Gewaltbereitschaft kann auch durch Lektüre von Texten verstärkt werden

Nach einer Studie, die die Wirkung von Gewaltdarstellungen in der Bibel untersuchte, können nicht nur Filme oder Computerspiele aggressiver machen, sondern auch durch Gott sanktionierte Gewalt in Texten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wenn ein Gott im Spiel ist, dann kann vieles einfacher geschehen, weil der moralische Druck oder auch die Legitimität für den Gläubigen von der überweltlichen Instanz kommt. Nach einer Studie von Psychologen der University of Michigan, der Vrije Universiteit, Amsterdam, und der Brigham Young University verstärkt auch das Lesen von Heiligen Schriften, in denen Gewalt gerechtfertigt ist, die Aggression. Bislang standen hier fast ausschließlich Filme und Computerspiele am Pranger, woran sich auch die Voreingenommenheit der Forschung ablesen lassen könnte, die bislang in der Gewaltforschung Schriftmedien beiseite gelassen und sich auf die Bildmedien konzentriert hat, die wegen ihrer visuellen Darstellungen scheinbar realistischer sind und daher als gefährlicher gelten.

Die Angst vor dem Bild ist alt und bereits in die Religionen eingeschrieben. Wort und Schrift scheinen weniger gefährlich zu sein, da es keine Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten im Unterschied zum Visuellen gibt. Natürlich hat es auch immer Zensur gegeben, also auch eine Angst vor dem, was Worte und Texte evozieren können. Aber Bilder galten doch immer als gefährlicher, weil sie die Menschen angeblich direkter berühren und verführen. Daher wurde nicht nur ein Bilderverbot verhängt oder kam es verschiedentlich zu Bilderstürmen, sondern konnten Bilder auch als Propaganda- und Erziehungsmittel eingesetzt werden, wenn beispielsweise die Schrift wie die Bibel in lateinischer Sprache für die meisten unzugänglich war und dies auch bleiben sollte, damit die Deutungshoheit gewahrt blieb.

Die Wissenschaftler weisen in „When God Sanctions Killing. Effects of Scriptural Violence on Aggression“ (Psychological Science. Volume 18, Nr. 3) darauf hin, dass besonders dann, wenn Textstellen aus Heiligen Schriften wie der Bibel oder dem Koran aus ihrem Kontext gerissen werden, diese leicht als Rechtfertigung von oder gar Aufruf zur Gewalt interpretiert werden können. Auf der anderen Seite wird Gewalt gerne von den Tätern durch die Behauptung gerechtfertigt, Gott habe sie befohlen oder rechtfertige sie. Wenn der Segen von oben kommt, sind die Täter aus dem Schneider und nur willige Vollstrecker des göttlichen Willens, der von den jeweiligen irdischen Interessenten nach ihrem Willen ausgelegt wird. Dass der Koran zur Rechtfertigung von Gewalt benutzt werden kann, zeigen die islamistischen Terroristen. Auch die Christen habe eine lange Geschichte, Pogrome und Kriege mit der Religion zu begründen oder von Gott segnen zu lassen. Schließlich sind auch dem "Globalen Krieg gegen den Terrorismus" religiöse Motive eingearbeitet, auch wenn US-Präsident Bush schnell nicht mehr von einem "Kreuzzug" gesprochen hat.

Die Wirkung von Gewaltdarstellungen in Filmen oder Computerspielen wird oft an Vergleichsgruppen getestet, um zu sehen, ob die Zuschauer bzw. Spieler, die mit Gewaltdarstellungen bzw. –aktionen konfrontiert sind, gewaltbereiter reagieren als diejenigen, die keine solchen Produkte vorgesetzt bekommen oder sie gemeinhin weniger sehen bzw. spielen. Wie sinnvoll ein solcher Ansatz ist, sei dahingestellt, jedenfalls haben die Wissenschaftler zum Testen der Hypothese, ob Gewaltdarstellungen in der Bibel die Gewaltbereitschaft erhöhen, mit eben diesem Ansatz gearbeitet.

