Fernsehen bedroht durch das Internet?

Noch nie habe ich Brechts Radiotheorie so wenig gemocht wie heute...

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Die Nahrungskette des bewegten Bildes hat ein neues Glied bekommen, eine „Bedrohung x.0“ – das Internet. Rückblende: Am Anfang stand der Film, der bedrohte das Theater. Dann bedrohte den Film das Fernsehen. Heute bedroht die DVD nicht den Film, sondern das Kino, und ist doch bereits selbst bedroht – vom NETZ, dem man nachsagt, es würde das Fernsehen fressen. Nichts bleibe, wie es einmal war. Wie wahr – doch geblieben sind bislang: das Theater, der Film, das Kino, das Fernsehen. Verschwunden sind die alten Datenträger bzw. Daten-Überträger: Zelluloid, die Kohlestiftlampe, die analoge Antenne, die Bildplatte, die VHS-Kassette usw. Verwechselt werden also, vermutlich im Angesicht der Bedrohung, Gefäße mit Gefasstem, Vase mit Blumenwasser und Blume.

Gereizt zum Hinschauen, Hingehen, Einschalten hat auf diesem langen Weg stets die Perfektion des Tricks, des Rummels um den Trick, den ich nicht selber kann: ich sehe was, das ich nicht selber sehe oder kann – spielen, machen, senden.

Diese Perfektion professionell zu verbreiten, um den Zuschauer buchstäblich an sich zu ziehen, war einer der wesentlichen Impulse für die Erfindung, Verbreitung und Vermarktung des bewegten Bildes, in das nur darum soviel Geld gepumpt wird und immer wieder gepumpt werden wird.

Google, der spätgeborene Internetriese, kaufte vor ein paar Monaten in einer Hauruck-Aktion, um seinen Mitbewerbern YAHOO und Microsoft zuvorzukommen, YOUTUBE, jene famose Webseite, die vor nicht einmal zwei Jahren quasi als Schnapsidee, als studentischer Gag zum Hochladen (und damit Veröffentlichen) eigener Videodateien, begann und seitdem nichts als Kosten für Bandbreiten produziert, für 1,65 Milliarden US-Dollar, und allein diese unfassbare Summe genügt, um Debatten über Bedrohungsszenarien wie auf den 40. Mainzer Tagen der Fernsehkritik unter dem Motto "Das Jederzeit-Fernsehen" loszutreten.

Dabei betreibt Google selbst seit etwas weniger als zwei Jahren einen Dienst zum Sammeln, Sortieren und Verbreiten von Videos im Netz: Gekauft wurde also einmal mehr (im Vollrausch der Akquise?) die Zuschauerschaft, die man selbst noch nicht hatte. Millionen von Netzhäuten wechselten den Besitzer ihres Reizerregers Webvideo und damit die Schaltstelle. Zum Zeitpunkt des Verkaufs nannte YouTube zehn Millionen Besucher täglich sein eigen. Von Google Video gab es solche Zahlen nicht, ja es gab überhaupt keine Zahlen – nur die der hochgeladenen Videos. Sie wird heute (Ende März 2007) mit 26.547.200 beziffert – eine imposante Zahl, die aber – wie jede über 1000 – zumal in den Zeiten der Transaktionsökonomie von keinem Menschen mehr zu überprüfen, geschweige denn zu projizieren ist.

Zwischen der Einseitigkeit des Sendens und Empfangens „früher“ (oder sagen wir: bislang) und YouTube mit seinem Anspruch „Broadcast yourself“ liegt mindestens Brechts Radiotheorie und deren viele Fortsätze, Habermas’ "Strukturwandel der Öffentlichkeit", Enzensbergers "Medientheoriebaukasten" etc. Dabei sind Brechts Überlegungen zum Rundfunk, Radiotheorie genannt, bekanntlich eher eine Vision, die –wie so viele Visionen – edel schien, solange die Werkzeuge für ihre Umsätze aufkamen und massenhaft verbreitet wurden.

