Ohne Expansion in den Raum zerbricht die Gesellschaft

Auf der Suche nach einem neuen Wilden Westen

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Der nationale Standort, die Identität einer Kultur und die Sicherung von Macht und Wohlstand sind in der globalen Informationsgesellschaft mit ihren freien Märkten zu einem heißen politischen Thema geworden. Lösungen zur Standort- und Wohlstandssicherung sind wohlfeil und schwirren auch im Netz herum. Während die Invasion Außerirdischer in den Köpfen herumspukt und der Film Independence Day nicht nur die Kassen füllt, sondern auch vorführt, wie ein äußerer Feind die Menschen wieder vereinen kann, sehen andere in einer Expansion die einzige Hoffnung für die Menschheit und vor allem für ihre Avantgarde, die amerikanische Nation, das Land und Volk der Pioniere.

Die Suche nach einer neuen Frontier, nach einem neuen Raum ist in vollem Gange. Heute hat man eingesehen, daß militärische Macht und Eroberung nicht mehr viel bewirken können, sondern auch für eine technisch weit überlegene Nation wie die USA zu äußerst riskanten Unternehmungen wurden. Früher haben sich Nationen einen Feind erzeugt, der eine innere Einheit erzwingen ließ.

Doch der Fall der Mauer hinterließ vor allem in den USA ein Trauma, das tiefer zu gehen scheint als die Niederlage in Vietnam, weil sie einstige Führungsmacht der westlichen Welt ihre Rolle zu verlieren beginnt und auch ihre wirtschaftliche, wissenschaftliche und technische Vormachtstellung durch die neuen Tiger bedroht wird, während die soziale Fragmentierung im Inneren zunimmt. Das Gespenst der Globalisierung geht nicht nur in Europa um, es setzt auch die Menschen in den USA in Panik. Woher soll die Nation, die keine ist, neue Kraft gewinnen und sich wieder zusammenschließen? Wie kann sie weiterhin ihre Mission als Heimat und als Verteidigerin der Freiheit, als Versprechen einer neuen Welt, wie sie es einst war, erfüllen?

Noch immer zehrt Amerika von seiner Geschichte als offener Raum für Glückssucher, Individualisten, Abenteuerer, Pioniere und Eroberer. Der alte Wilde Westen hat jedoch seinen Glanz verloren. Hollywood, zu Siliwood mutiert, hat ihn aufgegeben - ein böses Zeichen. Also erinnert man nicht mehr an die Vergangenheit, man sucht sie zu reproduzieren, gewissermaßen als Fortsetzung einer erfolgreichen Serie. Ist für die einen der Cyberspace ein neuer Wilder Westen im High-Tech-Zeitalter, so hat er für die anderen gerade die Erde noch weiter schrumpfen lassen und reicht nicht hin, die Energien der amerikanischen Bevölkerung zu binden und für deren Hegemonie langfristig zu sorgen. Aber man ist an Einfällen nicht verlegen und sucht sich neue Räume, die zur Auswanderung einladen.

Warum aber ist die Suche nach einer neuen Frontier in den USA so stark, während sie in Europa, von dem immerhin die Auswanderungswellen ins verheißungsvolle Land der Freiheit und des Wilden Westens ausgingen, nicht vorhanden zu sein scheint? Erschlaffung der alten Welt allein kann nicht der Grund sein. Vermutlich ist es deswegen so, weil Europa und seine daheimgebliebene Bevölkerung noch mit einer anderen ehrgeizigen Grenzüberschreitung beschäftigt ist, mit dem Prozeß der europäischen Einheit und dem Versuch, seine alte Macht gegenüber den neuen, den wirtschaftlichen Globalisierungsprozeß tragenden und technisch davoneilenden Konkurrenten Asien und Nordamerika zu verteidigen. Auch hier geht es um eine Erweiterung des Raums, um den Ausbruch aus den Grenzen der einst blutig eroberten und verteidigten Nationalstaaten, nämlich um die Schaffung eines riesigen Marktes mit 700 Millionen Einwohnern, und nur am Rande um die Wahrung bestimmter politischer und sozialer Errungenschaften. Auch das ist eine Einigung auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Fragmentierung und noch immer schwelender nationalistischer "Befreiungsbewegungen": der Zerfall Jugoslawiens, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion, die Unabhängigkeitswünsche der Kurden, der Nord-Iren, der Norditaliener, der Basken, der Katalanen ....