Die Psychologen und Sozialwissenschaftler haben zwei voneinander unabhängige Studien einmal mit US-amerikanischen und einmal mit holländischen Studenten durchgeführt. Das ist auch deswegen interessant, weil bei den amerikanischen Versuchspersonen 99 Prozent angaben, an Gott und die Bibel zu glauben. Bei den holländischen Studenten glaubten 50 Prozent an Gott und nur 27 Prozent an die Bibel. In beiden Fällen wurde den Versuchspersonen ein Text zum Lesen vorgelegt. Jeweils der einen Hälfte der Versuchspersonen wurde gesagt, es handele sich um Passagen aus dem "Buch der Richter", Kap. 19-21, im Alten Testament, der anderen Hälfte wurde erzählt, er stamme von einer Schriftrolle, die 1984 im Wadi Al-Murabba ‘ah gefunden wurde.

Bei der Geschichts aus dem "Buch der Richter" geht es um einen Levitaner, der sich eine Nebenfrau (Konkubine) aus Betlehem genommen hat. Sie floh eines Tages – "erzürnt" – und kehrte zurück zu ihrem Vater. Der Mann kam zum Haus des Vaters, hielt sich dort eine Weile auf und zog dann wieder mit der Nebenfrau weiter. In Gibea, das von Israeliten des Stamms Benjamin bewohnt war, wollte sie niemand aufnehmen, bis schließlich ein alter Mann ihnen Unterkunft für die Nacht bot. Des Nachts aber kamen die aufgebrachten Bewohner:

Und als ihr Herz nun guter Dinge war, siehe, da kamen die Leute der Stadt, ruchlose Männer, und umstellten das Haus und pochten an die Tür und sprachen zu dem alten Mann, dem Hauswirt: Gib den Mann heraus, der in dein Haus gekommen ist, daß wir uns über ihn hermachen.

23Aber der Mann, der Hauswirt, ging zu ihnen hinaus und sprach zu ihnen: Nicht, meine Brüder, tut doch nicht solch ein Unrecht! Nachdem dieser Mann in mein Haus gekommen ist, tut nicht solch eine Schandtat! 24Siehe, ich habe eine Tochter, noch eine Jungfrau, und dieser hat eine Nebenfrau; die will ich euch herausbringen. Die könnt ihr schänden und mit ihnen tun, was euch gefällt, aber an diesem Mann tut nicht solch eine Schandtat!

25Aber die Leute wollten nicht auf ihn hören. Da fasste der Mann seine Nebenfrau und brachte sie zu ihnen hinaus. Die machten sich über sie her und trieben ihren Mutwillen mit ihr die ganze Nacht bis an den Morgen. Und als die Morgenröte anbrach, ließen sie sie gehen.

26Da kam die Frau, als der Morgen anbrach, und fiel hin vor der Tür des Hauses, in dem ihr Herr war, und lag da, bis es licht wurde.

27Als nun ihr Herr am Morgen aufstand und die Tür des Hauses auftat und herausging, um seines Weges zu ziehen, siehe, da lag seine Nebenfrau vor der Tür des Hauses, die Hände auf der Schwelle.

28Er sprach zu ihr: Steh auf, lass uns ziehen! Aber sie antwortete nicht. Da legte er sie auf den Esel, machte sich auf und zog an seinen Ort.

29Als er nun heimkam, nahm er ein Messer, fasste seine Nebenfrau und zerstückelte sie Glied für Glied in zwölf Stücke und sandte sie in das ganze Gebiet Israels. b 30Wer das sah, der sprach: cSolches ist nicht geschehen noch gesehen, seitdem Israel aus Ägyptenland gezogen ist, bis auf diesen Tag. Nun denkt darüber nach, beratet und sprecht!

Danach, so geht die Geschichte weiter, kam es zu einer Versammlung aller Israeliten, die über den Mob von Gibea entsetzt waren. Für die Hälfte der Versuchspersonen wurde die Geschichte so weiter erzählt, dass Gott den Israeliten befohlen habe, gegen ihre Brüder in den Krieg zu ziehen und sie wegen ihrer Untat zu züchtigen. Bei der anderen Hälfte wurde der Befehl Gottes nicht erwähnt. Für beide Gruppen wurde dann weiter erzählt, dass die Israeliten in den Krieg zogen, bei dem Zigtausende umkamen, bis schließlich Gibea und andere Städte des Stamms Benjamin zerstört und alle ihre Einwohner, Männer, Frauen und Kinder, getötet wurden.