Telefonieren wird zum öffentlichen Publizieren

Das öffentliche Publizieren einer privaten Botschaft beschränkte sich bislang auf das geschriebene Wort, der Ort war die bezahlte Anzeige in der Zeitung oder der meistens gekürzte Leserbrief, irgendwo tief in der Mitte derselben. Leserzuschriften wurden in ein ordentliches Deutsch gebracht oder nicht gedruckt, oder aber der unzensierte Anschlag sah bislang so aus:

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Dietmar Hochmuth

Mit dem Aufkommen des tragbaren Fernsprechers ist die gute alte Sitte, dass Telefonieren etwas Diskretes ist (meine Oma hatte immer noch beide Hände umständlich vor Mund und Sprechmuschel gehalten) verflogen; so werden wir Zeuge nicht nur dessen, was sich die Leute zu sagen haben, sondern auch wie:

Eine Frau im traurigen Langzeitarbeitslosenalter von Anfang 50 besteigt in Berlin-Tegel den Bus und telefoniert fortan mit ihrem Sohn, bis zum Alexanderplatz: „Hallo, Kalle, bist Du’s? Hier ist Mutti: Mallorca war schau, wie immer. Weeßte, wat ick da in die BILD gelesen habe: Du mußt noch mal zu dit Sozialamt und allet jenau nachrechnen lassen, wegen die Kids, die ham eenen Zuschlag vergessen. Die betrügen uns nämlich, die Schweine, stand in die BILD.“

Einige gutgekleidete Dienstreisende rollen mit den Augen, reduzieren ihren Anruf auf „Bin jetzt im Bus, also bald da…“; nur eine junge Frau überschreit die Mallorca-Heimkehrerin, sendet wie auf einer anderen Frequenz: sie röhrt mit schmerzhaft-hoher Stimme auf Russisch in ihr Handy und wiederholt x-mal das eine deutsche Wort „Guttschajn“ in der Kombination mit „chundert Jewro“ und “okä?“

Sogar unter der Erde geht der Spuk weiter: Im Berliner Fenster, dem U-Bahn-Fernsehen mit den zwei Bildschirmen, steht die Nachricht: "11.2 Milliarden SMS wurden in ganz China zwischen 17. und 24. Februar anläßlich des Chinesischen Neujahrfests ausgesendet" – ist das nun auch Publizieren im Sinne Brechts oder nicht? Eine Frau starrt auf die Bildschirme und sagt dabei ihrem Mann ein Rezept durch; eine andere beschreibt ungehindert ihrer Freundin Details einer wohl „technisch“ nicht funktionierenden Beziehung. Es ist Wochenende, das Telefonieren kostet entweder gar nichts oder ganz wenig (gewiss aber meine Nerven). „Fasse Dich kurz!“ - die alte Losung aus den Telefonzellen der Post - gilt nicht mehr, keiner steht mehr Schlange – auch „Feind hört mit!“ ist obsolet. Jeder kann alles sagen, hören, sehen - sich buchstäblich auslassen.

Vier junge Türken haben ein Hitler-Video auf dem Handy, von YouTube oder MySpace heruntergeladen – es sind die zwei einzigen Worte, die aus dem Dialog, wie kurz zuvor „Guttschajn“, verständlich sind. Sie haben Hitler als Anrufbeantwortertext (oder Klingelton?) und beölen sich daran, wieder und wieder. Ein Paar Amerikaner schüttelt pikiert mit dem Kopf – kein Vorurteil aus der New York Times, das sich nicht von selbst bestätigt. Ein deutsches Paar „springt ein“; bittet multikulturvoll darum, den Ton leiser zu stellen. Jetzt werden giftige Blicke gewechselt und das Kräfteverhältnis vermessen – zu einer Schlägerei kommt es nicht, hätte aber. Der Ton war so blechern, dass nicht klar wurde: war es nun Hitler oder Helge Schneider. Ich gehe auf YouTube, kann aber diesen Hitler nicht finden, dafür auch hier die Ziffer x Millionen Videos online, eine Behauptung, die ihre Wucht jedesmal neu aus der Unvorstellbarkeit bezieht – dabei sehe ich immer nur ein Dutzend Filmchen, die Bestseller, wenn sie denn verkauft würden, und die sogenannten Picks der Redaktion. Beides lässt buchstäblich tief blicken.

"Sende Dich selbst"

YouTube, du bist die Röhre? „Sende Dich selbst“ - dieser Spruch ist versehen mit einem Trademark-Zeichen. Ich weiß also gar nicht, ob ich ihn straffrei in den Mund nehmen darf. YouTube versammelt eye catcher und clips, die es werden wollen/sollen. Quasi am offenen Herzen lässt sich verfolgen, wie man den Menschen einreden kann, sich die Haare lila zu färben, schlechtes Essen schnell zu konsumieren, simulierte Musik zu mögen und dumme Videos zu schauen, wenn man ihnen nur die Illusion läßt, es ist ihre Sendung – sie tun es freiwillig, und sie haben die Wahl, wenigstens zwischen Cola und Pepsi, zwischen YouTube und Google Video.