Ist der Prozeß dieser Vereinigung abgeschlossen, ohne in neue Krisen und Konflikte zu stürzen, der gleichzeitig auf eine wohlhabende Festung Europa hinauslaufen wird, die sich von den armen Ländern durch Mauern abschließt, dann ist es gut möglich, daß auch hier die Träume von einem neuen Land entstehen, das man kolonialisieren kann. Bis dahin beobachtet man kritisch oder vielleicht lächelnd die ideologischen Anstrengungen der Amerikaner, ihren Wilden Westen im Cyberspace oder im Weltraum anzusiedeln, oder denkt eben über die Schaffung neuer Grenzen nach, wie dies von einem Kongreß gemacht wird, den das Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie organisiert hat. Wollen die Amerikaner also aus ihren Grenzen ausbrechen, um ihren Standort zu sichern, so streben die Europäer danach, sich einzuschließen. "Dämme, Wände, Grenzen, Gesetze gehören", so das programmatische Papier des europäischen Kongresses, "zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung höherer Organisationsformen."

Aber jetzt zu den Amerikanern, die den Wilden Westen mit seiner Expansion, seiner Freiheit und seiner Grenzenlosigkeit wieder beleben wollen. Mitten im Sommerloch des Jahres 1996 ist es der NASA gelungen, einen erfolgreichen Coup zu landen, der die Aufmerksamkeit der Medien trotz der Olympischen Spiele, dem Attentat in Atlanta und dem geheimnisvollen Absturz der TWA-Maschine binden konnte. Ein drei Milliarden alter Stein, der vom Mars stammt, soll Spuren primitiven Lebens enthalten. Grund genug, die nach dem Wettrüsten eingeschlafenen Projekte der Weltraumflüge wieder aufzunehmen, auf dem Mars nach Leben zu suchen und zu suggerieren, daß vielleicht auch Weltraumsiedlungen sich dort gewinnbringend ansiedeln könnten. Flugs wurde von der NASA auf dem WWW eine Seite eingerichtet, die uns mit Informationen über den Mars versorgt.

Der Mars und die amerikanische Seele

Darunter findet sich auch ein Pamphlet, das das individuelle Interesse eines NASA-Angehörigen an einer Weltraumkolonialisation mit der Angst verbindet, daß die amerikanische Gesellschaft ohne neue Grenze und so ohne die Möglichkeit der räumlichen Expansion auseinanderfallen könnte. Robert Zubrin von der NASA hat allerdings schon vor der Entdeckung des Steins entschieden dafür plädiert, den Mars als neue Frontier Amerikas in Angriff zu nehmen, um "die Seele Amerikas wiederherzustellen." Es geht mithin ums Ganze bei diesem Projekt des nationalen Heils.

Am Grunde der amerikanischen Seele, deren Merkmale eine egalitäre Demokratie, Individualismus und Innovationsgeist seien, befinde sich die "Existenz der Frontier". Amerika ist aus der globalen Besiedlungswelle hervorgegangen, die das Zeitalter der Entdeckungen für Europa eröffnete. Doch jetzt, nachdem die Besiedlungswelle schon seit 100 Jahren in Kalifornien, der westlichen Grenze, angekommen sei, stelle sich die Frage, was mit Amerika geschehe, wenn die Frontier verschwunden ist. "Kann eine freie, egalitäre, dekokratische, innovative Gesellschaft mit einem Geist des Machens erhalten werden, wenn der Raum zum Wachsen verschwunden ist?" Die Frage ist natürlich nur rhetorisch, denn das Pamphlet will die Verunsicherung nutzen, um das eigene Projekt voranzutreiben. Hat man früher, zur Zeit des Kalten Krieges, an das nationale Sicherheitsinteresse gegenüber dem Reich des Bösen appelliert - da gab es etwas zu verteidigen und zu erobern -, so müssen heute zur Durchsetzung der eigenen Interessen andere Gründe aufgeboten werden. Leider stehen die Außerirdischen ja nur im Film als Feind zur Verfügung. Und ein paar Mikroorganismen, die vielleicht vor drei Milliarden Jahren auf dem Mars existiert haben, sind nur ein schlechter Ersatz für das hochgerüstete Böse hinter der Mauer, das sich jetzt als desolat erwiesen hat.