Anschließend wurde den Versuchspersonen gesagt, dass sie einen Reaktionstest im Wettkampf mit anderen machen sollten, der aber als Aggressionstest diente. Dabei sollten sie und ihr Testpartner bei 25 Versuchen so schnell als möglich einen Knopf drücken. Wer langsamer war, würde Krach über seine Kopfhörer erhalten. Die Versuchspersonen konnten zu Beginn die Lautstärke bis zu 105 dB einstellen, die der andere hören würde, sodass sie gewissermaßen eine Waffe kontrollieren konnten. Es gab auch eine nicht-aggressive Option mit keinem Ton. Für die fiktiven "Partner" wurden zufällige Einstellungen gewählt. Die Versuchspersonen, gleich ob Gläubige oder nicht, die die Rechtfertigung durch Gott für die Gewalt gelesen hatten, zeigten sich als aggressiver als die Kontrollgruppe und gaben den „Verlierern“ lautere Lärmbotschaften. Bei den Gläubigen war die Aggressivität noch höher.

In dem Test, der mit den amerikanischen Studenten durchgeführt wurde, die praktisch alle an Gott und die Bibel glaubten, wurde dieses Ergebnis bestätigt. Es zeigte, dass die gläubigen Versuchspersonen aggressiver beim „Reaktionstest“ agierten, denen gesagt wurde, die Textpassage stamme aus der Bibel, während diejenigen, die glaubten, er käme von der Schriftrolle, weniger aggressiv waren. Zudem waren die Studenten auch hier aggressiver beim anschließenden Test, die den Abschnitt lesen konnten, dass Gott hinter der Strafaktion steht.

Rechtfertigung durch eine höhere Instanz

Brad Bushman, der Leiter des Teams, sieht dadurch die Ergebnisse früherer Untersuchungen bestätigt, dass „die Aussetzung an Mediengewalt Menschen dazu bringt, sich aggressiver zu verhalten, wenn sie sich mit gewalttätigen Charakteren identifizieren, als wenn sie das nicht tun“. Da die Untersuchung zeige, dass auch schriftliche Darstellungen die Gewaltbereitschaft fördern können, vermutet Bushman, dass Gewaltdarstellungen in heiligen Schriften Extremisten bestärken können, aggressive Handlungen zu begehen, wenn dies schon bei den studentischen Versuchspersonen der Fall ist, die angaben, nicht an Gott zu glauben. Das weise auf die „heimtückische Macht“ hin, die von schriftlichen Gewaltdarstellungen ausgeht.

Die Psychologen wollen nicht sagen, dass die Lektüre von Gewaltdarstellungen in heiligen Schriften notwendig zur Gewalt führt, da sie oft moralische Lehren mitteilen und die Leiden der Opfer oder das Schuldgefühl der Täter vermitteln: „Aber wenn man eine einzelne Episode mit Gewaltinhalt aus dem Gesamtzusammenhang nimmt, wie wir dies in unserer Studie gemacht haben, dann kann dies eine signifikante Erhöhung der Aggression bewirken.“ Extremisten würden dazu neigen, meinen die Psychologen, über längere Zeit nur bestimmte Textabschnitte zu lesen, die sich mit von Gott gerechtfertigter Gewalt gegen Ungläubige beschäftigen. Das würde die Brutalität verstärken. Die allgemeine Schlussfolgerung: "Menschen, die glauben, dass Gott Gewalt rechtfertigt, verhalten sich selbst mit höherer Wahrscheinlichkeit aggressiv."

Im Auge haben die Psychologen alle religiösen Extremisten, sehen aber wohl ihre Ergebnisse durch die Islamisten bestätigt, die sich durch ihre entsprechend zurechtgeschnittene Religion gerechtfertigt sehen, andere Menschen – Ungläubige und Verräter - zu töten. Ob nun auch schriftliche Darstellungen ebenso wie Filme oder interaktive Medien die Gewaltbereitschaft fördern, ist sicher eine interessante Perspektive, um aus der Einseitigkeit der Kritik an der durch bestimmte Medien angeblich bewirkten Gewalt heraustreten und einen differenzierteren Blick einnehmen zu können, der auch die Methodik hinterfrägt. Wichtiger scheint aber zu sein, dass es vor allem die durch irgendwelche Instanzen oder Autoritäten gerechtfertigte Gewalt ist, die die Gewaltbereitschaft verstärkt. So gesehen, muss sie nicht ein Gott gut heißen, es reicht auch schon, wenn in Buchthrillern, Filmen oder Computerspielen die Gewaltanwendung als konsequente Haltung dargestellt oder als Notwendigkeit geschildert wird. Und wenn dann noch die "Guten" gegen die "Bösen" kämpfen, kommt es vielleicht auf das Medium gar nicht mehr entscheidend an.