Beispiel 1, Google Video: Fittness cica !! Hilarious ! REAL FUNNY :-) ! ATTENTION !

Beispiel 2, Google Video: Fire Fart, All time views: 7.128.480.

Beispiel 3, YouTube: Fat man gets stuck in a copy machine

Vom Sich-selbst-Senden träumte Bertolt Brecht als von einem Medium, das die aktive Mitarbeit und Einbindung der Rezipienten möglich und nötig macht und sie damit selbst zu Produzenten werden läßt. Doch sein Satz: „Ein Mann, der etwas zu sagen hat, und keine Zuhörer findet, ist schlimm dran. Noch schlimmer sind Zuhörer dran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat.“ scheint dagegen heute nicht mehr zu gelten, es sei denn, in der Umkehrung, zum Beispiel auf YouTube.

Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, d.h., er würde es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu lassen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müsste demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren.

Bertolt Brecht

So dachte Brecht dem Einzelnen oder ganzen Gesellschaftsgruppen eine Stimme geben zu können, die sonst nicht öffentlich zu Wort kommen.

Ich sehe etwas, was du nicht siehst

Doch auch und gerade im Mutterland des Internet, dem Quasi-Weltherrscher über die virtuelle Realität, die eine sehr reale, auf Kapitalisierung ausgerichtete ist, gilt etwa für YouTube Brechts Spruch abgewandelt: Nicht die Öffentlichkeit hat auf das Netz gewartet (mit ihm hat bekanntlich niemand gerechnet – es gibt nicht einen Science-Fiction-Roman, der das Netz vorwegnahm), sondern das Netz wartet auf die Öffentlichkeit. Auch Rundfunk und Fernsehen waren – insbesondere in den USA – nicht aus einem Kommunikationsbedarf an sich entstanden, sondern aus dem Druck des Marktes, seine Produkte „multimedialer“ als bisher (auf dem Papier) zu kommunizieren, mittels eigens produzierter eye catcher dazwischen. Woher sonst stammen Soaps, die Pausenfüller zwischen Waschmittelreklamen, in einem Land, das keine Rundfunkgebühren kennt und Kommunikation nicht nur anders finanzieren, sondern vor allem auch definieren mußte.

YouTube ist die Botschaft vom Freund von nebenan; ich sehe etwas, was Du nicht siehst. YouTube ist Voyeurismus, Schadenfreude – es ist immer noch am ulkigsten, ja süßesten, Fremder Leid zu schauen: etwa wie der Nachbar von der Leiter fällt oder so etwas hier…

Google Video: The Beer Slam MASTER!

Angekündigt mit dem Slogan "This guy slams 6 FULL beers in about 10 seconds. I've never seen anyone this fast!"

Oder das Auto an der Kreuzung, Google Video: Granny Mercedes Airbag

YouTube ist die Nahaufnahme, wie von einer Webcam vor dem Computer aufgenommen („Du röhrst?“), oder es ist die Totale ins Wohnzimmer, in den Garten, ins Bad, ins Klo. Mehr Sendungsbewusstsein findet in der Regel nicht statt und ist auch nicht zu befürchten.

Beim Nachdenken über die Frage, welche Bedrohung der Verkauf von Schreibmaschinen für die Gilde der professionellen Schriftsteller brachte, der Verkauf von Pinseln für die Maler, von Fotoapparaten für die Zunft der Fotografen und schließlich der Verkauf von Videokameras für das Fernsehen, zeigt sich rasch, dass lediglich Technik (genau gesagt Kopiertechnik) den Bestand monolithischer und zuweilen monopolistischer Vertriebsnetze erschüttert.

Es gibt also offenbar Gründe genug, sich zurückzulehnen, wäre da nicht nach wie vor die alte und größte Bedrohung des Fernsehens selbst – insbesondere des öffentlich-rechtlichen: seine eigene mangelnde Qualität, nicht selten infolge von Bedrohungen, echten und vermeintlichen, und der Reaktion darauf. Nur sie fördert die Abwanderung zu anderen bewegteren und bewegenderen Reizquellen. Ja, die dümmsten Videos auf YouTube sind die populärsten, und viele Zuschauer wissen gar nicht, warum sie sie angeklickt haben, aber damit kann und sollte es das Fernsehen nie aufnehmen.

Noch ein Beispiel, zum Abgewöhnen; es hatte bis heute 2.637.830 Klicks (Zuschauer). Google Video: BLOND FLIP...

Und, weil es so schön ist, noch das hier, YouTube: girl eats praying mantis...

Womit wir wieder beim Fernsehen angelangt wären... :)