Noch vor ein paar Jahren haben nur einige Intellektuelle, vielleicht die Zeit vorwegnehmend, die Nachgeschichte verkündet und von der kommenden Kristallisierung der Verhältnisse gesprochen. Man war relativistisch, plural, dekonstruktiv, resignativ, barock und antriebslos, glaubte, alles sei durchgespielt, es gäbe nur noch Variationen des Immergleichen. Labyrinthe, in denen man endlos umherirrt, faszinierten. Man suchte, sich in der Höhle des platonischen Gleichnisses einzurichten und keinen Ausgang mehr finden zu wollen. Keine Wahrheit und kein Godot in Sicht. Es galt, das Gefängnis schöner zu machen, es mit wechselnden Bildern auszuschmücken, aber die Erwartung aufzugeben, daß es ein Jenseits gab. Kunst und Kultur wurden als Inneneinrichtung, auch technisch aufgemotzt, zu den Füllern des Lochs erkoren, um die Langeweile in den sicheren und wohlhabenden Ländern zu vertreiben, die nur aus der Ferne, von der Warte des globalen Dorfes, auf das Elend blickten, das woanders war. Auf hohem dynamischen Niveau verändert sich nichts mehr und tritt Stillstand ein: Ende der Geschichte.

Das haben die neuen Strategen der Frontier sich zu eigen gemacht. Erstarrung heißt aber jetzt, daß es mit uns abwärts geht. Um optimistisch zu sein, um Pioniere zu werden, muß erst einmal die Apathie durchbrochen und auf den katastrophalen Ausgang der Geschichte hingewiesen werden. Nur Spiele und simulierte Gladiatorenkämpfe wie beim Wrestling genügen nicht. Alles verschlechtert sich, weil nur die grenzenlose Bewegung und die Schaffung von Neuem eint. Daran aber muß man festhalten, weil es keine Alternative zum westlichen Lebensstil gibt.

Die westliche humanistische Zivilisation, wie wir sie kennen und heute schätzen, wurde durch Expansion geboren, sie reifte durch Expansion und kann nur in einer dynamischen Expansion weiter existieren.

Robert Zubrin

Als die Eroberer und Einwanderer aus Europa kamen, haben sie die alten Herrschaftssysteme hinter sich gelassen. Amerika war kein Land, in dem man einfach lebte, sondern ein Ort für Weltenbauer. Was dabei mit den Ureinwohnern passiert ist, wird stillschweigend übergangen, ebenso wie die Neueinwanderer, die ja auch ihrer Kultur entfliehen, offenbar dem weiteren Aufbau Amerikas nichts beizutragen haben. Sie können nur als "Last" empfunden werden, weil es ohne neues Land keine Arbeit mehr gibt.

Jetzt jedenfalls geht es dem Niedergang zu. Die Politik ist machtlos und die Gesellschaft ist starr geworden, das Leben wurde überreguliert, die Menschen scheuen das Risiko, die Wirtschaft geht den Bach hinunter, die Innovationsrate geht zurück und - der größte Schrecken - die Idee des Fortschritts selbst hat an Überzeugungskraft verloren. Amerikas Mission für die Welt geht ohne Raum, den man besiedeln und erobern kann, die Luft aus.

Ohne eine Frontier, von der man Luft zum Atmen erhält, verschwindet der Geist, der die progressive humanistische Kultur hervorgebracht hat, die Amerika der Welt während der letzten Jahrhundert offeriert hat. Das Problem ist nur der nationale Verlust - der Fortschritt der Menschen benötigt eine Avantgarde, aber es ist kein Ersatz in Sicht.

Richard Zubrin

Ohne neue Frontier, ohne einen Christoph Kolumbus des High-Tech-Zeitalters, ohne Entdeckungsfahrten in eine unzivilisierte Wildnis sterben alle errungenen Werte der Aufklärung ab. Die Erde ist bereits zu erschlossen und vernetzt. Die Polizei ist schon überall. Keine freie Entwicklung einer neuen Gesellschaft ist mehr möglich: "Wenn Menschen die Würde erhalten sollen, die durch die Erschaffung ihrer eigenen Welt entsteht, dann müssen von der alten Welt frei sein." Der Mond ist einfach noch zu nahe an der Erde und überhaupt ist er für Menschen zu unfreundlich, während der Mars alles hat, was man benötigt, und zudem weit genug entfernt liegt, "um seine Siedler von der intellektuellen, legalen oder kulturellen Vorherrschaft der alten Erde zu befreien."

