Die kalifornische Ideologie Teil II

Mit dem Cyberspace geht die kalifornische Ideologie einher - eine seltsame und offenbar verführerische Verbindung zwischen dem anarchistischen Gedankengut der einstigen Hippies und dem marktorientierten Liberalismus der Konzerne und der Neuen Rechten. Barbrook und Cameron stellen die Widersprüche und Hintergründe dieser anti-staatlichen Ideologie vor, die zu einer neuen Apartheid der Informationsgesellschaft führen könnte, und fordern eine eigenständige politische Utopie der Europäer für die digitale Zukunft.

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Richard Barbrook und Andy Cameron sind Mitglieder des Hypermedia Research Centre der University of Westminster, London. Klicken Sie auf die Homepage des Instituts, wenn Sie sich für die Theorie und Praxis des Hypermedia Research Centres interessieren.

Der Mythos des freien Marktes

Nach dem Sieg der Gingrich-Partei bei den Wahlen im Jahre 1994 befindet sich diese rechte Version der kalifornischen Ideologie im Aufstieg. Aber die heiligen Prinzipien des ökonomischen Liberalismus werden durch die aktuelle Geschichte der Hypermedien untergraben. Die Bildtechnologien des Computers und des Netzes konnten beispielsweise nur mit der massiven staatlichen Unterstützung und dem enthusiastischen Engagement von Amateuren entwickelt werden. Privates Unternehmertum hat dabei eine wichtige Rolle gespielt, aber es war nur Bestandteil einer gemischten Ökonomie.

Der erste Computer - die Differenzmaschine - wurde beispielsweise von kommerziellen Unternehmen entwickelt und gebaut. Doch ihre Realisierung wurde erst durch einen Zuschuß der britischen Regierung in Höhe von 17,470 Pfund ermöglicht, was 1834 ein kleines Vermögen war. Vom Colossus bis zum EDVAC, von den Flugsimulatoren bis zur Virtuellen Realität hing der Fortschritt in der Computertechnologie in entscheidenden Momenten von staatlichen Forschungsgeldern oder großen Aufträgen staatlicher Institutionen ab. IBM produzierte den ersten programmierbaren digitalen Computer erst, als die Firma vom Verteidigungsministerium während des Koreakrieges dazu aufgefordert wurde. Seitdem wurde die Entwicklung der aufeinanderfolgenden Computergenerationen direkt oder indirekt vom Verteidigungshaushalt der USA gefördert. Neben der staatlichen Hilfe hing die Entwicklung der Computertechnologie in gleichem Maße von der Beteiligung.

Auch die Geschichte des Internets widerspricht den Behauptungen der Ideologen des "freien Marktes". Während der ersten zwanzig Jahre seiner Existenz hing die Entwicklung des Netzes fast vollständig von der geschmähten amerikanischen Regierung ab. Große Summen an Steuergeldern flossen seitens des amerikanischen Militärs oder der Universitäten in die Herstellung der Netzinfrastruktur und subventionierten den Gebrauch seiner Dienste. Gleichzeitig wurden viele der entscheidenden Programme und Anwendungen des Netzes von Hobbyprogrammierern oder von Spezialisten in ihrer Freizeit ausgearbeitet. Das MUD-Programm beispielsweise, das Netzkonferenzen in Echtzeit ermöglicht, wurde von einer Studentengruppe entwickelt, die Fantasy-Spiele in einem Computernetzwerk spielen wollten.

Einer der seltsamsten Aspekte in der Rechtstendenz der kalifornischen Ideologie ist der Umstand, daß die Westküste selbst eine Schöpfung der gemischten Ökonomie ist. Mit Regierungsgeldern wurden Bewässerungssysteme, Schnellstraßen, Schulen, Universitäten und andere infrastrukturelle Einrichtungen gebaut, die das gute Leben in Kalifornien ermöglichen. An der Spitze dieser öffentlichen Förderungen stand der High-Tech-Industriekomplex, der über Jahrzehnte hinweg die größten Zuwendungen in der Geschichte erhalten hat. Die amerikanische Regierung hat Milliarden von Steuergeldern für den Kauf von Flugzeugen, Raketen, elektronischen Systemen und Atombomben von kalifornischen Unternehmen ausgegeben. Wer nicht von den Dogmen des "freien Marktes" geblendet war, lag es auf der Hand, daß die Amerikaner immer eine staatliche Wirtschaftsplanung hatten. Man nannte sie lediglich Verteidigungshaushalt. Gleichzeitig stammten die wesentlichen Elemente des Lebensstils der Westküste aus der langen Tradition der kulturellen Bohème. Auch wenn sie später kommerzialisiert wurden, entwickelten sich kollektive Medien, der "New Age" Spiritualismus, Surfen, Naturkost, Entspannungsdrogen, Popmusik und viele andere Formen der kulturellen Heterodoxie aus den entschieden nicht-kommerziellen Szenen der Universitäten, der Künstlergemeinschaften und Landkommunen. Ohne die alternative Kultur hätten die kalifornischen Mythen nicht ihre heutige Resonanz gefunden.

Die staatliche Subventionierung und das Engagement der Szene übte einen enormen, wenn auch nicht anerkannten und nicht berechenbaren positiven Einfluß auf die Entwicklung von Silicon Valley und anderen High-Tech-Industrien aus. Kapitalistischen Unternehmern ist oft eine übersteigerte Wertschätzung ihrer Bedeutung eigen, während sie die Beiträge seitens des Staates, ihrer Mitarbeiter oder anderer Menschen kaum zu würdigen wissen. Jeder technische Fortschritt ist kumulativ. Er hängt von den Folgen einer kollektiven Geschichte ab und muß, zumindest teilweise, als kollektive Leistung gewürdigt werden. Wie in jedem industrialisierten Land griffen die amerikanischen Unternehmer auf Maßnahmen des Staates und auf die Szene zurück, um ihre Firmen aufzubauen und fortzuentwickeln. Als japanische Unternehmen sich anschickten, den amerikanischen Mikrochipmarkt zu übernehmen, hatten die liberalistischen Computerkapitalisten keine Probleme damit, sich einem vom Staat unterstützten Kartell anzuschließen, das die Eindringliche aus dem Osten vertreiben sollte. Bill Gates glaubte, daß Microsoft den Vertrieb von "Windows '95" solange aufschieben mußte, bis in es Netzprogramme eingearbeitet waren, die die Partizipation der Netzszene ermöglichten. Wie in anderen Sektoren der modernen Wirtschaft ist die Frage, der sich die aufkommende Hypermedia-Industrie stellen muß, nicht, ob sie sich als eine gemischte Ökonomie entwickelt, sondern lediglich, welcher Art diese gemischte Ökonomie sein wird.