Ratzingers Angst vor der Kirche der Armen

Ein Beitrag zum 26. Jahrestag der Ermordung des salvadorianischen Erzbischofs Oscar Romero

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Schon als oberster Glaubenswächter der römischen Kirche hat Joseph Ratzinger die Befreiungstheologie gemaßregelt und dabei sogar nach Ansicht des ehemaligen Kardinalstaatssekretärs Agostino Casaroli 1984 einen zu harten Ton angeschlagen. Unter seinem Pontifikat lässt Rom noch immer nicht ab von Attacken gegen die Kirche der Armen und ihre Theologen. Bislang zeigt der Papst aus Bayern keinerlei Anstalten, die Soziallehre seiner Vorgänger angesichts des Siegeszuges des „Neoliberalismus“ für die Gegenwart fortzuschreiben. Seine vordringlichste Sorge gilt einem Bekenntnis zum „ewigen Gottessohn“, der über den Dingen dieser Welt steht und nur ein kurzes Gastspiel auf dieser Erde absolviert hat: vor mehr als 2000 Jahren.

Die römische Kritik an der Befreiungstheologie gibt sich entsprechend ganz unpolitisch. Sie beruft sich aktuell vor allem auf das „objektive“ Dogma, das die Staatskirche ab dem vierten Jahrhundert in philosophischer Begrifflichkeit festgeschrieben hat. Darin wird von Jesus in einer Weise gesprochen, die selbst den meisten einfachen Seelsorgern unverständlich bleibt. Die Denkbewegung geht „von oben nach unten“: Die zweite „Hypostase“ des dreifaltigen Gottes ist innerstes Zentrum und Grund für die Einheit des menschgewordenen Gottessohnes. Innerhalb der so genannten „hypostatischen Union“ werden eine göttliche Natur und eine menschliche Natur unterschieden, die jedoch beide weder vermischt noch getrennt sind.

Hungernden die christologische Zweitnaturenlehre verkünden?

Die katholischen Befreiungstheologen lehnen diese komplizierten und abstrakten Formeln nicht einmal ab. Sie meinen aber, man dürfe das menschliche und das göttliche Wesen nicht über Machtkategorien der griechischen Philosophie verstehen. Von philosophischer Metaphysik haben Jesus und seine Jünger in Galiläa ja gar nicht gesprochen. In der Bibel steht auch nirgends, dass die Menschen am Ende aller Zeiten gefragt würden, ob sie den Römischen Katechismus und die unterkühlten Dogmen der – zum Teil staatlich beaufsichtigten – frühen Konzilien richtig aufgesagt haben. Die Jesusüberlieferung kennt vielmehr ein allgemein verständliches Kriterium, an dem sich die Wahrheit der Menschen und Völker ablesen lässt: „Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war ein Fremdling und ihr habt mich aufgenommen. Ich war im Gefängnis oder krank und ihr seid zu mir gekommen.“ (vgl. Matthäus-Evangelium Kap. 25, 31-46)

Hierzulande meint z.B. auch die katholische Landjugendbewegung, das sei unter dem Vorzeichen einer aggressiven Globalisierung eine hochaktuelle Botschaft. Jahr für Jahr sind etwa 30 Millionen Hungertote auf der Erde zu beklagen. 800 Millionen Menschen sind chronisch unterernährt und haben vermutlich kaum einen klaren Kopf, um etwas über die Spezialitäten der christologischen Zweinaturenlehre zu erfahren.

In einer solchen Welt ist Roms dogmatische Option nicht neutral, sondern eine hochpolitische Parteinahme. Sie dient dem europäischen Machtanspruch innerhalb der Weltkirche und stärkt den rechten Flügel im Katholizismus. Die kapitalismuskritische „Option für die Armen“, die schon Johannes Paul II. als Gemeingut der ganzen Kirche bezeichnet hat, wird im Sinne nordamerikanischer Vorstellungen zu einer unverbindlichen oder rein wohltätigen „Liebe zu den Bedürftigen“ verwässert. Joseph Ratzinger spricht diesbezüglich schon in seiner ersten Enzyklika Deus est Caritas eine andere Sprache als sein Vorgänger.

Aufbruch der Kirche in Lateinamerika

Dass man dem nahen Nachbarn in Not beisteht, halten auch die Befreiungstheologen aus christlicher Sicht für eine Selbstverständlichkeit. Sie meinen aber, in einer Welt des globalen Massenelends und der strukturellen Ungerechtigkeit könne man allein durch milde Gaben kaum ein glaubwürdiges Christentum vorleben.