Einer der Hauptargumente für die Ausfahrt in neue Länder ist die Erhaltung der Diversität. In der globalen, durch Telekommunikation- und Transportmittel verkleinerten Welt geht die gesunde Vielfalt der menschlichen Kulturen zugrunde. Von ökologischen Kenntnissen nimmt man nur auf, daß räumliche Isolation die Vielfalt fördert, während Dichte, wie sie in den Regenwäldern existiert, als Grundlage eine hochkomplexen, aber lokalen Ökosystems außer Acht gelassen wird. Nur durch die Besiedlung von weit entfernten Welten kann sich noch eine neue Evolutionslinie entwickeln: "Eine Welt wird einfach zu klein sein, um die Vielfalt zu bewahren, die nicht bloß deswegen erforderlich ist, damit das Leben interessant bleibt, sondern auch, um das Überleben der menschlichen Rasse zu sichern." Und wenn die irdischen Ressourcen beschränkt sind, dann kann es nur einen tödlichen Konkurrenzkampf um sie geben. Eine Verständigung oder gar ein Interessensausgleich ist für Menschen ohne zusätzlichen Raum und Ressourcen langfristig nicht möglich. Einzig in einem Universum mit unendlichen Ressourcen könnten alle Menschen Brüder sein. Dann eben kann man die Eigentumsverhältnisse so lassen, wie sie sind, weil sich ja jeder, der will, ein neues Claim abstecken kann.

Natürlich aber geht es auch um den technischen Fortschritt, der noch bis zum Kalten Krieg angehalten hat, jetzt aber mehr und mehr stagniert. Für einen erneuten Schub der technischen Innovation und damit für wirtschaftliche Macht würde eine Besiedlung des Mars sorgen.

Man stelle sich eine entstehende Zivilisation auf dem Mars vor. Ihre Zukunft würde entscheidend vom Fortschritt der Wissenschaft und Technologie abhängen. Genau wie die Erfindungen, die durch den "Yankee-Geist" des Frontier-Amerikas hervorgebracht wurden, eine mächtige Antriebskraft für den weltweiten menschlichen Fortschritt während des 19. Jahrhunderts darstellten, so würde der "Mars-Geist", der in einer Kultur entsteht, die Intelligenz, praktische Ausbildung und den Zwang, wirkliche Beiträge zu liefern, am höchsten schätzt, weit mehr als seinen normalen Anteil an wissenschaftlichen und technologischen Durchbrüchen hervorbringen und so den Fortschritt der Menschen im 21. Jahrhundert dramatisch beschleunigen.

Seltsamerweise jedoch entstand aus dem Amerika, das noch einen Wilden Westen hatte, kein großer wissenschaftlicher oder technischer Fortschritt, der eher in den Ländern zustandekam, deren Bevölkerung in die USA auswanderte. Auch nach dem Krieg sorgte die Einwanderung für einen Schub der technischen und wissenschaftlichen Innovation, die im neo-liberalen Ambiente des amerikanischen Kapitalismus mit seinen Elite-Universitäten nur schneller zum Zug kommen konnte.

Alter Wein in neue Schläuche

Auffällig für diese Art der Argumentation jedoch ist vor allem, daß man alte, vorgeblich erfolgreiche Rezepte aus der eigenen Vergangenheit unbefragt aufnimmt und nur nach neuen Zielen sucht. Politische Lösungen werden gar nicht gesucht, eine Veränderung der Wirtschaft scheint völlig undenkbar zu sein. Es geht lediglich um die Suche nach neuen Ventilen, wie man die drohenden inneren Konflikte unter Beibehaltung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung und Wohlstandsverteilung beibehalten kann. Ähnlich wie die vorrevolutionären Gesellschaftskritiker im Zeitalter der Vernunft einst ihre Utopien auf Inseln fern im Meer ansiedelten, so ist es heute der Weltraum, der Neues möglich macht. Der Unterschied aber ist, daß es keine konkreten Phantasien mehr gibt, man einzig darauf hofft, daß Neues und Besseres schon entstehen werde, wenn man nur mehr Raum besitzt, die Technik vorankommt und eine Distanz zum Alten besteht.

