Ein Hyperlink ins Gefängnis?

Radi-link führt zu Präzedenzfall über Internet-Zensur

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Die ehemalige PDS-Vorsitzende Angela Marquardt ist wegen eines Hyperlinks angeklagt worden. Im Grunde muß man der Berliner Staatsanwaltschaft dankbar sein. Durch ihre Anklage gegen Angela Marquardt wird es in Deutschland endlich einen ersten Präzedenzfall zur Zensur im Internet geben.

Telepolis-Interview mit Angela Marquardt.

Angela Marquardt ist vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten wegen der Beihilfe zur "Anleitung zu einem gemeingefährlichen Vergehen" angeklagt worden. Der Grund: Sie hat auf ihrer Homepage einen Link zur Online-Ausgabe der linksradikalen Zeitschrift "Radikal", die bei dem holländischen Internet-Provider XS4ALL abzurufen ist. In der Ausgabe 154 von "Radikal" war ein Artikel über die Sabotage von Zugstrecken erschienen. Der Fall hat eine lange Vorgeschichte. Nachdem der Politiker Konrad Weiss Mitte letzten Jahres in der Tageszeitung "Die Welt" einen Artikel über die Homepages von PDS-Politikern veröffentlicht hatte, in der er auf den Radikal-Link hinwies, löschte der Online-Dienst CompuServe Marquardts WWW-Seiten in seinem Mitgliederbereich "Ourworld", bei der auch die PDS und verschiedene Fraktionsmitglieder mit Homepages vertreten sind. Der Online-Dienst bot an, die Homepage wieder auf den Server zu nehmen, wenn der "Radikal" -Link entfernt würde. Marquardt wechselte daraufhin zu dem britischen Provider Yellow Internet, der ihr von sich aus Gratis-Speicherplatz auf seinem Server angeboten hatte.

Bereits im April des letzen Jahres hatte "Der Spiegel" berichtet, daß Marquardt auf ihrer Homepage "Reklame für die linksextremistische Zeitung 'Radikal' gemacht" habe. Ironie des Schicksals: Kurz zuvor hatte "Spiegel Online", die Internet-Ausgabe des Spiegel gleichfalls einen Link zum Server von XS4ALL, auf dem das inkriminierte Blatt lag, angeboten.

Der "Spiegel"-Artikel machte auch die Bonner Bundestagsfraktion der CDU auf die Internet-Aktivitäten von Marquardt aufmerksam. Wolfgang Zeitlmann und andere CDU-Abgeordnete stellten eine kleine Anfrage an die Bundesregierung:

Ist es bekannt, daß die stellvertretende PDS-Vorsitzende Angela Marquardt unter Ausnutzung moderner Computertechnik Werbung für die verbotene linksextremistische Zeitung 'Radikal' macht?

Wolfgang Zeitlmann

In der Anfrage wurde übrigens ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die 'Radikal' sich auf einem Server in Holland befindet: "Angela Marquardt bietet dem Benutzer an, durch entsprechende Betätigung des Heimcomputers einen niederländischen Rechner anzuwählen." Diese elegante Formulierung verweist zugleich auf einen kleinen Schönheitsfehler, den die versuchten Eingriffe der deutschen Bundesanwaltschaft auf XS4ALL in den nächsten Monaten hatten. Da XS4ALL sich in Amsterdam befinden, fällt die Firma nicht unter den Geltungsbereich deutschen Rechts, auch wenn die deutsche Justiz versucht hat, dieses auf ein holländisches Unternehmen auszudehnen.

Interessant ist die Antwort auf die kleine Anfrage der CDU, die die Bundesregierung am 28. Juni 1996 veröffentlichte. In der heißt es: "Bei Abruf der 'Radikal' über diese 'homepage' erscheint eine vorgeschaltete Erklärung, in welcher Frau Marquardt den Hintergrund der Einrichtung dieses 'Links' erläutert und den von ihr eröffneten Zugang zur 'Radikal' als Möglichkeit der Meinungsbildung bezüglich strittiger Texte und als Beitrag gegen die angebliche 'Zensur' in der Bundesrepublik bezeichnet. Sie distanziert sich dabei vom 'Bauen von Bomben', von deren Einsatz und den Anschlägen, über die in der 'Radikal' berichtet worden sei, betont jedoch gleichzeitig, zur Militanz gebe es erheblichen Bedarf einer Debatte."

