Kommt ein Super-Panoptikum?

Über Mark Posters "The Second Media Age"

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Das Erste Medienzeitalter war von den Massenmedien geprägt, die es wenigen erlaubten, zu vielen zu sprechen. Das Zweite Medienzeitalter mit neuen Medien ermöglicht es hingegen vielen, zu vielen zu sprechen: Es wird die Grenzen zwischen Produzenten, Verteilern und Empfängern von Nachrichten in einer völlig neuen Anordnung vielfältiger Kommunikationsbeziehungen verschwinden lassen. Der kalifornische Historiker Mark Poster untersucht bereits seit langem die Grundlagen der Informations- und Multimediatechnologie, wobei er auf die Diskussion neomarxistischer Ansätze von Benjamin über die Frankfurter Schule bis hin zu Habermas ebenso zurückgreift wie auf postmoderne Theoretiker (u.a. Baudrillard, Lyotard, Derrida und Foucault). Die angeführten Ansätze werden auf das Internet, auf Virtual Reality oder Multimedia angewandt, um die sozialen Auswirkungen von Technologie zu erörtern.

Zentral sind die Ansätze von Baudrillard und Foucault für Poster. Jean Baudrillard wird als richtungweisender Verknüpfer marxistischer und semiologischer Theorie beschrieben, der die Analyseebene der Gesellschaft von der Produktions- in die Konsumsphäre verschob, die er als einen Bereich der Zeichen definierte. Baudrillards Analyse vereinigte die Medienfaszination Benjamins mit Adornos akademischem Ekel vor der Popkultur in einer letztlich zu pessimistischen Deutung, die eine Allmacht der Zeichen zu leicht akzeptiert. Poster will dagegen auch die positiven Seiten und Chancen der Medien würdigen.

Irgend etwas im Ersten Medienzeitalter, wie ich es nennen möchte, das vom Rundfunkmodell der wenigen Produzenten und vielen Konsumenten von Botschaften geprägt ist, verletzt die Bedeutung der Autorenschaft für den Intellektuellen, und zwar unabhängig von den Qualitäten des in Frage stehenden kulturellen Objektes. Das Erste Medienzeitalter erschüttert das autonome Subjekt der Moderne. In dieser Epoche verwurzelte Intellektuelle sind bis heute weitgehend unfähig die Botschaften aus Film, Radio und Fernsehen zu verstehen.

Mark Poster

Dabei nimmt er politische Fragen kritisch auf und vertritt einen fortschrittlichen postmodernen Standpunkt. So verwirft er sowohl die liberale Kritik, Datenbanken seien eine Gefahr für die bürgerliche Freiheit, als auch die marxistische Kritik, sie würden die Macht zugunsten des Kapitals verschieben. Mit Michel Foucault spricht er demgegenüber von einer neuen Ära der Befragung des Subjekts durch Institutionen (z.B. das FBI). Datenbanken würden zukünftig die Konstitution des Subjekts verändern, indem sie es multiplizieren und dezentrieren. Als performative machines produzieren sie kontrollierbare Identitäten, halten zahlreiche sozial bedeutsame Daten fest, lokalisieren Subjekte in Zeit und Raum. Sie bilden eine weitgehend von menschlichem Sprechen losgelöste Diskursformation, deren Struktur den Performanzaspekt der Sprache im Sinne von Foucaults Mikrophysik der Macht (die dieser auf Benthams Panoptikum zurückführt) mechanisiert. Poster kommt zu dem Schluss, Datenbanken und die in ihnen angehäuften Informationen über den Bürger seien der Grundstock eines neuen Super-Panoptikums, in welchem nicht nur Datenschutz und Verschlüsselung privater Information in Gefahr geraten, sondern die Normalisierung der Bevölkerungen eine neue Qualität und ungeahnte Intensität erreicht. Deswegen werde die Entwicklung völlig neuer Formen des Widerstandes erforderlich, um weiterhin emanzipatorische Ziele verfolgen zu können.

Ein Zweites Zeitalter der Massenmedien erscheint am Horizont. Der heute erreichten Wendepunkt erfordert eine Bilanz der bisherigen Diskussion über Technologie, Kultur und Politik. Die verschiedenen Positionen für eine Analyse des entstehenden technologisch-kulturellen Arrangements müssen über die oftmals analysierte die Adorno-Benjamin-Debatte der Massenkultur hinaus erörtert werden. Poster will sich auf die bislang vernachlässigte Frage der Kommunikationstechnologie konzentrieren, und greift dabei insbesondere das Problem der Konstruktion des Subjekts in Beziehung auf diese Technologien, das Thema des Körpers sowie die Frage der Postmoderne auf.

In einem zweiten Teil seines Buches wendet Poster sich der Diskussion einer bunten Zusammenstellung kultureller Phänomene zu (Spike Lee's Film "Do the Right Thing", Wagners "Ring", der TV-Serie "RoboCop" und der Golfkriegs-Medienmanipulation), wobei er zu teils überraschenden Ergebnissen kommt, wenn er etwa Richard Wagner als Vorläufer des Feminismus entdeckt oder den Irak "aus der Perspektive der Bombe" dargestellt sieht.

Der Zusammenhang dieses 40 Seiten umfassenden "Medien"-Teils mit den theoretischen Analysen wird zwar nicht eingehender erläutert, Posters These, die "Neuen Medien" würden die Gesellschaften so tiefgreifend ändern, dass von einem Second Media Age gesprochen werden kann, wurde jedoch schon im ersten Teil mehr als plausibel gemacht.

Mark Poster: The Second Media Age. Cambridge: Polity Press, 1995, 186 S.