Fortschritt, Dynamik, Kreativität und wachsende Individualisierung sind die vordringlichsten Hoffnungen. Demokratie wird zwar als Wert angesehen, weil offensichtlich Marktwirtschaft und Demokratie einst zusammen entstanden sind, aber man denkt weder über demokratische Verfahren oder Chancengleichheit noch über soziale Gerechtigkeit oder Wohlstandverteilung nach. Das Fehlen jeder Bemerkung zum Thema Eigentum ist beredt genug und unterscheidet die neuen Utopien grundlegend von den alten. Vielleicht denkt man ja, daß im unendlichen Raum des Universums mit seinen unerschöpflichen Ressourcen jeder zum Eigentümer wird, was bereits der Traum der einstigen Einwanderer gewesen ist.

Während die Propheten der neuen Frontier jedenfalls ihre Visionen anpreisen, wird der Abbau des Sozialstaates weiter vorangetrieben. Kurz vor den Präsidentschaftswahlen wurden beispielsweise zwei neue Gesetze verabschiedet, die von manchen als Verschärfung des "Kriegs gegen die Armen" gesehen werden, die jedenfalls von einer wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber dem Elend im eigenen Land Zeugnis ablegen. Abgesehen von Afrika wächst derzeit allein in den USA die Zahl der Armen und Unterernährten. In einer der reichsten Gesellschaften der Welt leiden gegenwärtig bereits 13 Millionen Kinder Hunger. In den USA sind nach einer Studie der Organisation Bread for the World (SZ vom 18.10.1996) 30 Millionen Menschen und 21% der Kinder unterernährt, mehr als in jedem anderen Industrieland, während gleichzeitig das obere Fünftel immer reicher wird, dessen Anteil am globalen Einkommen in den letzten 30 Jahren weltweit von 70 auf 85% angestiegen ist. Jetzt kürzt man die Sozialfürsorge, weil Armut als eigenes Versagen gilt, weil man vorgibt, so die Armen und Arbeitslosen zur Aktivität und Selbsthilfe, zum Selbstvertrauen und zur Selbstdisziplin anzustacheln, die bislang staatlicherseits in Abhängigkeit gehalten wurden. Das Wohlfahrtssystem selbst gilt als Ursache der Armut. Auf der anderen Seite sorgt das neue Immigrationsgesetz gleichzeitig mit dem Ausbau der Sicherheitsvorkehrungen an der Grenze zu Mexiko dafür, daß Einwanderer ihre Familienangehörigen nicht mehr nachholen können und daß sie, selbst wenn sie legal eingewandert sind, von den meisten der noch bestehenden Sozialprogrammen ausgeschlossen werden. Zudem wurden die Sozialprogramme auf die Bundesstaaten und Counties rückübertragen, was bedeutet, daß diese in einen Wettstreit um niedrigere Hilfen eintreten werden, um nicht die Armen aus der Umgebung anzuziehen. So bedient man die Ängste der Mittelschicht und sorgt dafür, daß die Wohlhabenden immer weniger Steuern zahlen müssen, um sie im Land zu halten und von der sozialen Verantwortung zu entlasten.

Die neue Revolution - vorwärts in die Vergangenheit vor 1789

Michael Vlahos von der rechten "Progress and Freedom Foundation" verkündet gleichfalls, daß Amerika erstarre und nichts mehr mit der Revolution anfangen könne, aus der sie geboren worden sei.

We love the revolution we made. But after 1776 came 1789. Big Chance was Shanghaied. High-octane Pilgrim's Progress was ditched for the Beau Savage, who led a descent into the primitive, to The Terror. Our sober, civiv revolution was stolen by firebrand French wordsmiths.