Diese Erklärung gibt es auf der Homepage von Angela Marquardt übrigens bis heute. In ihr heißt es:

Ich distanziere mich von den Anschlägen, über die in der 'Radikal berichtet wurde. Aber ich halte nichts davon, die Diskussion darüber zu verbieten.

Angela Marquardt

Besonders aufschlußreich in der Antwort der Bundesregierung ist die folgende Passage: "Das geltende Strafrecht findet auch auf Straftaten Anwendung, die mittels moderner Kommunikationstechnik begangen werden... Die Bundesregierung wird notwendige Klarstellung im Zusammenhang mit dem von ihr z.Z. vorbereiteten Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und Kommunikationsdienste (IuKDG) prüfen. Außerdem erscheint das Instrument der freiwilligen Selbstkontrolle als geeignetes Mittel, dem Mißbrauch im Internet Einhalt zu gebieten." Im Klartext: Kein Handlungsbedarf.

Drei Monate später forderte die Bundesanwaltschaft die deutschen Internetprovider auf, den Zugang zum Rechner von XS4ALL zu sperren. Durch das Internet ging ein Sturm der Entrüstung über die technisch unmögliche und rechtlich fragwürdige Forderung der deutschen Justiz. "Radikal" wurde auf über 50 verschiedenen Sites in der ganzen Welt gespiegelt, und auch viele deutsche Internet-Provider kamen der Aufforderung der Bundesstaatsanwaltschaft nicht nach. Wenn es um Zensurversuche im Internet geht, wird Deutschland seither in der internationalen Presse oft in einem Atemzug mit Ländern wie China, Singapur und dem Iran genannt.

Die Anklage gegen Marquardt ist eine weitere Fortsetzung der Hexenjagd, die die deutsche Justiz seit einiger Zeit gegen das linksradikale Blatt betreibt. Die Redaktion der "Radikal" gilt bereits seit längerem als "terroristische Vereinigung" und die deutsche Bundesanwaltschaft verfolgt mögliche Mitarbeiter wie Kriminelle. Nach mehreren spektakulären Verhaftungen war zuletzt kurz vor Weihnachten in Holland die Wohnung eines mutmaßlichen Radikal-Mitarbeiters von deutschen Beamten - unterstützt von holländischen Beamten - durchsucht worden. Diese grenzüberschreitende Polizei-Aktion hat in Holland viele Fragen aufgeworfen und wurde im niederländischen Parlament diskutiert.

Meldung aus den Niederlanden

Inzwischen ist auch die Berliner Staatsanwaltschaft auf den "Fall Marquardt" aufmerksam geworden. Über ein halbes Jahr, nachdem über ihren Link zum ersten Mal in der Presse und damit im für die deutsche Justiz faßbaren Bereich, berichtet worden war, wurde Anfang dieses Jahres gegen die 25-jährige Studentin Anklage erhoben. Sie habe, heißt es im schönsten Juristendeutsch, "einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidrigen Tat, nämlich der Anleitung zu einem gemeingefährlichen Vergehen", Beihilfe geleistet. Für die Studentin, die beim letzten PDS-Parteitag nicht mehr als stellvertretende Parteivorsitzende kandidiert hat, konnte der "Radilink" nun zum Hyperlink ins Gefangnis werden.

In der letzten Woche versuchte die Berliner Staatsanwaltschaft, das "Radikal"-Verfahren mit einem anderen Prozeß gegen Angela Marquardt zusammenzulegen. In diesem Verfahren, das die rechte Wochenzeitschrift "Junge Freiheit" gegen sie angestrengt hat, wird ihr ebenfalls "Billigung und Belohnung von Straftaten" vorgeworfen: In einem Interview mit der "Wochenpost" hatte sie sich mißverständlich über einen Anschlag auf die Druckerei der "Jungen Freiheit" geäußert:

Wahrscheinlich wissen sie, wie dünn beide Anklagen sind und wollen durch die Zusammenlegung überhaupt erst ein Urteil erzielen.

