Leben oder sterben lassen?

Fragen Sie nicht die Verwandten, fragen Sie den Computer - empfehlen US-Mediziner

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Angenommen, Sie haben einen schweren Herzinfarkt erlitten. Sie liegen im Koma und können nur mit Hilfe einer Maschine atmen. Nach ein paar Monaten in dieser Situation erwarten Ihre Ärzte keinerlei Besserung der Lage mehr. Wenn nun plötzlich Ihr Herzschlag aussetzte - würden Sie dann wiederbelebenden Maßnahmen zustimmen? Mit solchen „Was wäre, wenn“-Fragen versuchen Wissenschaftler, einer im Zeitalter der Apparatemedizin immer wichtigeren Frage nachzuspüren: Wem steht die Entscheidung über Leben und Sterbenlassen zu?

Wenn der Patient selbst sich nicht mehr äußern kann und eine Patientenverfügung fehlt, sind in der Praxis Verwandte, Eltern oder Ehepartner gefragt. Diesen Ersatzpersonen fällt dann die Aufgabe zu, im Sinne der geliebten, aber nicht mehr ansprechbaren Person zu entscheiden - eine nur schwer objektiv lösbare Aufgabe, weil natürlich auch eigene Motive und akuter Stress das Ergebnis beeinflussen. Selbst wenn der Betreffende das realisiert, heißt das noch nicht, dass er auch davon abstrahieren kann. Wie gut die Entscheidungen der Angehörigen tatsächlich mit den Wünschen des Patienten übereinstimmen, lässt sich im Ernstfall nicht mehr ermitteln.

Die Frage ist aber zumindest theoretisch vorab zu diskutieren. Die amerikanischen Wissenschaftler David Shalowitz, Elizabeth Garrett-Mayer und David Wendler haben kürzlich in einer Metastudie 16 Arbeiten verglichen, die sich genau dieser Diskussion widmen. In der Regel wurden dabei Studienteilnehmer und deren Angehörige mit den selben Fragen konfrontiert - mit dem Ziel herauszufinden, wie gut die Angehörigen die tatsächlichen Behandlungswünsche der Studienteilnehmer kannten.

Dabei zeigte sich, dass nur in gut zwei Dritteln der Fälle die Einschätzung von Patient und Ersatz-Person übereinstimmte. Das Resultat verbessert sich auch nicht, wenn der potenzielle Patient selbst festlegen darf, wer über ihn entscheiden darf. Ärzte schnitten übrigens noch schlechter dabei ab, die wahren Behandlungswünsche von Patienten zu erraten.

Gibt es eine Alternative? Shalowitz, Garrett-Mayer und Wendler meinen, eine gefunden zu haben. In einer Arbeit, die online in der Medizin-Abteilung der Public Library of Science (PloS) zu lesen ist, schlagen sie vor, doch besser den Computer zu fragen. Und zwar nach einem ganz bestimmten Schema: Nämlich anhand der Frage, wie ein vergleichbarer Mensch in derselben Situation entscheiden würde.

Tatsächlich ist es so, dass Menschen in dieser Frage ziemlich ähnlich ticken. Vor allem entscheiden sie nach dem zu erwartenden Ergebnis: Wenn noch ein gesundheitlich akzeptabler Zustand erreichbar ist, wünschen fast alle Patienten jede mögliche Intervention. Dabei reicht den meisten Befragten sogar eine nur einprozentige Chance. Wenn diese Möglichkeit aber gar nicht mehr besteht, möchten die meisten auf solche Eingriffe verzichten. Allein aus bekannten Daten, welche Zustände der Durchschnitts-Patient noch als akzeptabel empfindet, ließe sich, zeigen die drei Forscher in ihrer Arbeit, mit Hilfe des Computers eine Entscheidung treffen, die genauso exakt ist wie die Entscheidung der Angehörigen.

Gelänge es, das Computermodell auf eine bessere Datenbasis zu stellen, ließe sich die EDV-gestützte Prognose sogar noch erheblich verbessern. Es geht den Wissenschaftlern allerdings nicht darum, dass die Herz-Lungen-Maschine in Zukunft automatisch ihre Arbeit einstellt, wenn der Computer den passenden Zeitpunkt errechnet hat. Es könnte aber für den behandelnden Arzt wichtig zu wissen sein, dass 90 Prozent aller vergleichbaren Patienten in bestimmter Situation nicht mehr intubiert werden wollen. Auch den Verwandten würde so die Entscheidung womöglich erleichtert.

Überhaupt wäre noch zu klären, inwieweit die Betroffenen die Verfügungsgewalt über das Leben eines geliebten Menschen eher belastet - oder sogar bei der Verarbeitung dieser tragischen Ereignisse nützt.