In der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes hatte das II. Vatikanische Konzil 1965 gesellschaftliche Bewegungen für die Rechte der Menschen in theologischer Hinsicht als hochbedeutsam anerkannt und ausdrücklich festgestellt: „Die vom Hunger heimgesuchten Völker fordern Rechenschaft von den reicheren Völkern.“ Noch deutlicher wurde nach dem Konzil Papst Paul VI. mit seinem Rundschreiben Populorum Progressio über den Fortschritt der Völker (26. März 1967), das der bayrische Politiker Franz-Josef Strauss als „schwarzen Marxismus“ empfand. Diese Enzyklika verweist auf den vorrangigen gemeinsamen Gebrauch aller Reichtümer der Erde durch die Menschen:

„Es ist nicht dein Gut“, sagt Ambrosius, „mit dem du dich gegen den Armen großzügig weist. Du gibst ihm nur zurück, was ihm gehört. Denn du hast dir herausgenommen, was zu gemeinsamer Nutzung gegeben ist. Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen.“ Das Privateigentum ist also für niemand ein unbedingtes und unumschränktes Recht.

Paul VI. verurteilt in diesem Text einen ungehemmten Kapitalismus, nach dem „der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsmitteln ein absolutes Recht, ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft“ darstelle. Er formuliert als zentralen Grundsatz, „dass die Wirtschaft ausschließlich dem Menschen zu dienen hat“.

Ein Jahr später trafen sich 1968 die lateinamerikanischen Bischöfe zu einer bahnbrechenden Versammlung in Medellín (Kolumbien). Dort bekräftigte die Kirche, die es über Jahrhunderte auf dem Kontinent mit den Mächtigen gehalten hatte, eine bevorzugte – also parteiische – „Option für die Armen“. Der weltweite Jesuitenorden, der auf eine viel ältere Tradition der Parteinahme für die Unterdrückten zurückgreifen konnten, bekannte sich 1974 kompromisslos zum Einsatz für Gerechtigkeit. In den Bischofskonferenzen Brasiliens und anderer lateinamerikanischer Länder sympathisierten in der Folgezeit die meisten Hirten mit der noch jungen „Theologie der Befreiung“. Allein bis 1980 wurden über 800 Priester und Nonnen, die in ihrer Seelsorgepraxis dieser Bewegung folgten, in Lateinamerika ermordet.

Romero: Die Umkehr eines traditionalistischen Bischofs

Zu den Kritikern der Theologie der Befreiung gehörte in El Salvador ein Priester mit Namen Oscar Arnulfo Romero (1917-1980). Dieser schöngeistige und konservative Seelsorger hatte in Rom noch unter Pius XII. die orthodoxe Dogmatik studiert. Er empfand die enge kirchliche Liaison mit der Oligarchie, die aus 14 Familienclans bestand und das Land seit Jahrzehnten wie einen Privatbesitz regierte, nicht als Skandal. Zeitweilig stand er unter dem Einfluss des rechten „Opus Dei“.

Als Bischof der Diözese Santiago de María lernte Romero ab 1974 immerhin das Elend der Bevölkerung noch näher kennen. Die klassische „Armenfürsorge“ lag ihm sehr am Herzen. Der Vatikan ernannte den frommen Traditionalisten 1977 zum Erzbischof von San Salvador. In seiner Funktion als Vorsitzender der Bischofskonferenz von El Salvador sah Romero die brutale Politik des Regimes sehr bald in einem neuen Licht. Im März 1977 wurde der ihm befreundete Jesuitenpater und Befreiungstheologe Rutilio Grande zusammen mit einem Messdiener und einem 65jährigen Katecheten von Paramilitärs im Auftrag der Großgrundbesitzer ermordet. Romero war erschüttert, lud das gesamte Bistum zur Trauerfeier in die Kathedrale ein und kündigte die Zusammenarbeit mit der Regierung auf:

Die Not einer Kirche, die verfolgt wird bis hin zur Ermordung eines Priesters hat mich dazu gezwungen, meine Seelsorge stärker auf die Verteidigung der Kirche und der Menschenrechte zu orientieren.

Die salvadorianische Militärjunta jener Jahre huldigte der in Lateinamerika vorherrschenden „Doktrin der Nationalen Sicherheit“. Weihbischof Gregor Rosa Chavez beschreibt den Kern dieser Ideologie so: „Jeder, der Veränderungen will, ist Kommunist und muss eliminiert werden.“ Als fester Bestandteil des Staatsapparates fungierten in El Salvador die „Todesschwadronen“ zur Ermordung von Regimegegnern. Romero besuchte die Gemeinden und Christen, die zur Zielscheibe dieses Staatsterrors wurden, und ließ im Menschenrechtsbüro seines Bistums alle Vorfälle akribisch dokumentieren: „Es ist meine Aufgabe, Gewalttätigkeiten festzuhalten und Leichen aufzusammeln.“ In den Auftragslisten der Todesschwadronen war die Prämie für die Tötung eines Priesters höher angesetzt als die für den Mord an einem Campesino oder linken Intellektuellen. Auf Flugblättern stand die Parole: „Sei ein Patriot! Töte einen Priester!“