Angela Marquardt

Da sich zum Zeitpunkt der Anklageerhebung auch auf anderen deutschen Homepages Links zur "Radikal" befanden, entsteht der Eindruck, daß an der PDS-Politikern ein politisches Exempel statuiert werden soll. Konservative Politiker wie der Berliner Innensenator Jörg Schonbohm (CDU) versuchen schon seit längeren zu erreichen, daß die PDS vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet wird. Angela Marquardt betrachtet das Verfahren als deutschen Präzedenzfall zur Zensur im Internet. Wenn es zum Prozeß kommt, will sie darum Internet-Experten vor Gericht aussagen lassen. Das Berliner Amtsgericht muß sich nun mit einigen kniffligen juristischen Problemen befassen.

Juristische Fragen im Fall Marquardt

Das Verfahren gegen Angela Marquardt wirft bisher unbekannte juristische Probleme auf. Wenn ein Hyperlink zu einer anderen WWW-Site rechtswidrig sein kann, könnte man jeden Anbieter von einer Suchmaschine verklagen. Wer mit einem handelsüblichen Search Engine wie dem deutschen Yahoo nach dem Stichwort "Radikal" sucht, findet mehrere Hotlinks zu der Online-Ausgabe der Zeitschrift Magazins: (Yahoo). Heißt das, daß sich auch die Betreiber von Yahoo, übrigens eine Tochterfirma des renommierten Ziff Davis Verlags, demnächst vor einem deutschen Gericht für die "Verbreitung von rechtswidrigen Schriften" verantworten müssen?

Es stellt sich die Frage, ob ein Hyperlink überhaupt als "Verbreitung" eines Textes angesehen werden kann. Und wenn ja, wäre dann auch ein Link auf die Homepage von Marquardt rechtswidrig, von der aus man sich ja wiederum zu "Radikal" weiterklicken kann? Muß jeder, der auf seiner Homepage einen Hyperlink setzt, in regelmäßigen Abstanden prüfen, ob sich unter der angebotenen URL rechtswidriges Material befinden? Und muß er dabei nur die angelinkte Homepage prüfen, oder sogar alle Seiten, mit denen diese Homepage verbunden ist?

Auch die Anklageschrift der Berliner Staatsanwaltschaft wirft juristische Fragen auf: Im Text fehlt jeder Hinweis auf die Quelle, aus der der Staatsanwalt die zitierten Passagen aus der "Radikal" entnommen hat. Stammen sie von der Homepage von Angela Marquardt? Oder aus der "Radikal", die auf dem Server von XS4ALL liegt? Von einem der über 50 Mirrorsites, die es inzwischen in der ganzen Welt, auch in Deutschland, gibt? Oder aus der gedruckten "Radikal"? Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang übrigens, daß die Online-"Radikal" im Gegensatz zu der gedruckten, keine Photos enthält. Die Hinweise zur Sabotage, die einer der inkriminierten Artikel enthält, sind darum eigentlich unbrauchbar, weil die Bilder fehlen, die zeigen, was man zerstören muß, um den Bahnverkehr lahmzulegen.

Im übrigen darf man gespannt sein, wie der Staatsanwalt vor Gericht seine Beweismittel, die ja zur Zeit nur digitalisiert im Internet existieren, vorführen wird. Wird er einen Computer mit Internetzugang im Gerichtssaal aufstellen? Oder haben die zitierten Passagen auch als Ausdruck Beweiskraft?

Ein weiteres juristisches Problem, das der Fall Marquardt aufwirft: Ihr Link zur Radikal ist keineswegs der einzige auf einem deutschen Server. Es gibt Radikal-Links auf den Servern von deutschen Universitäten, bei T-Online, CompuServe und diversen anderen Servern. Es stellt sich daher die Frage, warum diese User nicht ebenfalls angeklagt worden sind.

Der Hennefer Internet-Anwalt Michael Schneider hat sich darum selbst angezeigt, weil er im vergangenen September für kurze Zeit die "Radilink"-Seite von Angela Marquardt auf seiner Homepage gespiegelt hatte. In einem Schreiben von Schneider an den Berliner Staatsanwalt heißt es: "Wenn ich Ihre Bewertung der Sach- und Rechtslage aus der Anklageschrift als zutreffend unterstelle, trifft mich derselbe Strafvorwurf. Ich fordere sie daher unter Hinweis auf das Legalitätsprinzip auf, nunmehr auch gegen mich zu ermitteln." Auf die Richter des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten kommen in den nächsten Monaten einige schwierige Entscheidungen zu...

Telepolis-Interview mit Angela Marquardt.