Michael Vlahos

Das muß natürlich endlich rückgängig gemacht werden. Jetzt wittert man die Chance, mit dem bedingungslosen Neo-Liberalismus und seinem darwinistischen Individualismus die herrschende Schicht von all den Einschnürungen des amerikanischen Kapitalismus seitens der von Europa importierten Sozialprogramme und wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungen des Reichtums befreien zu können. Daher können und sollen die Amerikaner des Liberalismus mit ihrem Expansionsdrang und ihrem missionarischen Eifer den Begriff der Revolution wieder neu besetzen. Schließlich sind durch den Zusammenbruch der kommunistischen Staaten alle Alternativen einer vernünftigen Planung und Steuerung zur Farce geworden. Damit hat jede Politik ihre Geltung verloren.

Der Staat, in demokratischen Ländern immerhin der ideale Ausdruck des allgemeinen Willens, ist diskreditiert, nur das Individuum zählt, solange es erfolgreich ist und zum Gewinner wird. Man verkündet mithin keine politische Revolution, sondern eine technische - wie einst die industrielle Revolution, die einen großen Wandel mit sich brachte und das ganze Leben veränderte. Amerika aber braucht heute nicht mehr wie damals die Einwanderer aus der alten Welt, jetzt ist es endlich souverän geworden und kann die Tore schließen.

Big change is here - brought not by barbarians at the gate, but by ourselves. We are the barbarians of big change. We are the red-capped sans culottes.

Micheal Vlahos

John Perry Barlow, der Cyberspace-Cowboy aus den USA, der noch immer als wesentliche Figur der Cyberkultur gilt, bekennt mittlerweile freimütig, daß er Republikaner ist. Wirtschaftlich sei er liberal, politisch konservativ. "Ich toleriere", sagte er in einem Gespräch (Zeitpunkte Nr. 5/96, S. 25), "so ziemlich jedes Verhalten, solange es mich nicht nicht direkt berührt. Ich bin aber sehr konservativ, wenn es um die Größe des Staatsapparates geht." Für einen entschiedenen Anhänger der "freien Märkte" bedeutet die Reduzierung des Staatsapparates natürlich auch die weitestgehende Reduzierung von Sozialprogrammen, da diese mit einer Aufblähung staatlicher Institutionen zusammengehen.

Der gewünschte liberalistische Minimalstaat soll nur den Bürgerkrieg verhindern, indem er für die Sicherung der Person und ihres Eigentums sorgt, oder er räumt für die Mobilen den Schnee von der Straße, aber überläßt alles andere dem Markt. Dafür verspricht Barlow, daß der Cyberspace "die Möglichkeit zur uneingeschränkten Freiheit des einzelnen" anbiete, was wiederum nur heißen kann, den Erfolg für denjenigen, der sich durchsetzt, und Gleichgültigkeit gegenüber jenen, die es nicht schaffen. Als Subjekte der Geschichte sollen die Menschen abdanken und alles der unsichtbaren Hand des Marktes überlassen. Die Freiheit der Meinungsäußerung und der Schutz der Privatsphäre im Cyberspace, für die Barlow als Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation eintritt, erstreckt sich nicht auf einen entsprechenden Kampf im wirklichen Leben. So wird die Frontier des Cyberspace zur Kompensation realer Unterdrückung.

Vom Sieg der westlichen Welt

Aber selbst Einwanderer aus der alten Welt huldigen der Suche nach einer neuen Frontier und damit den Expansionsdrang der kapitalistischen Wirtschaft, die als allein seligmachende gilt. Isaac Asimov, der bekannte Science Fiction Autor, ist gewissermaßen von Berufs wegen optimistisch, was technischen Fortschritt anbelangt. Obwohl er 1923 gerade noch ins Gelobte Land einwandern konnte, bevor die ersten Beschränkungen der Immigration in Kraft traten, knüpft er an die vergangene Tradition der Einwanderung an, wenn er die Kolonialisierung des Weltraums propagiert - und diese, wenn sie denn vorankäme, als "Sieg des Westens" bezeichnet. Selbst einst kein reicher Einwanderer, glaubt er, daß die neue Auswanderungswelle in den Weltraum nicht nur den Reichen zugute käme. Schließlich wären einst auch nicht die Reichen und Mächtigen nach Amerika ausgewandert. Er erinnert an den Spruch an der Freiheitsstatue, der von allen Frontier-Besessenen und Propagandeuren der American Idea gerne vergessen wird, weil er an eine Vergangenheit erinnert, von der man nichts mehr wissen will, von der man nur benutzt, was einem gerade in den Kram paßt: "Give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to breathe free, The wrtched refuse of your teeming shore."

