Selbstbezichtigung zur Sterbehilfe in Frankreich

2.134 Mediziner und Pfleger bekennen sich dazu, illegal Sterbehilfe geleistet zu haben, wenden sich gegen die Kriminalisierung und fordern Reformen

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Heute beginnt in der französischen Stadt Périgueux der Prozess gegen eine Ärztin und eine Pflegerin. Sie sollen 2003 einer Patientin auf ausdrücklichen Wunsch beim Sterben geholfen haben. In den französischen Wahlkampf brachen vor Prozessbeginn am Donnerstag 2.134 Ärzte und Krankenpfleger ein. Sie fordern mit einer Selbstbezichtigung die Einstellung des Verfahrens, das die Angeklagten mit einer Haftstrafe von bis zu 30 Jahren bedroht. Sie zwingen mit der Kampagne die Präsidentschaftskandidaten zur Positionierung. Eine Liberalisierung der Sterbehilfe wie in Holland, Belgien und in der Schweiz wird auch in anderen europäischen Ländern gefordert. Konservative in Deutschland befürchten eine Aufweichung über die anstehende Debatte im Bundestag über Bindungswirkung von Patientenverfügungen.

Mit einem Manifest, das gleichzeitig in der südwestfranzösischen Tageszeitung Sud Ouest und der Pariser Zeitschrift Nouvel Observateur veröffentlicht wurde, haben sich die Ärzte und Krankenpfleger selbst bezichtigt, Sterbehilfe geleistet zu haben. Viele Menschen haben sich mit ihrer Unterschrift mit dem Anliegen am Donnerstag auf den Webseiten des Nouvel Observateur solidarisiert.

Weil es sicher war, dass die Krankheit unsere Therapien besiegen wird, weil trotz der eingeleiteten Behandlung die physischen und psychischen Leiden das Leben für den Patienten unerträglich machten,und weil der Kranke es beenden wollte, haben wir als Pflegende bewusst den Patienten medizinisch geholfen, in Würde zu sterben.

Die Debatte um die Sterbehilfe ist damit in Frankreich erneut in aller Breite eröffnet. Dass der Vorstoß, der an die Selbstbezichtigungen von Frauen gegen die einst noch strafbare Abtreibung erinnert, gerade jetzt kommt, ist kein Zufall. Zwei Faktoren spielen eine besondere Rolle: Vom kommenden Montag bis Freitag wird Laurence Tramois und Chantal Chanel in der idyllischen südwestfranzösischen Stadt Périgueux der Prozess gemacht. Der Ärztin und der Pflegerin wird vorgeworfen, am 23. August 2003 im kleinen Hospital von Saint-Astier (Périgord) das Leben von Paulette Druais mit einer Injektion Kaliumchlorid beendet zu haben. Sie hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs und befand sich im Endstadium. Die beiden Frauen wurden von einer Vorgesetzen angezeigt, weil sie die Patientin vergiftet haben sollen, und sehen nun einer möglichen Haftstrafe von bis zu 30 Jahren entgegen. Die Unterzeichner solidarisieren sich mit ihnen und erklären: "Wir fordern die sofortige Einstellung aller gerichtlicher Verfahren gegen Ärzte und Pflegekräfte."

Der zweite Faktor sind die Präsidentschaftswahlen im Mai in Frankreich. Mit dem Manifest wird deshalb auch erneut eine Gesetzesreform gefordert und soll die Debatte darüber eröffnet werden, erklärte der Arzt Denis Labayle, der die Initiative angetrieben hat. "Der Fall Tramois hat das Fass zum Überlaufen gebracht."

Die jüngste Reform, erst seit April 2005 in Kraft, gehe an der medizinischen Realität vorbei. Auch das "Loi Leonetti" sei "unverändert repressiv und ungerecht“, wie neue Strafverfahren zeigten. Auch unter dem Leonetti-Gesetz ist eine aktive Sterbehilfe in Frankreich verboten. Erlaubt ist nur, die Behandlung mit technischen Hilfsmitteln auf Wunsch des Betroffenen oder seiner Angehörigen abzubrechen. Gefordert wird, sich an gesetzlichen Regelungen zu orientieren, wie sie schon in der Schweiz, den Niederlanden und Belgien bestehen. Dort ist aktive Sterbehilfe oder Beihilfe zur Selbsttötung unter bestimmten Voraussetzungen straffrei. Gefordert wird auch mehr Geld, um die Sterbenden entsprechend und würdig begleiten zu können.

Das Recht zu sterben

Den Initiatoren, deren Kampagne schon seit Monaten läuft, ist es bereits gelungen, die wichtigsten Präsidentschaftskandidaten zu Positionierung zwingen. Der konservative Nicolas Sarkozy erklärte: "Das Leiden muss eine Grenze haben." Man könne nicht untätig bleiben, wenn jemand darum bitte, sterben zu dürfen, weil er das Leiden nicht mehr erträgt. Wie seine sozialistische Gegenspielerin ist er bereit dazu, die Debatte über das Thema erneut zu beginnen. Ségolène Royal will einen Gesetzesentwurf vorlegen, der es Medizinern erlaubt, auf Wunsch todkranker Patienten das Leiden zu verkürzen. Ihre Sozialistische Partei (PS) nimmt Bezug auf den Fall "Vincent Humbert“, dessen Name das Gesetz tragen soll.

