotha, wonach die französische Auffassung von Familie dafür mitentscheidend sei:

In Frankreich überzeugt das Modell des Einzelkindes nicht: Man schätzt es als traurig ein und fürchtet, dass es nur Egoismus generiert. Für unsere Mitbürger (compatriotes) muss eine Familie aus Geschwistern bestehen. Je zahlreicher die sind, desto größer ist die Wertschätzung.

Wer da vor allem staubigen konservativen Geist am Werke sieht, muss sich allerdings mit einem widersprüchlichen Fakt auseinandersetzen: der großen gesellschaftlichen Akzeptanz von Kindern, die unehelich geboren werden bzw. in eine Patchwork-Familie („famille recomposée“) eingebracht werden. Die Scheidungsrate ist auch in Frankreich sehr hoch. Und was den „neuen fürsorglichen Mann“ angeht (vgl. Das bisschen Haushalt...): Auch im Nachbarland wird darüber diskutiert, ob ihm die neue Rolle nicht zu viel an Männlichkeit nimmt – „Papa poule“ heißt der entsprechende Schmähbegriff.