Alle haben für Asimov eine Chance, in den Weltraum zu gelangen, sie brauchen nur ein Ticket für die Überfahrt. Auch die früheren Einwanderer wußten nicht, wohin sie gingen. Sie hatten keine Ahnung von Schiffahrt und waren den Schiffsbesatzungen hilflos überlassen. Sie waren harten Umständen bei der langen Reise ausgesetzt. Sie konnten in Stürmen umkommen und wußten, daß sie bei der Landung auf eine Wildnis und manchmal auch auf feindliche Einwohner stoßen würden. Aber sie nahmen die Reise auf sich, weil sie etwas suchten. Daher sollten vor allem die Amerikaner wissen, was es bedeutet, das Heim zu verlassen und eine völlig fremde Welt zu gehen. Doch für Asimov ist die Auswanderung und Kolonialisierung der Wildnis nicht nur eine amerikanische Tradition, sondern diese verkörpert nur in besonderem Maße die als anthropoligische Konstante verewigte Expansionsnotwendigkeit des Menschen. Seit 50000 Jahren hat die Menschheit ihren Lebensraum ständig vergrößert. Jetzt bewohnt sie die ganze Erde. Die Wildnis ist verschwunden, die Erde voll und kein Raum zur Kolonialisierung mehr vorhanden.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind wir mit einer Situation konfrontiert, in der wir buchstäblich keinen Raum mehr zur Expansion besitzen. Wir haben alle Berge überschritten und alle Ozeane durchquert. Wir sind bis an das Ende der Atmosphäre gereist und in die Tiefen der Meere vorgedrungen. Wenn wir uns nicht in einer Welt niederlassen wollen, die unser Gefängnis ist, dann müssen wir uns darauf vorbereiten, die Erde zu verlassen.

Isaac Asimov

Umweltverschmutzung und Überbevölkerung können das Gefängnis zur Todeszelle machen. Wir müssen aber die Industrialisierung weiterführen, damit die Menschen leben und überleben können. Der einfachste Weg wäre daher, wenn man wie üblich nichts verändern will, die Industrie in den Weltraum auslagern würde, wo überdies Sonnenwinde den Dreck ins Universum wegblasen würde. So könnte die Erde zu einer Welt von Parks, Farmen und wilder Natur werden, ohne daß man die Vorzüge der Industrialisierung aufgeben müßte.

Die Expansion der Menschen in den Weltraum hat für Asimov überdies eine befriedende Wirkung. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg mit seinen Gewinnern und Verlierern blieb kein Haß übrig, denn es gab den Westen, den man gemeinsam erobern und kultivieren konnte. Darüber vergaß man die alten Kämpfe und wuchs zu einer Nation zusammen. Man braucht also einfach etwas Neues, Großes und Wachsendes, wodurch die alten Probleme bedeutungslos werden. Deswegen sei die Kolonialisierung des Weltraums als globales Projekt ein gutes Äquivalent für den Westen. Die Besiedlung des Weltraums wird die Menschheit kooperieren lassen und zusammenführen.

Stets also gleichen sich die Argumente. Wir kennen sie aus der Zeit, als die Nationen und Staaten sich durch die Schaffung von Feinden und durch den anschließenden Krieg einten oder erneut stabilisierten. Jetzt ist dieselbe Logik am Werk: Erhaltung des Systems durch Expansion in den Raum. Die Verkünder der neuen Revolution und des neuen Abenteuers können oder dürfen sich nicht vorstellen, daß sich die Gesellschaften und ihre Wirtschaftssysteme verändern. Noch ganz im mechanistischen Denken verhaftet, suchen sie nach einem Ventil, um die aufgestauten Energien abzulassen. Doch im Hintergrund steht nicht nur das Begehren nach individueller Freiheit, sondern lauert die Angst der herrschenden Klasse, ihre Macht verlieren zu können, die sie mit dem freien Markt erhalten haben. Die digitale und technische Revolution ist keine Revolution mehr der Unterdrückten und Ausgebeuteten, sondern eine Strategie der Machterhaltung und ein grandioses Ablenkungsmanöver.