Der Fall des 19jährigen Feuerwehrmanns war der Hintergrund, vor dem die Konservativen die zaghafte Reform 2005 verabschiedeten. Humbert war bei einem Unfall schwer verletzt worden und lag monatelang im Koma. Als er wieder zu Bewusstsein kam, war er gelähmt, stumm und fast blind. Er bat in einem Brief den Staatspräsidenten Jacques Chirac darum, sein "Recht zu sterben“ ausüben zu können. Da dies die Gesetzeslage verbot, spritzte ihm seine Mutter drei Jahre nach dem Unfall 2003 ein starkes Schlafmittel, das bei zu hoher Dosierung leicht zum Tod führt. Der mit der Wiederbelebung betraute Arzt stoppte auf den Wunsch der Mutter das Beatmungsgerät. Dem großen Aufsehen des Falls ist es zu verdanken, dass das Verfahren gegen den Arzt und die Mutter vor einem Jahr eingestellt wurde.

Es sind derlei Fälle, welche die Gesetzgeber erst unter Handlungsdruck bringen. In Spanien war es der Fall von Ramón Sampedro. Der Galizier kämpfte Jahrzehnte darum, endlich sterben zu können. Sein Fall ist im Film "Mar adentro" (Das Meer in mir) dokumentiert. Noch scheuen sich die Sozialisten in Spanien aber, wegen des starken Drucks der Kirche und der Konservativen, die Sterbehilfe zu entkriminalisieren. Eine Reform des Strafgesetzbuchs, dassBeihilfe zum Suizid mit bis zu zehn Jahren Haft ahndet, sei erst nach einem erneuten Wahlsieg im kommenden Jahr möglich.

Allerdings hatte der Fall von Sampedro Auswirkungen darauf, dass sich Inmaculada Echevarría gerade das Recht auf den eigenen Tod erstritten hat. Die 51-Jährige leidet seit Jahrzehnten an einer Erbkrankheit, die Muskelschwund verursacht, und ist ans Bett gefesselt. Die Ethikkommission im Krankenhaus von Granada, in dem sie seit zehn Jahren an einem Beatmungsgerät hängt, und ein Beratungsteam der andalusischen Regionalregierung kamen zu dem Ergebnis, dass ihrem Wunsch zu sterben nachgekommen werden soll. Dass die Beatmung auf ihren Wunsch abgeschaltet wird, sei ,,das Beste‘‘, was ihr je passiert sei, kommentierte Echevarria den Beschluss, während die katholische Kirche weiter heftig protestiert.

Auch in Deutschland steht eine verbindliche Regelung an

Dass in Deutschland die Debatte unter dem Begriff "Euthanasie" geführt werden könnte, wie in Frankreich oder Spanien, ist undenkbar. Der Begriff verbietet sich in der Diskussion in Deutschland, weil unter ihm der Massenmord, die so genannte Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, im Nationalsozialismus betrieben wurde. Dieses furchtbare Erbe erschwert aber auch die Debatte um aktive Sterbehilfe in Deutschland zusätzlich. Sie ist nach § 216 des Strafgesetzbuches verboten und wird mit sechs Monaten bis zu fünf Jahren Haft geahndet.

Da die passive Sterbehilfe nicht ausdrücklich geregelt ist, gibt es die Möglichkeit, über eine Patientenverfügung vorzubeugen. Das haben aber bisher nur etwa zehn Prozent getan. Knapp die Hälfte der Bundesbürger weiß offenbar nicht einmal, was eine Patientenverfügung ist. Darin kann festgelegt werden, ab welchem Punkt man das eigene Leben bei einer schweren Verletzung oder Krankheit nicht mehr als lebenswert ansieht. Festgelegt werden kann darin auch, wie man sterben will. Der Arzt muss oder sollte sich daran halten, solange keine aktive Sterbehilfe von ihm verlangt wird. Doch in der Praxis liegt ihm in einer Notfallsituationen selten der Willen des Patienten vor.

Dazu kommt, dass es nicht rechtlich geregelt ist, wie eine Patientenverfügung auszusehen hat. Das sorgt zusätzlich für Unklarheit und Unsicherheit. Gefordert wird deshalb seit Jahren, die Bindungswirkung für die Patientenverfügungen gesetzlich zu regeln. Das hatte zuletzt auch der Deutsche Juristentag im vergangenen September gefordert. Verwiesen wird auch auf Beschlüsse des Bundesgerichtshofs. Im Bundestag wurde bereits die Vorlage zweier Entwürfe zu einer gesetzlichen Regelung angekündigt, mit denen er sich noch vor Ostern befassen soll.

Die sozialdemokratische Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) kündigte an, die Reichweite von Patientenverfügungen möglichst wenig zu beschränken. Dahinter vermuten Konservative, wie die Christdemokraten für das Leben, eine geplante Ausweitung der Sterbehilfe. CDL-Bundesvorsitzende Mechthild Löhr spricht von einem "deutlich erkennbaren Irrweg" hin zu "einer Öffnung und Zulassung der Sterbehilfe oder des ärztlich assistierten Suizids", der man nicht folgen dürfe. Die CDL benutzt auf ihren Webseiten auch in schlechter Polemik den Begriff "Euthanasie". Sie scheut sich auch nicht, einen Bezug zwischen der Sterbehilfe und der NS-Vernichtungspolitik herzustellen.